Der Poker um den „Polexit“

Wieso wird nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin beständig der Geist des Polexit beschworen? Wieso wird das Land durch eine beispiellose Medienhetze förmlich aus der EU gedrängt?
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Flaggen der EU und Polens bei einer Demonstration in Warschau. Im Streit um die Justizreform in Polen haben Deutschland und Frankreich im Februar den Druck erhöht.Foto: Leszek Szymanski/PAP/dpa
Von 17. Oktober 2021

Obwohl das polnische Verfassungsgericht lediglich infrage gestellt hat, dass der EuGH auch in Bereichen, in denen die EU keinerlei vertragliche Kompetenz besitzt, die polnische Verfassung umgestalten dürfe – ein Zweifel, der in den letzten Jahren von zahlreichen anderen europäischen Verfassungsgerichten ausgedrückt worden ist, darunter Deutschland –, wird dieser Entschluss in den westlichen Medien zur „Absage an die europäischen Werte“, ja zur einseitigen Aufkündigung der Mitgliedschaft in der EU stilisiert.

Im „Spiegel“ äußerte Markus Becker etwa: „Die EU muss deshalb mit allem zurückschlagen, was sie hat – denn es geht um nicht weniger als um ihre Existenz. Das heißt: Polen muss ab sofort jeder Cent an EU-Geldern gestrichen werden, der sich streichen lässt“, während in den Tagesthemen Markus Preiß drohend erklärte: „Viel zu lange hat die EU-Kommission, aber auch Deutschland als mächtigstes Land, dem zugesehen“.

Polen bedroht also die „Existenz der EU“, und Deutschland muss als „mächtigstes Land“ des Kontinents endlich seinen legendären Langmut ablegen und dabei helfen, mit allen Mitteln „zurückzuschlagen“ und den östlichen Nachbarn finanziell zu erdrosseln – klingt das nicht nach einer Hysterie, die der Realität ziemlich unangemessen ist, ja geradezu nach einem Riss in der Schallplatte der neueren Geschichte?

An der Oberfläche geht es um den Vorwurf, Polen verstoße durch seine Rechtsreform gegen die europäischen Verträge und lege sich ein Europa „à la carte“ zurecht, bei dem es die allgemeinen „Spielregeln“ missachte und trotzdem weiter „westeuropäische Steuergelder kassiere“, sodass es für diesen Vertragsbruch zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Dies ist gleich auf mehreren Ebenen falsch.

Bis ins Unkenntliche verzerrte Regeln

Erstens sind jene Spielregeln in den letzten Jahren durch eine unerhörte Ausdehnung der alltagspolitischen Relevanz jener angeblichen „Europäischen Werte“ bis ins Unkenntliche verzerrt worden: Kommission, Parlament und EuGH definieren Begriffe wie „Freiheit“, „Gleichheit“, „Minderheitenschutz“ oder „Rechtsstaatlichkeit“ mittlerweile so weitläufig und ideologisch links, dass hieraus der Freifahrtschein für nahezu beliebige gesetzgeberische Eingriffe in nationales Recht abgeleitet wird – und zwar ohne Möglichkeit zur Berufung, entzieht sich jene durch und durch politisierte europäische Gerichtskammer doch unter dem Vorwand angeblicher „Gewaltenteilung“ jeglichem Einspruch anderer Instanzen.

Dadurch mag der Buchstabe der Verträge zwar in der Tat nicht verändert worden sein, der Geist aber wurde in sein eigentliches Gegenteil verkehrt: Legalität bedeutet nicht auch Legitimität, wie gerade die autoritären Regime des 20. Jahrhunderts auf tragische Weise demonstriert haben.

Christlich orientierte Innenpolitik ist verhasst

Zweitens ist die sogenannte Rechtsreform, wie bereits in der Literatur zu Genüge debattiert, nicht nur eine Reaktion der gegenwärtigen Regierung auf die illegitime und zeitlich vorgreifende Ernennung mehrerer Verfassungsrichter durch die scheidende Regierung Donald Tusks gewesen, sondern entstand auch aus der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem personellen Erbe der kommunistischen Zeit, dessen Klientelsystem im polnischen Justizwesen nie einer echten Lustration unterzogen worden war und sich ganz auf die Seite der linksliberalen Parteien geschlagen hatte.

Dass die Demokratisierung des polnischen Rechtssystems durch Einbindung des Parlaments nichts anderes bewirkt hat, als verfassungsrechtliche Zustände zu schaffen, die denen der meisten europäischen Länder entsprechen und die „Unabhängigkeit“ der Richterschaft keineswegs stärker bedrohen, als dies im gegenwärtigen Deutschland der Fall ist, wurde ebenfalls zu Genüge unterstrichen, wenn auch durch die westeuropäischen Medien nie rezipiert: Denn das wahre Problem war nie die Reform an sich, sondern deren Konsequenz, nämlich die Stärkung des konservativen Elements in der polnischen Justiz und somit die Rückendeckung der im Westen verhassten, dezidiert christlich orientierten Innenpolitik der polnischen Regierung.

Gehorsam gegen Finanzhilfen?

Drittens ist auch das Argument der angeblich durch die Finanzhilfen konstituierten Gehorsamsverpflichtung Polens moralisch wie sachlich unrichtig. Moralisch, denn kein Spanier oder Schotte würde je davon ausgehen, Andalusien oder die nordwestlichen Highlands besäßen geringere nationale Mitspracherechte als die anderen Regionen, nur weil sie aufgrund ihrer gegenwärtigen Strukturschwäche weniger Gelder erwirtschaften als sie empfangen.

Wieso sollte dies also für Polen innerhalb der EU anders sein? Sachlich, weil jene Gelder erwiesenermaßen (wie z. B. mutatis mutandis auch im Falle Ostdeutschlands) kaum als selbstlose Geschenke fließen, sondern das kompensatorische Gegenstück für die Öffnung Polens gegenüber dem europäischen Binnenmarkt darstellen, auf dem westeuropäische Produkte bis heute ihre osteuropäische Konkurrenz mit Dumpingpreisen im Keim ersticken, westeuropäisches Kapital vom ebenso billigen wie hoch qualifizierten polnischen Arbeitsmarkt profitiert und selbst große EU-finanzierte Infrastrukturprojekte mehrheitlich von westeuropäischen Betrieben übernommen werden und den Transport westlicher Waren ermöglichen. Das Resultat ist alles andere als christliche Mildtätigkeit, sondern bestenfalls eine kühl berechnete Win-win-Situation.

Der angebliche „Polexit“

Dies erklärt aber auch, wieso der von den westeuropäischen Medien beschworene Geist des angeblichen „Polexit“ eine entweder naive oder bösartige Verzerrung der realwirtschaftlichen und politischen Lage darstellt.

Angesichts der engen ökonomischen Verflechtung mit dem Westen und des kollektiven Enthusiasmus für die europäische Integration besteht in Polen auch und gerade auf Regierungsebene keinerlei Wunsch, die EU zu verlassen – und letztlich gilt Ähnliches auch für Westeuropa und gerade Deutschland, das durch einen Polexit einen zentralen Export-, Produktions- und Investitionsstandort verlieren würde und keinerlei Interesse daran haben kann, Zollstationen an der Oder vorzufinden.

Eine Zerschlagung der Symbiose zwischen Ost und West würde Polen letztlich nicht weniger hart treffen als Deutschland, da die „eingesparten“ Summen anderswo kaum gewinnbringender investiert werden könnten als beim nächsten Nachbarn, der schließlich Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner ist.

Wieso also wird nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin beständig der Geist des Polexit beschworen, ja das Land durch eine beispiellose Medienhetze förmlich aus der EU gedrängt?

Die Antwort ist simpel: Es geht um nichts weniger als ein Poker-Spiel mit dem Ziel eines „Regime-Change“.

Der politische, mediale und finanzielle Druck soll wie eine Daumenschraube wirken, um endlich die verhasste polnische Regierung zum Einlenken und somit zur Aufgabe seiner wertekonservativen Innenpolitik zu zwingen – oder aber die Bevölkerung durch graduelle Einschüchterung dazu zu bringen, die Regierung in der einen oder anderen Weise zu stürzen und Neuwahlen zu provozieren.

Dabei würde dann der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, der eben zu diesem Zweck vor einigen Monaten nach Warschau zurückgekehrt ist, erneut zum polnischen Premierminister gekürt werden und das Land auf den in Berlin und Paris ausgehandelten Kurs zurückführen.

Der einzige Haken an diesem Kalkül ist nur, dass jene Daumenschrauben früher oder später eben auch Westeuropa in die Bredouille bringen würden, zumal gerade Osteuropa sich bislang recht vorteilhaft aus der Covid-Krise gezogen hat und einzigartige Wachstumsraten aufzuweisen hat, für westliche Investoren also geradezu paradiesische Zustände bereithält.

Umso mehr setzt die EU daher auf den geballten Druck der Medien, um eine Drohkulisse zu errichten, deren eigentliches Ziel die polnische Bevölkerung ist, welche nach Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft um jeden Preis zum „Westen“ gehören möchte. Wird Warschau nun einknicken, bevor es sich bewusst wird, dass es keine schlechteren Karten in der Hand hält als seine Gegenspieler in Brüssel und Berlin?

Prof. Dr. David Engels hat Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft an der RWTH Aachen studiert. Er war dort bis 2008 Assistent am Lehrstuhl für alte Geschichte und folgte 2008 dem Ruf an die Universität Brüssel, an der er zehn Jahre den Lehrstuhl für römische Geschichte innehatte. Seit 2018 lebt er in Polen und arbeitet am Instytut Zachodni in Posen, wo er verantwortlich ist für Fragen abendländischer Geistesgeschichte, europäischer Identität und polnisch-west-europäischer Beziehungen.



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