Das Zünglein an der Waage: Kurden unterstützen Erdogan-Herausforderer
„Es ist Zeit für einen Wechsel“, sagt Ali. Der 50-jährige Kurde will deshalb bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei für den Kontrahenten von Staatschef Recep Tayyip Erdogan stimmen. Der sozialdemokratische Kandidat des Oppositionsbündnisses, Kemal Kilicdaroglu, hat gute Chancen, Erdogans Herrschaft am Sonntag nach 20 Jahren zu beenden. Doch Ali hat Vorbehalte: „Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich Kilicdaroglu voll und ganz vertraue.“
„Für jeden, der in der Türkei fernsieht, sind die Kurden Terroristen“, kritisiert Ali. Aus Angst vor Repressalien möchte er seinen vollen Namen nicht nennen. Ali lebt in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der Kurden im Südosten der Türkei. Etwa ein Fünftel der 85 Millionen Einwohner der Türkei sind Kurden; in den hundert Jahren seit der Staatsgründung wurden sie immer wieder unterdrückt. Auch lange von der sozialdemokratischen CHP, der Partei des Präsidentschaftskandidaten Kilicdaroglu.
In der Hoffnung auf Veränderung unterstützten viele Kurden anfangs Erdogans islamisch geprägte AKP, als diese 2002 die jahrzehntelange säkulare Herrschaft beendete. Erdogan versuchte, ein Abkommen zu vermitteln, um den blutigen Kampf der Kurden für einen unabhängigen Staat zu beenden. Er wollte als derjenige in die Geschichte eingehen, der eines der schmerzlichsten Probleme der Türkei endgültig gelöst hat. Doch die Gespräche scheiterten 2015 und nach dem Putschversuch im darauffolgenden Jahr ging Erdogan wieder militärisch gegen Aufständische in den Kurdengebieten vor.
Partei HDP unterstützt Kilicdaroglu
Lange wahrte die pro-kurdische HDP-Partei im Wahlkampf Distanz zum gemeinsamen Kandidaten der Opposition, doch dann stellte sie sich doch hinter CHP-Chef Kilicdaroglu – eine Unterstützung, die im erwarteten knappen Rennen ausschlaggebend sein könnte.
Mehmet Emin Yilmaz will genau deshalb dem Sozialdemokraten Kilicdaroglu seine Stimme geben, weil die HDP zu seiner Wahl aufruft. „Ich bin Kurde. Die HDP verteidigt meine Rechte. Wenn die Polizei mich heute zu Unrecht festnimmt, wird sich die HDP um mich kümmern“, sagt der 60-Jährige zur Begründung.
Obwohl die Präsidentschafts- und Parlamentswahl eine der wichtigsten seit Jahrzehnten ist, wirkt die Stimmung in Diyarbakir unaufgeregt. „Die Menschen sind eingeschüchtert, überall sind Kameras. Wenn sich mehr als zwei Leute versammeln, kommt die Polizei in Zivil“, sagt Erdem Unal, Vorsitzender der CHP im historischen Stadtteil Sur. „Diyarbakir hat sich in ein Freiluftgefängnis verwandelt.“
Vorbehalte gegenüber dem Oppositionsbündnis
Von der CHP ist in Diyarbakir kaum etwas zu sehen. Doch ihr Chef Kilicdaroglu genießt offenbar dennoch die Sympathie vieler Einwohner – nicht zuletzt wegen seines alevitischen Glaubens, den er mit vielen Kurden teilt. Sie nennen ihn „Piro“, abgeleitet vom kurdischen Wort für Großvater, das auch für alevitische Geistliche verwendet wird. Viele Kurden haben jedoch Vorbehalte gegenüber Kilicdaroglus oppositionellem Sechs-Parteien-Bündnis, weil es Erdogans Angriffe auf Kurdengebiete in Syrien unterstützte.
Die HDP sprach sich erst für den Oppositionskandidaten aus, nachdem mehr als hundert kurdische Aktivisten, Journalisten und Anwälte Ende April im Rahmen eines von der Regierung als „Anti-Terror-Operation“ bezeichneten Einsatzes verhaftet worden waren. Die Razzien seien „eine Botschaft an den (überwiegend sunnitischen) Westen der Türkei“ gewesen, sagt Nahit Eren, der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir.
Nur noch etwa 15 Prozent der Wähler in Diyarbakir unterstützten Erdogan, sagt Eyüp Burc, Gründer des pro-kurdischen Fernsehsenders IMC, der inzwischen geschlossen wurde. „Und die Unterstützung sinkt weiter.“ Abbas Sahin von der Partei der Grünen Linken, die wegen des drohenden Verbots der HDP pro-kurdische Kandidaten bei der Parlamentswahl vertritt, prophezeit: Erdogan werde „auf dem Müllhaufen der Geschichte“ landen. (afp/dl)
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