Corona mit einem Schuss Brexit: Das bedeutet die Corona-Krise für Großbritannien
Als der britische Parlamentsabgeordnete Jonathan Edwards im vergangenen Oktober die Regierung fragte, wie lange die Klopapier-Vorräte im Land reichen, sprachen die Briten noch vom Brexit und nicht vom Coronavirus. Doch die Entwicklungen der vergangenen Tage lassen bei den Briten altbekannte Ängste vor den Folgen des EU-Austritts wiederaufleben – und das realer als je zuvor.
Die Briten sind zu einer Nation der Hamsterkäufer geworden: Waren leergeräumte Regale für Nudeln, Klopapier und Medikamente vergangenes Jahr noch Schreckensszenarien für den Fall eines Brexits ohne Abkommen mit der EU, sind sie angesichts der drohenden Quarantänemaßnahmen gegen das sich ausbreitende Coronavirus mittlerweile Normalität.
Britischer Leitindex stürzt ab
Und was die Verbraucher hart trifft, trifft die Wirtschaft als Ganzes umso härter: Der britische Leitindex FTSE hat seit Januar rund ein Drittel an Wert verloren. Das konnten auch die britische Zentralbank mit der Senkung der Leitzinsen und die Regierung mit ihrem 30-Milliarden-Pfund-Konjunkturpaket (34 Milliarden Euro) nicht verhindern.
Das bisherige Krisenmanagement der Regierung ist für die Opposition ein gefundenes Fressen. So bezeichnet die Labour-Partei Regierungschef Boris Johnson als „part-time PM“ (Teilzeit-Premierminister), weil sich dieser besonders in der Anfangsphase kaum zum Coronavirus äußerte und erst relativ spät den nationalen Krisenstab „Cobra“ einberief.
Johnsons Entscheidung, trotz laut eigener Schätzung tausender Infizierter im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern bislang keine Großveranstaltungen zu verbieten und die Schulen nicht zu schließen, wird von vielen Kommentatoren ebenfalls als viel zu zögerlich aufgefasst. Erst am Wochenende verlautete nach langem Zögern dann endlich aus Regierungskreisen, ein Veranstaltungsverbot sei in Vorbereitung. Laut Medienberichten soll es am kommenden Wochenende in Kraft treten.
Brexit und Coronavirus
Die Krise kommt für den Premierminister zur Unzeit. Im Dezember hatte er die Wahl mit dem Slogan „Get Brexit Done“ (Brexit vollziehen) gewonnen. Das Coronavirus droht ihm bei dieser Mission nun in die Quere zu kommen. Es bringt den ohnehin engen Zeitplan für die Aushandlung eines Freihandelsabkommens mit der EU durcheinander: Die zweite Verhandlungsrunde kommende Woche in London wurde wegen der Ansteckungsgefahr abgesagt. Nun wollen London und Brüssel andere Kommunikationswege wie etwa Videoschalten prüfen.
Oppositionspolitiker fordern bereits, dass Johnson wegen der Krise die Verhandlungen um mindestens ein Jahr verlängern soll – doch dieser ließ sie wiederholt abblitzen. Auch die Drohung mit einem No-Deal lässt er bewusst offen.
Gesundheitsminister ohne EU-Beteiligung
Das Virus zeigt mögliche Gesundheitsgefahren des Brexits für Großbritannien auf. So ist der britische Gesundheitsminister nicht mehr zu Treffen seiner EU-Kollegen eingeladen. Großbritannien muss sich beim Informationsaustausch und der Koordination von Abschottungsmaßnahmen in der Krise voll auf seine bilateralen Kanäle zum Kontinent verlassen. Die weitere Teilnahme am europäischen Frühwarnsystem für Pandemien ist zudem Teil der Verhandlungsmasse und steht auf Londons Prioritätenliste wohl nicht weit oben.
Und sollte es wie derzeit geschätzt in gut einem Jahr einen Impfstoff gegen das Coronavirus geben, so könnte Großbritannien ihn später und zu einem höheren Preis als die EU bekommen. Denn Großbritannien ist dann aller Voraussicht nach nicht mehr Teil des europäischen Binnenmarkts und fällt nicht mehr unter die Aufsicht der Europäischen Arzneimittel-Behörde.
Impfstoff-Hersteller würden sich bei der Zulassung aber wahrscheinlich erst einmal auf die größeren Märkte konzentrieren – wobei die EU mit rund 445 Millionen Bürgern Großbritannien mit seinen 66 Millionen Bürgern bei weitem aussticht.
Die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung und die drohende Rezession lassen den Druck auf Johnson steigen.
Veranstaltungsverbot trifft Wimbledon
Eine Entscheidung über ein Veranstaltungsverbot würde die Absage berühmter Großveranstaltungen wie dem Tennisturnier in Wimbledon oder dem Royal-Ascot-Pferderennen bedeuten.
Bisher hatte die Regierung in London darauf gehofft, den Höhepunkt der Pandemie in Großbritannien bis zum Sommer herauszögern zu können, damit die Auswirkungen auf das Gesundheitswesen gering blieben. Menschen mit Symptomen wird bisher lediglich empfohlen, eine Woche zu Hause zu bleiben.
Die Regierung begründete ihr bisheriges Vorgehen damit, dass ein zu frühes Ergreifen drastischer Maßnahmen einen begrenzten Nutzen hätte und die Gefahr bestehe, dass die Menschen bei Erreichen des tatsächlichen Höhepunkts der Coronakrise nicht mehr gewillt wären, die Eindämmungs- und Vorsichtsmaßnahmen zu befolgen.
Zahlreiche Veranstaltungen wie sämtliche Fußballspiele der Premier League, der Londoner Marathon sowie die Kommunalwahlen im Mai wurden trotzdem bereits ausgesetzt oder verschoben. Nach Angaben des Buckingham Palace verschob auch Königin Elizabeth II. „als Vorsichtsmaßnahme“ eine Reihe von Terminen, die für die kommende Woche geplant waren. Prinz Charles sagte eine geplante Reise nach Bosnien, Zypern und Jordanien ab.
In Großbritannien wurden bislang nach offiziellen Angaben knapp 800 Infektionsfälle mit dem neuartigen Coronavirus bestätigt, zehn Menschen starben dort bislang an der durch das Virus ausgelösten Lungenkrankheit Covid-19. Ein hoher Vertreter der Gesundheitsbehörden schätzte die tatsächliche Zahl der Infizierten dagegen auf 5.000 bis 10.000. (afp)
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