CHP feiert großes Comeback mit neuem Vorsitzenden und verdrängt Erdoğans AKP vom Spitzenplatz

In der Türkei haben die Kommunalwahlen dem neuen Vorsitzenden der oppositionellen CHP, Özgür Özel, Rückenwind verliehen. Nach einer jahrzehntelangen Niederlagenserie konnte die Partei die Bürgermeisterposten der größten Städte verteidigen – und noch weitere dazu erobern.
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„Diejenigen, die ignoriert wurden, haben eine klare Botschaft an diejenigen gesendet, die dieses Land regieren.“Foto: ADEM ALTAN/AFP über Getty Images
Von 1. April 2024

Um 19:19 Uhr Ortszeit hat die türkische oberste Wahlkommission (YSK) das Publikationsverbot bezüglich der Ergebnisse der landesweiten Kommunalwahlen vom Sonntag, 31. März, aufgehoben. Schon bald zeichneten sich eindeutige erste Trends ab. Für die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP), die seit der Jahrtausendwende Wahlniederlagen in Serie hinnehmen musste, deutet sich ein überraschend deutlicher Zugewinn an.

Demgegenüber musste die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan 2001 gegründete AKP bei den ersten Wahlen nach dessen Rücktrittsankündigung spürbare Einbußen hinnehmen. Am 8. März hatte das Staatsoberhaupt in einer Versammlung der Vereinigung junger Türken (TÜGVA) erklärt, die bevorstehenden Kommunalwahlen „sind meine letzten“.

Metropolen-Bürgermeister der CHP bauen Führung aus

Der Erdoğan-Bonus, der in der Vergangenheit der AKP schon bei vielen entscheidenden Wahlen geholfen hatte, war damit aber offenbar verpufft. Die seit 2002 regierende Partei, die seit 2004 auch aus allen Kommunalwahlen als stärkste Kraft hervorgegangen war, büßt nach derzeitigem Stand erstmals diese Position ein.

Den offiziellen Ergebnissen der Wahlkommission zufolge konnte die CHP mit 37,7 Prozent (plus 7,6) der landesweiten Gesamtstimmen an der AKP vorbeiziehen. Diese kommt nur noch auf 35,5 Prozent und hat damit einen Verlust von 8,8 Prozentpunkten.

Der CHP gelingt es, die Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir nicht nur zu halten, sondern die Führung dort sogar noch auszubauen. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu kann sich mit 51,1 Prozent souverän die Wiederwahl sichern. In Ankara baut Mansur Yavaş seine Position sogar auf 60,35 Prozent aus. Von 30 Metropolregionen hatte die AKP seit 2019 noch 15 regiert, jetzt sind es nur noch 12. Die CHP kommt mittlerweile auf 14.

Die AKP büßte auch die Hälfte ihrer Provinzbürgermeister ein und kommt nur noch auf 12. Die CHP verfügt dort nun über 21 (plus 11). In den Bezirken büßte die AKP 180 Bürgermeisterposten ein und kommt nur noch auf 355. Die CHP kommt künftig auf 331 (plus 144).

Özel: „Unser Erfolg ist für niemanden eine Niederlage“

Ebenfalls in den Händen der CHP bleiben Metropolen wie Adana oder Antalya. Außerdem gingen die bis dato von der AKP regierten Städte Bursa, Denizli und Balıkesir an die Republikanische Volkspartei. Die CHP baute ihre führende Position an der West- und Südküste des Landes weiter ins Landesinnere aus.

Für den Pharmazeuten, seit November 2023 an der Spitze der Partei stehenden und Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale Özgür Özel war die Kommunalwahl eine gelungene Feuerprobe. Er hatte die Parteiführung nach 13 Jahren von Kemal Kılıçdaroğlu übernommen.

In einem ersten Statement erklärte Özel:

„Ich möchte, dass man weiß, dass es bei diesem Sieg keinen Verlierer gibt. Unser Erfolg wird für niemanden eine Niederlage sein und ist es auch nicht. Egal, für welche Partei sie heute gestimmt haben, wir wollen nicht, dass sich jemand als Verlierer fühlt.“

Erbakans späte Revanche an der AKP

Aber auch zuvor knapp von der AKP gehaltene Städte wie Giresun an der Schwarzmeerküste oder wie Uşak und Afyonkarahisar fielen an die Opposition. Es ist jedoch nicht die einzige Verschiebung zuungunsten der lange Jahre dominanten konservativen Regierungspartei. In der Hochburg Şanlıurfa und in Yozgat musste sich die AKP der Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei; YRP) geschlagen geben.

Dass die aus der Millî-Görüş-Bewegung hervorgegangene Partei unter der Führung von Fatih Erbakan der Erdoğan-Partei den Rang abläuft, stellt für den Sohn des früheren Premiers Necmettin Erbakan eine späte Revanche dar. Nach dem Militärputsch von 1997 hatte der Verfassungsgerichtshof dessen Wohlfahrtspartei (Refah) verboten.

Erbakan gründete daraufhin die sogenannte Tugendpartei (FP) und hoffte, auf diese Weise wieder Anschluss an alte Erfolge zu finden. Erdoğan und einige weitere Reformer, denen der fundamentale Kurs Erbakans nicht als erfolgversprechend erschien, spalteten sich ab und gründeten die AKP. Die Erbakan-Formation verschwand in der Versenkung.

Schlappe für Parteien der nationalistischen „Idealistenbewegung“

Bei den Präsidentschaftswahlen hatte Fatih Erbakan Erdoğan unterstützt. Bei den Kommunalwahlen wollte er hingegen mit seiner neuen Formation selbst Flagge zeigen und konnte auf Anhieb landesweit 6,1 Prozent für sich verbuchen. Damit wurde die streng religiöse Partei drittstärkste Kraft nach Stimmen. Sie verfügt nun über einen von 30 Bürgermeistern in Metropolregionen, einen Provinz- und 38 Bezirksbürgermeister. Die aus der FP seines 2011 verstorbenen Vaters hervorgegangene Saadet Partisi erlebte mit 0,8 Prozent hingegen ein Fiasko.

In Bayburt, wo Erdoğan bei Präsidentschaftswahlen regelmäßig um die 80 Prozent der Stimmen einfahren konnte, konnte die AKP ihren Provinzbürgermeisterposten nur hauchdünn gegen die MHP verteidigen.

Die Nationalisten verloren gegenüber 2019 allerdings auch und kommen nur noch auf 4,9 Prozent landesweit (zuvor 7,3). Auch die übrigen Parteien aus der sogenannten Idealistenbewegung bauten ab. Die mit Erdoğan verbündete Partei der Großen Einheit (BBP) kommt weiterhin auf 0,4 Prozent, hält aber ihre Hochburg Sivas und gewinnt 14 Bezirke (plus 9). Die IYI-Partei, die zur Opposition zählt, kommt auf 3,8 Prozent (minus 3,7). Sie gewinnt allerdings die Provinz Nevşehir. Offenbar hat das Thema syrischer Flüchtlinge auf kommunaler Ebene eine deutlich geringere Rolle gespielt als auf nationaler.

Die hauptsächlich von Kurden gewählte Demokratische Partei (DEM), die an die Stelle der von einem Verbot bedrohten PKK-nahen HDP getreten ist, kommt auf 5,7 Prozent. Sie kann ihre Hochburgen im Südosten halten – und unter anderem Tunceli dazugewinnen. Dort hatte 2019 die kommunistische TKP ihren einzigen Provinzbürgermeister gestellt. Die DEM stellt künftig drei Bürgermeister in Metropolregionen, sieben in Provinzen und 65 in Bezirken. Die meisten davon hatte schon die Vorgängerpartei HDP gehalten.

AKP-Politiker Metiner: „Wir sind arrogant geworden“

Der frühere AKP-Abgeordnete Mehmet Metiner übte in Anbetracht des Ergebnisses deutliche Kritik an seiner Partei. Auf X schrieb er, das Ergebnis „schmerzt“, und äußerte:

„Hütet euch vor den Narren der Arroganz, sagte ich. Ich sagte, hütet euch vor denen, die sowohl dumm als auch faul sind. Ich sagte, hüte dich vor den Monumenten der Hochmut, die die Autorität missbrauchen, die ihm der Häuptling im Felde gegeben hat.“

Als wesentliche Gründe für das Wahlergebnis gelten die Wirtschaftslage und die Rentenproblematik. Zudem scheint man insbesondere in den Gemeinden zu einem gewissen Korpsgeist auf Distanz gehen zu wollen, der vielfach in den Reihen der AKP eingekehrt war. Viele Bürger wollten frischen Wind von unten.

Religiöse Wähler verlieren Scheu vor CHP

Zudem scheint eine neue Generation Kämpfe der Vergangenheit ad acta legen zu wollen. Die CHP scheint für viele nach langer Zeit auf der Oppositionsbank ihren Schrecken verloren zu haben. Dass sie sogar in manchen AKP-Hochburgen Zentralanatoliens dazugewinnen konnte, deutet darauf hin, dass sie nicht mehr überall mit früheren Exzessen kemalistischer Eliten verbunden wird.

Lange Zeit galt die CHP vor allem für religiöse Wähler als unwählbar – bedingt durch die Repressionspolitik gegenüber gläubigen Muslimen und insbesondere kopftuchtragenden Frauen bis hinein in die 1990er-Jahre. Kılıçdaroğlu hatte hier Fehler eingeräumt und Veränderungen versprochen. Özel scheint diesen Weg weiterführen zu wollen.

Aber auch aus dem eigenen Lager droht der AKP Konkurrenz – die Überraschungserfolge von Sinan Oğan bei der Präsidentenwahl und von Fatih Erbakan bei den Kommunalwahlen sind auch hier ein Warnschuss. Die Regierungspartei hat nun bis 2028 Zeit, sich inhaltlich und strategisch für die Ära nach Erdoğan aufzustellen.

Was wurde am Sonntag gewählt?

Zur Wahl aufgerufen waren 61,44 Millionen Wahlberechtigte. Davon waren 1,03 Millionen Erstwähler. Insgesamt gab es landesweit 206.000 Wahllokale. Zur Wahl standen Kandidaten von 34 politischen Parteien.

Gewählt wurden die Bürgermeister von 81 Provinzen, 973 Bezirken und 390 Städten sowie über 50.000 sogenannte Mukhtars, was in etwa einem Ortsbürgermeister entspricht. Darüber hinaus konnten die Wähler die Mitglieder der Provinz- und Gemeinderäte bestimmen.



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