2 Millionen Menschen auf der Straße – CDU-Politikerin: „Erdogan hat dieses Mal den Bogen überspannt“

Die türkischen Massenproteste gehen weiter. Auch bei seinen eigenen Wählern regt sich Unmut gegen Erdoğan. Bei der Massenkundgebung am Samstag wird von bis zu 2,2 Millionen Teilnehmern gesprochen.
Titelbild
Özgur Özel, Vorsitzender der größten türkischen Oppositionspartei Republikanische Volkspartei (CHP), während einer Kundgebung für Ekrem Imanoglu, in Maltepe am Rande von Istanbul am 29. März 2025.Foto: Kemal Aslan/AFP via Getty Images
Epoch Times30. März 2025

In der Türkei sehen nach Einschätzung der CDU-Politikerin Serap Güler selbst Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Verhaftung von dessen Rivalen Ekrem Imamoğlu kritisch.

„Erdoğan hat dieses Mal den Bogen überspannt. Auch in seiner eigenen Wählerschaft wird durchaus kritisiert, wie man hier den stärksten Oppositionspolitiker aus dem Weg schaffen will“, sagte Serap Güler in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP.

2,2 Millionen Menschen auf der Straße

Früher hätten Erdoğan Unterstützer den türkischen Langzeitpräsidenten grundsätzlich verteidigt und seine umstrittenen Handlungen relativiert. Nach der Verhaftung des nun abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters stelle sich in der Bevölkerung allerdings kaum jemand entschlossen hinter ihn.

„Dazu war İmamoğlu auch bei der konservativen Wählerschaft Erdoğans einfach zu beliebt“, sagte die Bundestagsabgeordnete mit türkischen Wurzeln.

İmamoğlu ist zu einem Symbol für die türkische Oppositionsbewegung geworden. Die Führung der Republikanischen Volkspartei (CHP) erklärte, in der ganzen Türkei Demonstrationen zu wöchentlichen Veranstaltungen zu machen.

Am Samstag kamen auf der asiatischen Seite Istanbuls Hunderttausende zu einer Großkundgebung zusammen. Viele trugen türkische Flaggen und Porträts von Republik- und CHP-Gründer Mustafa Kemal Atatürk.

„Taksim ist überall, Widerstand ist überall“, riefen die Regierungsgegner in Anspielung auf die regierungskritischen Massenproteste auf dem gleichnamigen Platz in Istanbul im Jahr 2013. Auch İmamoğlus Ehefrau Dilek, die Kinder des Paares und die Eltern des Politikers waren unter den Demonstranten in Istanbul. Auf der Plattform X sprechen Nutzer von mehr als 2 Millionen Menschen.

Der inhaftierte Istanbuler Bürgermeister hat sich am Sonntag aus dem Gefängnis heraus an seine Landsleute gewendet und zur Einheit aufgerufen.

„Diejenigen, die glauben, dass wir das Fest nicht feiern können, liegen völlig falsch“, hieß es in einer von seinen Anwälten im Onlinedienst X verbreiteten Mitteilung zum Zuckerfest am Ende des Ramadan. „Denn wir werden definitiv einen Weg finden, zusammen zu sein!“

İmamoğlu richtete sich in einer Botschaft, die von CHP-Chef Özel vorgelesen wurde, an die jungen Demonstranten. „Die Jugendlichen stehen in der vordersten Reihe, weil sie am meisten Angst um ihre Zukunft haben“, hieß es darin. „Es geht hier nicht um Ekrem İmamoğlu, sondern um unser Land, um Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit (…) Recht und Gesetz.“

Güler: Viele sagen, „Das geht jetzt zu weit“

Die derzeitigen Demonstrationen würden vermutlich nicht allein von der Opposition getragen. In Berichten über die Proteste in türkischen Medien „kommen immer wieder Menschen zu Wort die sagen: ‚Ich habe die AKP gewählt. Ich habe Erdoğan gewählt. Aber das geht jetzt zu weit'“, sagte Güler.

Die Massenproteste sind nach ihren Worten beispiellos: „Proteste in Istanbul – das verwundert keinen. Aber Proteste in konservativen AKP-Hochburgen wie den Schwarzmeerstädten Trabzon und Rize – das ist etwas, womit wohl niemand gerechnet hat.“

„Fast 2000 Menschen wurden bisher festgenommen, dennoch reißen die Proteste nicht ab. Und viele Menschen gehen davon aus, dass die Demonstrationen nach dem Ende des Ramadan am Sonntag noch weiter zunehmen werden“, sagte Güler.

Erdoğans aktuelle Strategie

In der Vergangenheit organisierte Erdoğan, etwa vor Wahlen, selbst große Kundgebungen für sich und seine Partei. Mit Bussen wurden Anhänger dafür in die großen Städte gefahren. So etwas ist derzeit nicht zu beobachten.

„Erdoğan fährt aktuell die Strategie, dass die Proteste unter seiner Würde sind, und dass sich die Justiz damit beschäftigen muss. Er hat die Lage bisher ja auch kaum kommentiert“, sagte Güler. Würde Erdoğan nun die Menschen zu Gegendemonstrationen mobilisieren, „würde er ja eingestehen, dass es sich doch um eine parteipolitische Angelegenheit handelt“.

İmamoğlu wird von der Justiz vorgeworfen, bei Ausschreibungen der Istanbuler Stadtverwaltung korrupte Praktiken angewendet zu haben. Die Opposition spricht von einem „Putsch“ und nennt die Verhaftung allein politisch motiviert.

Was sagen Türken in Deutschland?

Auch die Deutschland lebenden Türken spaltet die Verhaftung İmamoğlus nach Gülers Einschätzung. In der deutsch-türkischen Gemeinschaft „werden die Vorfälle in der Türkei intensiv diskutiert. Vielen geht das sehr, sehr nah. Ich kenne niemanden, der sagt, das interessiert mich nicht.“

Unter den Deutschtürken, von denen bekanntermaßen viele Erdoğan-Unterstützer sind, gebe es Menschen, „die seine Taten relativieren und mit Blick auf İmamoğlu sagen: ‚Von nichts kommt nichts'“.

Gleichzeitig gebe es auch viele, die – so wie am vergangenen Wochenende in Berlin – auf die Straße gingen, um ihren Unmut zu zeigen und Solidarität mit den Menschen in der Türkei zu bekunden.

Proteste in der Türkei. Foto: Bergan Zengin/Middle East Images/AFP via Getty Images

Im internationalen Umgang mit der Türkei warnte Güler vor öffentlichen Maßregelungen: „Kritik aus dem Ausland setzt Erdoğan gegenüber seiner eigenen Anhängerschaft unter Druck, nicht nachzugeben.“ Dies sei nicht im Sinne der Menschen, die für die Demokratie auf die Straße gehen. „Deshalb sind Gespräche hinter verschlossenen Türen nötig.“

Für die Zukunft wagt Güler keine Prognose. Dass die nächste Präsidentschaftswahl wie eigentlich vorgesehen erst 2028 stattfindet, davon „geht in der Türkei fast niemand mehr aus“, sagt sie. Es werde mit großer Wahrscheinlichkeit vorgezogene Neuwahlen geben. Alles andere sei komplett offen.

Erdoğan will erneut kandidieren – entgegen der Verfassung

In der Türkei wird der Präsident für fünf Jahre gewählt, erlaubt sind zwei Amtszeiten. Erdoğan, der seit 2014 Präsident ist, dürfte also eigentlich gar nicht mehr im Amt sein.

Der Langzeitpräsident führte kurz vor Beginn seiner zweiten Amtszeit 2018 durch eine Verfassungsänderung ein neues Präsidialsystem in der Türkei ein und argumentiert, damit habe eine neue Zeitrechnung begonnen.

Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2023 konnte sich Erdoğan seine zweite Amtszeit in einer Stichwahl knapp sichern. Bei der Wahl 2028 wird seine Regierungszeit aber endgültig abgelaufen sein.

Der 71-Jährige macht allerdings keinerlei Anstalten, dann auch abzutreten. Es wird spekuliert, dass er auf eine weitere Amtszeit hinarbeitet.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Inhaftierung des populären Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu als ein weiterer deutlicher Hinweis darauf, dass  Erdoğan 2028 erneut antreten will – unter Ausschluss seines derzeit aussichtsreichsten Rivalen.

Solidaritätskundgebung auf dem Place de la Republique in Paris am 29. März 2025. Foto: Nael Chahine/Middle East Images/AFP via Getty Images

Es gibt zwei legale Möglichkeiten

Um für eine „dritte“ Amtszeit kandidieren zu können, gibt es für Erdoğan zwei legale Möglichkeiten: vorgezogene Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung. Artikel 116 der türkischen Verfassung besagt, dass ein Präsident nach der zweiten Amtszeit ein drittes Mal kandidieren darf, wenn das Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit (360 von 600 Stimmen) vorzeitig Neuwahlen ausruft.

Führt der Präsident selbst die Neuwahlen herbei, gilt diese Regelung aber nicht. Für eine Verfassungsänderung hingegen ist eine Zweidrittelmehrheit (400 von 600 Stimmen) im Parlament in Ankara erforderlich.

Für beide Optionen hätte Erdoğans Regierungsbündnis aktuell nicht genug Stimmen. Die nationalkonservative AKP hat 272 Sitze im Parlament, der rechtsnationalistische Koalitionspartner MHP 47, zusammen also 319 Stimmen.

Erdoğan benötigt für sein Vorhaben weitere Verbündete. Die linksnationalistische Oppositionspartei CHP, der auch İmamoğlu angehört, ist mit 134 Sitzen die zweitstärkste Kraft im Parlament, die pro-kurdische DEM mit 57 Sitzen die drittstärkste.

Durch eine Verfassungsänderung könnte Erdoğan über die aktuelle Amtszeit hinaus oder sogar auf Lebzeiten Präsident bleiben. Die dafür nötige Zweidrittelmehrheit ist jedoch so gut wie ausgeschlossen.

„Selbst wenn die DEM und einige Splitterparteien die Regierungskoalition unterstützen, würden die 400 Stimmen nicht erreicht werden“, sagt Macit Karaahmetoglu, Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft. (afp/red)



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