Bürgerkrieg in der Türkei? Mit Panzern gegen die PKK

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Kampfspuren an Wohnhäusern in der südosttürkischen Stadt Diyarbakir. Foto: Sedat Suna/Archiv/dpa
Epoch Times20. Dezember 2015

Diyarbakir (dpa) – Tränengas wabert über den Polizei-Checkpoint, Helikopter kreisen am Himmel von Diyarbakir, Schüsse sind aus dem abgeriegelten Stadtviertel Sur zu hören.

Im Zentrum der südosttürkischen Millionenmetropole gehen Sicherheitskräfte mit voller Härte gegen Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK vor.

Seit dem 2. Dezember gilt – mit einer kurzen Unterbrechung – rund um die Uhr eine Ausgangssperre in weiten Teilen der Altstadt. Übertragen auf Deutschland wäre das so, als würden Bundeswehr und Polizei seit Monatsbeginn im abgeriegelten Zentrum Kölns kämpfen.

Noch im Frühjahr verhandelte die Regierung mit der PKK über Frieden. Inzwischen herrschen in Teilen der Südosttürkei bürgerkriegsähnliche Zustände, Hunderte Menschen wurden seit Juli getötet. Kämpfer der PKK-Jugendorganisation YDG-H heben Gräben aus, bauen Barrikaden und liefern sich Gefechte mit Sicherheitskräften.

Außer in Sur – der Altstadt Diyarbakirs, die im Sommer zum Weltkulturerbe erklärt wurde – galten in der abgelaufenen Woche in vier weiteren Gebieten Ausgangssperren. Dort wurden nach Armeeangaben Dutzende PKK-Kämpfer getötet. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat angekündigt, die PKK „Viertel um Viertel, Haus um Haus und Straße um Straße“ zu bekämpfen.

„In diesen Häusern sind keine Terroristen, sondern Zivilisten“, sagt Abdusselam Inceören von der Menschenrechtsvereinigung IHD in Diyarbakir. Er hält die tagelangen Ausgangssperren für illegal – und wirft den Sicherheitskräften Menschenrechtsverletzungen vor. „Sie setzen Raketen und Panzer ein. Sie nehmen keine Rücksicht auf Frauen, Kinder und Alte.“ Der IHD-Vertreter für die Südosttürkei ist überzeugt: „Die Angriffe gelten dem kurdischen Volk.“

Die EU schweigt

Inceören wundert vor allem: „Es gibt keine Reaktion der EU. Europa verurteilt die Gewalt nicht einmal.“ Tatsächlich ist Kritik aus der EU am Beitrittskandidaten und Nato-Partner Türkei leise geworden, seit Ankara als Partner in der Flüchtlingskrise hofiert wird.

Am Eingang zum Sperrgebiet in Sur vertreiben schreiende Polizisten jeden, der sich nähern will. Auf der Zufahrtsstraße stehen gepanzerte Fahrzeuge von Polizei und Armee, daneben Sicherheitskräfte in zivil, sie tragen Schnellfeuergewehre und wollen nicht fotografiert werden. Die Nervosität ist spürbar. An einem Checkpoint noch deutlich vor dem Sperrgebiet werden der deutsche Reporter und sein einheimischer Begleiter 45 Minuten lang von der Polizei festgehalten.

Vor dem Sperrgebiet türmt sich Abfall in den Straßen, die Müllabfuhr kommt seit Tagen nicht mehr. An der Bezirksverwaltung, die von der prokurdischen Partei HDP dominiert wird, hängt eine schwarze Flagge. Fast alle Geschäfte sind geschlossen, die Händler stehen in Gruppen herum.

Kaum ein kurdischer Gesprächspartner will mit seinem Namen zitiert werden, zu groß ist die Angst vor dem Staat. „Mir ist das Geschäft egal. Da drinnen stirbt die Menschlichkeit“, sagt ein Händler und zeigt auf das Sperrgebiet. „In der Westtürkei genießen sie das Leben, während die Menschen im Osten sterben.“

Der Vorwurf: staatlich organisierte Massaker

Der 21-jährige Serdil Cengiz wurde am vergangenen Montag in Diyarbakir bei gewaltsamen Protesten gegen die Ausgangssperre in Sur von Sicherheitskräften erschossen. Bei der Trauerfeier sagt ein naher Verwandter, dem Studenten sei gezielt in den Kopf geschossen worden. Entgegen der Angaben der Polizei sei Cengiz nicht bewaffnet gewesen. „Der Staat hat ihn getötet.“ Die Regierung verübe ein „Massaker“ an den Kurden, die sie für nichts besseres als Tiere halte. „Wir sind noch nicht einmal Bürger zweiter Klasse.“

Am Tag nach dem Tod von Cengiz und eines weiteren Demonstranten zündet die PKK einen Sprengsatz auf der Straße von Diyarbakir in die 80 Kilometer entfernte Stadt Silvan; drei Polizisten werden getötet. Die Explosion ist so gewaltig, dass eine Fahrspur weggesprengt wird. Auf dem Weg nach Silvan patrouillieren dieser Tage Panzerfahrzeuge. Zu Fuß suchen Soldaten am Straßenrand nach weiteren Sprengsätzen.

In Silvan verhängte die Regierung seit August sechs Ausgangssperren, die vorerst letzte dauerte 13 Tage und endete vor gut einem Monat. Im Stadtviertel Tekel erinnern ganze Straßenzüge an ein Kriegsgebiet, jedes einzelne Haus weist Einschusslöcher auf. Die Schäden an vielen Gebäuden sind typisch für den Beschuss mit schweren Waffen. „Wir hatten keinen Strom, kein Wasser, keinen Handyempfang, kein Festnetz, kein Internet“, sagt ein Bäcker. Scharfschützen hätten Zivilisten beschossen, die Leichen von den Straßen bergen wollten.

„Wenn Du Türke bist, sei stolz.“

Ein anderer Anwohner sagt: „Weiß die EU nicht, dass die Regierung die Menschen mit Panzern angreift? Warum interveniert sie nicht?“ Und ein Nachbar sagt: „Polizisten haben sogar Kühe und Hunde erschossen. Was war deren Verbrechen? Das zeigt ihren Hass.“ Spezialkräfte haben Graffiti wie dieses hinterlassen: „Wenn Du Türke bist, sei stolz. Wenn nicht, dann gehorche.“ Anwohner haben die Graffiti inzwischen übertüncht. Und sie haben begonnen, ihre Häuser wieder aufzubauen – auch wenn sie nicht wissen, wann die Gewalt wieder aufflammt.

800 Häuser seien während der letzten Gefechte beschädigt worden, 100 davon seien unbewohnbar, sagt Hamdiye Bilgic vom Stadtrat in Silvan. Acht Zivilisten seien in den 13 Tagen von Sicherheitskräften getötet worden. Wie viele andere Kurden auch nimmt sie die Kämpfer der YDG-H in Schutz, die aus Sicht der Regierung Terroristen sind. „Das sind Menschen, die sich verteidigen“, meint Bilgic. Im Bürgerkrieg in den 1990er Jahren hätten Sicherheitskräfte Hunderte Menschen in Silvan getötet. „Diejenigen, die jetzt kämpfen, sind deren Kinder.“

Bilgic sagt, sie glaube nicht, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Frieden wolle. „Das behauptet er nur. Stellen Sie sich ein Land vor, das Panzer gegen seine eigenen Bürger einsetzt.“ Die Stadträtin meint, die Kurden hätten das Vertrauen darin verloren, dass die EU sich für ein Ende der Gewalt einsetze. Bilgic befürchtet: „Das ist der Anfang eines Bürgerkrieges.“



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