Boris Johnson tritt als Parteichef zurück
Nach einer offenen Revolte gegen ihn tritt der britische Premierminister Boris Johnson laut Medienberichten noch am Donnerstag als Parteichef der Konservativen zurück. Johnson wolle aber noch bis Herbst Regierungschef bleiben, meldete der britische Sender BBC am Donnerstag. Der Regierungssitz 10 Downing Street erklärte, Johnson wolle sich noch am Donnerstag an die Nation wenden.
Nach einer ganzen Reihe von Skandalen waren seit Dienstagabend mehr als 50 Minister und andere Regierungsvertreter aus Protest gegen Johnson zurückgetreten.
Finanzminister macht Druck
Premierminister Boris Johnson verlor zuletzt zunehmend an Rückhalt. Selbst der erst am Dienstag in seinen Posten berufene Finanzminister Nadhim Zahawi rief Johnson öffentlich zum Rücktritt auf. „Premierminister, in Ihrem Herzen wissen Sie, was das Richtige ist. Gehen Sie jetzt“, schrieb Zahawi in einem auf Twitter veröffentlichten Brief an Johnson.
Mit Bildungsministerin Michelle Donelan und Nordirland-Minister Brandon Lewis stieg die Zahl der zurückgetretenen Kabinettsmitglieder auf fünf. Weitere Tory-Abgeordnete legten ihre Regierungsämter nieder. Johnson hatte sich noch am Mittwoch kämpferisch gezeigt und einen Rücktritt abgelehnt – doch sein baldiger Abschied von der Regierungsspitze gilt zunehmend als unausweichlich. Britische Medien berichteten unter Berufung auf Regierungsinsider, mit einem Rücktritt werde noch am Donnerstag gerechnet.
Die bislang ultra-loyale Chefjustiziarin Suella Braverman hatte Johnson am Abend zuvor im Live-Fernsehen zum Rücktritt aufgefordert und sich selbst als Nachfolgerin ins Spiel gebracht. Sie selbst wollte jedoch zunächst nicht zurücktreten.
Zum Rücktritt gedrängt
Medienberichten zufolge hatte eine ganze Reihe von amtierenden Ministern den Premier am Abend im Regierungssitz 10 Downing Street aufgesucht und zum Rücktritt gedrängt. Darunter soll neben Schatzkanzler Zahawi auch Verkehrsminister Grant Shapps gewesen sein. Gegen Johnson gestellt haben sollen sich auch die bislang ultra-loyale Innenministerin Priti Patel, Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Erwartet wurde, dass es aus dieser Gruppe noch weitere Entlassungen oder Rücktritte geben dürfte.
Bau- und Wohnungsminister Michael Gove, der als langjähriger Weggefährte und politisches Schwergewicht gilt, wurde am Mittwochabend entlassen. Er soll dem Premier bereits am Morgen den Rücktritt empfohlen haben.
Im Regierungssitz 10 Downing Street herrschte am Donnerstagfrüh zunächst Funkstille. Noch am Abend zuvor hatte ein enger Johnson-Vertrauter verkündet, der Premier werde nicht aufgeben. „Der Premierminister ist in einer optimistischen Stimmung und wird weiterkämpfen“, sagte Johnsons parlamentarische Assistent James Duddridge dem Sender Sky News. Johnson habe bei der vergangenen Parlamentswahl das Mandat von 14 Millionen Wählern bekommen und „so viel zu tun für das Land“.
Tory-Abgeordneter: Die Regierung ist „im freien Fall“
Doch seine Lage scheint zunehmend aussichtslos. Der Tory-Abgeordnete und Johnson-Kritiker Steve Baker sagte der BBC am Donnerstag, die Regierung sei „im freien Fall“. Selbst Johnsons früherer Arbeitgeber, die konservative Zeitung „The Daily Telegraph“, bezeichnete Johnson auf ihrer Titelseite als „tödlich verwundet“. Der linksliberale „Guardian“ titelte: „Verzweifelter, verblendeter Premierminister klammert sich an der Macht fest“.
Für Johnson, der schon etliche Krisen ausgestanden und seine Macht stets behielt, dürfte spätestens am kommenden Dienstag das Ende der Fahnenstange erreicht sein. Bis dahin will ein einflussreiches Komitee, das die Regeln für eine Abwahl des Tory-Parteichefs festlegt, den Weg für ein zweites Misstrauensvotum freimachen.
Johnson hatte erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden. Den bisherigen Regeln der Tory-Partei zufolge darf für die Dauer von zwölf Monaten nach der Abstimmung kein neuer Versuch unternommen werden, den Vorsitzenden zu stürzen. Durch eine Regeländerung könnte aber bereits in der kommenden Woche ein neues Misstrauensvotum möglich sein. Es gilt als wahrscheinlich, dass Johnson dieses Mal verlieren dürfte.
Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Zuvor war herausgekommen, dass Johnson von den Anschuldigungen gegen Pincher wusste, bevor er ihn in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten. (afp/dpa/mf)
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