Bodenoffensive in Gaza: „Die Hamas wird Hinterhalte planen“

Luftangriffe werden nicht ausreichen, die Hamas-Terroristen leben im Untergrund. Militärhistoriker Danny Orbach geht auch davon aus, dass eine erste Phase des Kampfs rund sechs Wochen dauern könne – sofern die libanesische Hisbollah keine weitere Front im Norden eröffnet.
Israelische Soldaten nahe der Grenze zum Gazastreifen.
Israelische Soldaten nahe der Grenze zum Gazastreifen.Foto: Ohad Zwigenberg/AP/dpa
Epoch Times22. Oktober 2023

Der Entschluss der israelischen Regierung steht längst fest, die Armeeführung lässt daran keinen Zweifel. „Wir werden mit Kampfgeist und Entschlossenheit das erreichen, was notwendig ist, um unserem Volk für viele Jahre Sicherheit zu bringen“, sagte Kommandeur Or Volozhinsky von der 188. Panzerbrigade mit Blick auf die „nächste Phase des Kriegs“ im Gazastreifen. Es geht um die Bodenoffensive in dem dicht besiedelten Küstenstreifen.

Auf das Massaker vom 7. Oktober in israelischen Orten in der Nähe des Gazastreifens mit mehr als 1.400 Toten musste Regierungschef Benjamin Netanjahu eine Antwort finden. Nach dem, was Hunderte Terroristen im Auftrag der islamistischen Hamas angerichtet haben, sieht Israel als einzig mögliche Antwort die komplette Zerschlagung der Gruppe.

Doch dafür werden schwere Luftangriffe nicht ausreichen. Oder wie es Generalstabschef Herzi Halevi am Samstag sagte: „Wir werden den Gazastreifen für eine operative, professionelle Mission betreten: zur Zerstörung von Hamas-Aktivisten und der Infrastruktur.“

Angesichts der Gräueltaten des Hamas haben israelische Kommentatoren kaum Zweifel, dass die Soldaten entschlossen vorgehen werden. „Nie habe ich einen so starken Willen gesehen, in den Kampf zu ziehen“, schrieb der Militärkorrespondent der Zeitung „Israel Hajom“. „Sie (die Soldaten) verstehen, dass es schlicht keine andere Wahl gibt.“

Tausende Hamas-Kämpfer im Gazastreifen vermutet

Israels Armee gilt als eine der besten der Welt und soll Schätzungen zufolge mehr als 170.000 Soldaten haben. Sie hat zudem kürzlich rund 300.000 Reservisten mobilisiert. Selbst bei einem Start der Bodenoffensive würden aber längst nicht alle davon in den Gazastreifen einmarschieren, sagt der Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität Jerusalem.

Die Hamas verfügte nach israelischen Schätzungen vor dem Terroranschlag auf Israel über rund 30.000 Kämpfer. Mehr als 1.000 Terroristen wurden während und nach ihren Massakern in Israel getötet, Hunderte weitere kamen in Gefangenschaft. Orbach schätzt, dass es in Wahrheit nur rund 15.000 Kämpfer sind. Andere militante Gruppen im Gazastreifen stellen demnach auch einige Tausend Kämpfer.

Die militanten Palästinenser haben trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit einen großen Vorteil: Sie kennen das Gelände, betont Orbach.

„Die Hamas wird Hinterhalte planen und versuchen, israelische Soldaten zu entführen.“ Bei der Offensive finden dem Historiker zufolge Kämpfe auf mehreren Ebenen statt. „Es gibt das obere Gaza, wo die Zivilisten leben und das Untergrund-Gaza, wo es kilometerlange Tunnel der Militanten gibt.“ Israels Streitkräfte müssen demnach mit verminten Tunneln rechnen, die zur Todesfalle werden könnten.

Der Militärhistoriker geht davon aus, dass eine erste Phase des intensiven Kampfs rund sechs Wochen dauern könne, sofern die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah nicht noch stärker in den Krieg eingreift und eine weitere Front im Norden eröffnet.

Umfassendes Tunnelsystem der Hamas

Der Häuserkampf im dicht besiedelten Teil des Gazastreifens werde blutig werden, fürchtet Orbach. „Es wird viele Kollateralschäden geben.“ Gemeint sind mit dieser militärischen Formulierung Opfer unter der Zivilbevölkerung.

Israels Militär hat deshalb die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen wiederholt aufgefordert, das Gebiet Richtung Süden zu verlassen. Noch mehr Häuser in Gaza werden in Schutt und Asche gelegt werden, wie Orbach vermutet – auch um an die Hamas-Mitglieder zu kommen und sie zu töten. Die Bodenoffensive wird Orbach zufolge von Luft- und Artillerieschlägen begleitet werden.

Die Tunnel im Untergrund, aus denen heraus die Hamas operiert, sind Schätzungen zufolge Hunderte Kilometer lang. Orbach glaubt nicht, dass ein großer Teil der sogenannten „Metro“ bei dem Waffengang zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 zerstört wurde, wie die Armee damals behauptete.

Die von Israel, den USA und der EU als Terrororganisation eingestufte Gruppe habe die Fähigkeit, die unterirdischen Gänge, Quartiere und Waffenlager schnell wieder aufzubauen. Um das System nun vollends zu zerstören, wird die Armee die Tunnel nach Angaben des Experten unter anderem mit Luftbildern und Abhörgeräten, die Stimmen in den Gängen orten können, aufspüren.

Auch die bei den Massakern festgenommenen Terroristen würden derzeit bei Verhören nach Informationen zu den Tunneln befragt. Da sich möglicherweise aus Israel entführte Geiseln dort befänden, vermutet der Militärhistoriker, dass die Armee sie nicht fluten werde.

Geiseln als Faustpfand der Hamas

Ob die Armee bei ihren Angriffen ansonsten Rücksicht auf die im Gazastreifen festgehaltenen Menschen nehmen werde, hänge davon ab, ob sie etwas über deren genauen Verbleib wisse, sagt Orbach. Israels Armee geht derzeit eigenen Angaben nach davon aus, dass die meisten der mindestens 212 in die Küstenenklave verschleppten Menschen noch am Leben sind.

Für die Zukunft ist der Experte nicht optimistisch: „Viele Geiseln wird die Hamas vermutlich töten, sofern die Armee anrückt und sie befreien will.“

Die letzte große Bodenoffensive Israels im Gazastreifen hatte am 17. Juli 2014 begonnen – zehn Tage nach Beginn massiver Luftangriffe. Der bewaffnete Konflikt dauerte insgesamt fast zwei Monate. Damals war das Ziel aber nicht die komplette Zerstörung der Hamas.

Bislang ist auch unklar, welchen Plan Israel für die Zeit nach dem Abschluss einer möglichen Bodenoffensive für den Gazastreifen hat. Bis die militärischen Fähigkeiten und die Herrschaft der Hamas ausgeschaltet seien, werde es in jedem Fall eine ganze Weile dauern, so Orbach. Anschließend sieht er zwei Optionen: „Entweder wird ein internationales Konsortium oder eine andere Palästinenserorganisation die Geschicke des Gazastreifens übernehmen.“ (dpa/red)



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