Armenien wirft der Welt Untätigkeit vor: UN-Mission für Berg-Karabach gefordert

Berg-Karabach liegt auf aserbaidschanischem Staatsgebiet und wird mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Seit Langem ist das Gebiet umkämpft. Nun hat Aserbaidschan die Region eingenommen. Vertreter von Berg-Karabach kapitulierten.
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Polizisten schützen den Eingang des Regierungssitzes während Protesten in Eriwan am 22. September. Am 20. September 2023 erklärten sich die Armenier in Berg-Karabach bereit, ihre Waffen niederzulegen und ihr Militär aufzulösen. Dies löste in Eriwan Massenkundgebungen gegen die Regierung aus, sie fordern den Rücktritt von Premierminister Nikol Paschinjan.Foto: KAREN MINASYAN/AFP via Getty Images
Von 24. September 2023

Nach der Eroberung des vornehmlich von Armeniern bewohnten Berg-Karabach durch Aserbaidschan hat der armenische Außenminister der internationalen Gemeinschaft Untätigkeit vorgeworfen. Bei der Generaldebatte der Vereinten Nationen in New York forderte Ararat Mirsojan eine UN-Mission zur Überwachung der Sicherheitslage vor Ort.

Die „wahrlich verheerenden Entwicklungen“ in der Region hätten gezeigt, dass die Probleme „nicht allein durch Stellungnahmen und allgemeine Aufrufe“ gelöst werden könnten, sagte Mirsojan. Es müsse sofort eine UN-Mission nach Berg-Karabach entsandt werden, um die Menschenrechtslage sowie die humanitäre Lage und Sicherheitssituation zu überwachen.

Erste Flüchtlinge unterwegs

Am Sonntag erreichten erste Flüchtlinge aus der umstrittenen Kaukasus-Region Armenien. Wie AFP-Korrespondenten an der Grenze beobachteten, wurde eine Gruppe von einigen Dutzend Menschen von aserbaidschanischen Grenzschutzbeamten befragt, bevor sie in das armenische Dorf Kornidsor durchgelassen wurde. Dort wurden die Menschen von armenischen Beamten in einem eigens eingerichteten Ankunftszentrum registriert.

Unter den Flüchtlingen waren Frauen, Kinder und alte Leute. Auf armenischer Seite hatten Menschen seit Tagen auf die Ankunft der Flüchtlinge aus Berg-Karabach gewartet. Dort wohnen rund 120.000 Armenier.

Viele der Armenier haben offensichtlich ihre Handys ausgeschaltet, um angesichts der zusammengebrochenen Stromversorgung den Akku zu schonen. Diejenigen, die hin und wieder aus Berg-Karabach anrufen oder Nachrichten schreiben, berichten auch von Mangel an Treibstoff und Grundversorgungsmitteln. Es herrscht ein Gefühl der Angst vor den heranrückenden Streitkräften aus Aserbaidschan.

Umgeben von Schäfern und ihren Herden machen die armenischen Soldaten in der winzigen Grenzstadt Kornidsor Platz für russische Hilfskonvois, die seit vergangener Woche in unregelmäßigen Abständen ankommen.

Die einzige andere armenische Straße nach Berg-Karabach, der sogenannte Latschin-Korridor, ist seit einer Blockade durch Aserbaidschan im Dezember geschlossen. Die Bewohner Berg-Karabachs sind de facto eingesperrt.

Am Samstag passierte ein erster Hilfskonvoi des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) den Grenzposten Kornidsor. Er brachte über den Latschin-Korridor Lebensmittel und humanitäre Güter nach Berg-Karabach.

Die armenische Regierung geht zwar von „keiner direkten Bedrohung“ für die Zivilisten der Region aus, bereitete sich aber auf die Aufnahme von 40.000 Familien vor.

Streit um Berg-Karabach

Berg-Karabach liegt auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt und ist zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken seit Langem umkämpft.

Berg-Karabach gehört zwar völkerrechtlich zum überwiegend muslimischen Aserbaidschan, wird aber mehrheitlich von christlichen Armeniern bewohnt. 1991 hatte sich Berg-Karabach nach einem international nicht anerkannten und von der aserbaidschanischen Minderheit boykottierten Referendum für unabhängig erklärt.

Am vergangenen Dienstag hatte das autoritär geführte Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung der Region gestartet. Die Vertreter des De-facto-Staats Berg-Karabach kapitulierten innerhalb von 24 Stunden und erklärten sich zu Verhandlungen über eine Wiedereingliederung in das aserbaidschanische Territorium bereit.

Im sogenannten 44-Tage-Krieg im Jahr 2020 konnte Aserbaidschan große Teile des Gebiets der selbst ernannten Republik Berg-Karabach zurückerobern und deren Kampfkraft nahezu zerstören. Viele Armenier gingen daher davon aus, dass Baku irgendwann versuchen würde, die gesamte Region wieder unter seine Kontrolle zu bekommen – was am Mittwoch dann auch passierte.

Viele Armenier werfen ihrer traditionellen Schutzmacht Russland, die auch eigene Soldaten vor Ort stationiert hat, vor, sie im Stich gelassen zu haben. Während der kurzen Kämpfe starben armenischen Angaben zufolge mehr als 200 Menschen, mehr als 400 weitere wurden demnach verletzt. Armenische Zivilisten in der Region fürchten nun, vertrieben oder von den neuen aserbaidschanischen Machthabern unterdrückt zu werden.

Abkehr von Russland denkbar

Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan deutete eine außenpolitische Abkehr von Russland an. Armeniens derzeitige Sicherheitsbündnisse seien „ineffektiv“ und „unzureichend“ hinsichtlich des Schutzes nationaler Sicherheit und Interessen, sagte Paschinjan am Sonntag in einer Fernsehansprache. Der Regierungschef sprach sich zudem dafür aus, dass Armenien dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) beitritt, der einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin erlassen hat.

Armenien hatte in dem Konflikt mit Aserbaidschan um Berg-Karabach auf die Unterstützung des Militärbündnisses CSTO gehofft. Das Kürzel CSTO steht für die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, eine von Russland dominierte Gruppe von sechs ehemaligen Sowjetstaaten. In den CSTO-Statuten steht, dass der Angriff auf ein Mitgliedsland als ein Angriff auf alle Mitgliedsländer gewertet wird. Russland argumentierte allerdings, die Regierung in Eriwan selbst erkenne Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans an und weigerte sich, Armenien zu helfen.

Paschinjan sprach sich für einen „Umbau“ und eine „Ergänzung“ der bisherigen „Werkzeuge der armenischen äußeren und inneren Sicherheit“ aus und warb dafür, mit all jenen Partnern zusammenzuarbeiten, „die bereit sind für gegenseitig vorteilhafte Schritte“. Mit Blick auf den IStGH sagte Paschinjan, die Entscheidung sei „nicht gegen die CSTO und die Russische Föderation“ gerichtet. Es gehe vielmehr um Armeniens Sicherheit.

Moskau hatte zuletzt Kritik an seinem einst wichtigsten Verbündeten im Kaukasus geäußert. Außenminister Sergej Lawrow warf Armenien am Samstag vor, mit seiner Rhetorik „Öl ins Feuer zu gießen“. Russland hatte Anfang September wegen eines gemeinsamen Militärmanövers Armeniens mit den USA den armenischen Botschafter einbestellt. Paschinjans Äußerungen über den IStGH dürften im Kreml für zusätzlichen Ärger sorgen.

Türkei will ein Treffen mit Alijew

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will sich am Montag mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan treffen. Das berichteten mehrere türkische Medien am Sonntag. Das Treffen kommt nur wenige Tage, nachdem Aserbaidschan in einer Militäraktion gegen die selbst ernannte Republik Berg-Karabach die Kontrolle über den De-facto-Staat wiedererlangt hat.

Erdoğan und Alijew hatten im Juni erklärt, ihre Bemühungen um die Öffnung eines Landkorridors von der Türkei über Nachitschewan und Armenien bis zum Hauptterritorium Aserbaidschans zu verstärken. Der sogenannte Sangesur-Korridor ist ein langjähriges und komplexes Projekt der beiden befreundeten Staaten.

Manche Experten befürchten, dass Aserbaidschan seinen derzeitigen Vorteil ausnutzen könnte, um Gebiete im Süden Armeniens zu erobern und so in Bezug auf den Sangesur-Korridor Fakten zu schaffen. Der türkische Präsident hatte in den vergangenen Tagen mehrmals seiner „Unterstützung“ für die Armee Bakus Ausdruck verliehen.

Internationale Reaktionen

US-Chefdiplomat Blinken versicherte in einem Telefonat mit dem armenischen Regierungschef Paschinjan laut Washington, dass die Vereinigten Staaten Aserbaidschan drängten, „die Zivilbevölkerung zu schützen“ und „die Menschenrechte und Freiheitsgrundrechte der Bewohner von Berg-Karabach zu respektieren“.

Bei der UN-Generaldebatte in New York sagte der armenische Chefdiplomat Mirsojan, die Vereinten Nationen müssten unverzüglich Truppen entsenden, um die „Menschenrechts- und Sicherheitslage vor Ort zu überwachen und zu bewerten“.

Armenien wirft Aserbaidschan vor, eine ethnische Säuberung in Berg-Karabach zu planen. Der armenische Außenminister Mirsojan zog in seiner Rede bei der UN-Generaldebatte eine Parallele zum Völkermord in Ruanda im Jahr 1994. Die Vereinten Nationen hätten in dessen Folge Präventionsmechanismen geschaffen, um ein ähnliches Verbrechen zu verhindern. Heute stehe die Welt in Berg-Karabach „am Rande eines weiteren Fehlschlags“, sagte Mirsojan.

Der aserbaidschanische Außenminister Dscheihun Bajramow sagte in seiner Rede bei der Generaldebatte, das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan werde die Rechte der christlichen Armenier achten. Sein Land sei „entschlossen, die armenischen Einwohner der Region Karabach in Aserbaidschan wieder als gleichberechtigte Bürger zu integrieren“. Baku sehe eine „historische Gelegenheit“ für Aserbaidschan und Armenien, „gute nachbarschaftliche Beziehungen“ zu schaffen.

Am Samstag hatte die aserbaidschanische Armee die begonnene Entwaffnung pro-armenischer Kämpfer in Berg-Karabach bestätigt. Es seien bereits „Waffen und Munition beschlagnahmt“ worden, sagte Armeesprecher Anar Ejwasow in der Stadt Schuscha südlich der Gebietshauptstadt Stepanakert. Die aserbaidschanische Armee arbeite dabei „eng mit den russischen Friedenstruppen zusammen“.

Die begonnenen Gespräche zwischen den De-Facto-Behörden Berg-Karabachs und Baku „unter russischer Schirmherrschaft“ sollen es laut pro-armenischen Behörden ermöglichen, „den Prozess des Truppenabzugs zu organisieren und die Rückkehr der durch die militärische Aggression vertriebenen Bürger in ihre Häuser sicherzustellen“.

(Mit Material der Agenturen)



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