75. NATO-Gipfel: Worum es geht

Die Staats- und Regierungschefs des größten Militärbündnisses der Welt kommen diese Woche in der US-Hauptstadt zusammen, um eine Strategie zur Bewältigung der sich ausweitenden Krisen in Europa, im Nahen Osten und im indopazifischen Raum auszuarbeiten.
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Der 75. NATO-Gipfel hat ein dicht gepacktes Programm.Foto: Simon Wohlfahrt/AFP via Getty Images
Von 9. Juli 2024

Im Mittelpunkt des NATO-Gipfels vom 9. bis 11. Juli in Washington, D. C. stehen die Ukraine, China, der Krieg zwischen Israel und der Hamas sowie der Auftritt von US-Präsident Joe Biden.

Zum Auftakt des Treffens hat Biden die Bündnispartner zu einer Zeremonie anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Bündnisses eingeladen. Bundeskanzler Olaf Scholz, der neue britische Premierminister Keir Starmer und der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj in Washington werden erwartet.

Eine der größten Sorgen des Bündnisses ist der anhaltende Krieg Russlands in der Ukraine. Er droht, die internationalen Grenzen zu überschreiten. Dies könnte die NATO-Mächte, die Kiew mit humanitärer und militärischer Hilfe im Wert von Hunderten Milliarden US-Dollar unterstützt haben, auf den Plan rufen.

Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Krieg als „spezielle Militäroperation“, deren erklärtes Ziel es sei, die Ukraine zu entmilitarisieren und einen NATO-Beitritt des Landes zu verhindern.

Den letzten Teil dieses Ziels bekräftigte Putin im vergangenen Monat, als er erklärte, dass er einen Waffenstillstand akzeptieren würde, wenn die Ukraine ihre östlichen Provinzen aufgeben und ein Abkommen unterzeichnen würde, dass sie niemals der NATO beitreten würde.

Ukraine-Krieg als Katalysator

Der Krieg in der Ukraine hat als Katalysator für die Wiederbelebung des einst schwächelnden Bündnisses gewirkt.

Die russische Aggression gegen die Ukraine führte zum Beitritt von zwei neuen NATO-Mitgliedern, Schweden und Finnland, und zu einem massiven Anstieg der Verteidigungsausgaben in den nunmehr 32 Mitgliedstaaten des Bündnisses.

In einem Telefongespräch mit Medienvertretern sagte ein hochrangiger Mitarbeiter der Biden-Regierung vergangene Woche, dass die Zahl der NATO-Staaten, die mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben, seit 2020 von neun auf 23 gestiegen sei.

„Das ist eine bedeutende Entwicklung“, sagte der Funktionär. „Um es in Dollar auszudrücken: Allein seit 2020 hat die NATO zusammen jährlich 180 Milliarden US-Dollar mehr ausgegeben.“

Deutschland erfüllt mit geschätzten 2,1 Prozent erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder seine Quote. Scholz kann sich auf die Berliner Haushaltsvereinbarung berufen, nach der die NATO-Quote dauerhaft erfüllt wird.

Polen und die baltischen Staaten drängen bereits auf ein höheres Ziel von bis zu drei Prozent.

Kiews verschlungene Pfade zur NATO

Eines der Hauptziele des Gipfels in dieser Woche ist es daher, eine gemeinsame Haltung gegenüber den russischen Bemühungen, die Ukraine aus der NATO herauszuhalten, zu demonstrieren.

Der Mitarbeiter erklärte, dass die Staats- und Regierungschefs der NATO ein neues Militärkommando und eine Reihe anderer Maßnahmen vorstellen würden, um die Ukraine darauf vorzubereiten, die mit einer NATO-Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen „vom ersten Tag an“ zu übernehmen.

Diese als „Brücke zur Mitgliedschaft“ bezeichneten Bemühungen sollen durch 20 bis 30 bilaterale Sicherheitsabkommen zwischen einzelnen NATO-Mitgliedstaaten und der Ukraine ergänzt werden.

In einem sind sich in der NATO alle einig: Eine Konfrontation mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj wie beim letzten Gipfel in der litauischen Hauptstadt vor einem Jahr darf sich in Washington nicht wiederholen.

Selenskyj hatte beim Gipfel in Vilnius die Zusagen der Verbündeten als zu schwach kritisiert und es als „absurd“ bezeichnet, die Ukraine nicht zum NATO-Beitritt einzuladen. Solche Worte will man in Washington nicht mehr hören. „Erwartungsmanagement“ heißt das Zauberwort im Bündnis.

Unter anderem wollen die Staats- und Regierungschefs einen Plan beschließen, der die Ukraine-Hilfe auch im Falle eines Trump-Sieges sichern soll. Dabei sollen die Europäer mehr Verantwortung von den USA übernehmen. Die NATO will von einem neuen Hauptquartier in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden aus ihre Waffenlieferungen an die Ukraine sowie die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Europa koordinieren.

Trotz der Solidaritätsbekundungen gibt es derzeit jedoch keinen realistischen Weg für die Ukraine, Mitglied des Bündnisses zu werden.

Denn dazu bräuchte die Ukraine die einstimmige Unterstützung aller NATO-Mitglieder einschließlich Ungarns und der Türkei. Letztere wären wohl kaum für Schritte empfänglich, die Russland als übermäßig provokativ empfinden würde.

Zentrales Sicherheitsrisiko China

Hintergrund ist auch die Bedrohung durch die Kommunistische Partei Chinas (KPC), gegen die sich das Bündnis in den vergangenen zwei Jahren zunehmend ausgerichtet hat.

Obwohl alle NATO-Staaten in Europa und Nordamerika liegen, hat das Bündnis das kommunistische China bereits in seinem offiziellen strategischen Konzept 2022 als zentrales Sicherheitsrisiko aufgenommen.

Beim Gipfel in Litauen vor einem Jahr hatten die NATO-Staaten „die von der Volksrepublik China erklärten Ziele und ihre Politik des Zwangs“ kritisiert, sich aber „offen für eine konstruktive Zusammenarbeit“ gezeigt. Auf Druck der USA wird in Washington eine härtere Sprache erwartet.

Die anhaltende wirtschaftliche und technologische Unterstützung Russlands durch das kommunistische Regime ist eine der Hauptsorgen der NATO-Funktionäre. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ging so weit, zu sagen, dass „China der Hauptunterstützer der russischen Kriegsanstrengungen in Europa ist“.

Ebenso hat Stoltenberg Russlands Krieg in der Ukraine mit dem Streben der KPC nach einer gewaltsamen Vereinigung des demokratischen Taiwan mit dem chinesischen Festland in Verbindung gebracht. Er sagte, dass ein russischer Sieg im Westen zu einer chinesischen Aggression im Osten führen würde.

„Wenn man Angst vor einer chinesischen Aggression im Südchinesischen Meer oder in Taiwan hat, dann sollte man sich große Sorgen um die Ukraine machen“, sagte Stoltenberg am 17. Juni in einer virtuellen Präsentation vor der Denkfabrik Wilson Center.

Cyberangriffe aus Fernost

Die NATO ist immer noch erschüttert von der Enthüllung, dass eine von der KPC unterstützte Cyber-Kampagne erfolgreich Schadsoftware auf Zehntausenden Systemen, auch in westlichen Verteidigungsorganisationen, platziert hat.

Der niederländische Geheimdienst enthüllte vergangenen Monat, dass die Kampagne mit dem Namen „Coathanger“ 20.000 Systeme in Dutzenden westlichen Regierungen, internationalen Organisationen und einer großen Anzahl von Unternehmen der Verteidigungsindustrie kompromittierte.

Der Umfang dieser Entdeckung lässt darauf schließen, dass die Kampagne darauf abzielte, sich dauerhaft Zugang zur Verteidigungsindustrie westlicher Länder zu verschaffen. Es bleibt jedoch unklar, ob alle Opfer in NATO-Staaten ansässig waren oder eine andere Verbindung hatten.

Umstrittene Israel-Unterstützung

Ein weiterer wichtiger Punkt ist sicherlich der Krieg Israels gegen die Terrorgruppe Hamas im Gazastreifen, der sich zeitweise zu einem weitaus größeren regionalen Konflikt auszuweiten drohte.

Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, bei dem etwa 1.200 Menschen, überwiegend Zivilisten, getötet und mehr als 250 Geiseln genommen wurden, sagte die NATO Israel ihre Unterstützung zu.

Diese Unterstützung ist jedoch ein umstrittenes Thema unter den Staats- und Regierungschefs der Welt, die zuweilen um ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch, Israel zu bewaffnen, und dem Wunsch, das zivile Leben in Gaza zu schützen, ringen.

Die Vereinigten Staaten haben ein Gesetz verabschiedet, das Israel ab Oktober 2023 mehr als 13 Milliarden US-Dollar an Sicherheitshilfe zur Verfügung stellt.

Die Biden-Regierung hat jedoch die Lieferung von 2.000-Pfund-Bomben gestoppt, weil sie befürchtet, dass die Waffen in dicht besiedelten Gebieten eingesetzt werden könnten, in die die Flüchtlinge fliehen mussten.

Die Reaktion des Bündnisses auf die derzeitigen Bemühungen um einen Waffenstillstand mit der Hamas könnte daher weitreichende Auswirkungen auf die Strategie der USA im Nahen Osten haben.

Der Gastgeber wird zum Gipfel-Thema

Ein inoffizieller Fokus des Gipfels wird der Gastgeber selbst sein, Joe Biden. Der US-Präsident steht unter Beschuss einer kleinen Gruppe von Demokraten im Repräsentantenhaus und im Senat, die der Meinung sind, dass sein Verhalten während der ersten Präsidentschaftsdebatte mit Donald Trump gezeigt habe, dass er nicht in der Lage sei, für eine zweite Amtszeit zu kandidieren.

Der Aufschrei hat Biden dazu veranlasst, zu bekräftigen, dass er im im Rennen bleibe und dass er glaube, die beste Option für die Demokraten zu sein, um die Wahlen im November zu gewinnen.

Während des NATO-Gipfels wird der US-Präsident in zahlreichen Situationen, darunter Fototerminen, Pressekonferenzen und Staatsbanketten mit anderen Staatschefs, Gelegenheit haben, in den Augen seiner Partei, der amerikanischen Öffentlichkeit und der übrigen Welt zu beweisen, dass er in der Lage ist, das Amt zu führen.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „What to Watch For at the 75th NATO Summit“. (deutsche Bearbeitung jw)

(Mit Material der Nachrichtenagenturen)



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