Antisemit oder Menschenfreund? Aiwanger weiter unter Druck
Nachdem sich der ältere Bruder Hubert Aiwangers als Verfasser eines 35 Jahre alten geschmacklosen Flugblatts zu erkennen gegeben und sich der Politiker selbst davon distanziert hatte, schien der bayerische Chef der „Freien Wähler“ (FW) und stellvertretende Ministerpräsident zunächst aus der Schusslinie.
Doch die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) lässt nicht locker in ihrem offensichtlichen Bestreben, dem 52-jährigen Politiker eine antisemitische Grundhaltung nachweisen zu wollen. Dass mutmaßliche Hinweise dafür in die Pennälerzeit Aiwangers fallen, scheint für die Münchener Rechercheure keine große Rolle zu spielen.
„Mein Kampf“ im Schulgepäck?
Zuletzt sprach die SZ mit einer namentlich nicht genannten, angeblich früheren Mitschülerin Aiwangers. Die sagte dem FW-Chef aus Niederbayern nach, als Gymnasiast „oft“ Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ in der Schultasche mit sich geführt zu haben. Sie selbst habe das Buch in Händen gehalten. Überhaupt sei der Schüler Aiwanger „für seine rechtsextreme Haltung bekannt gewesen“.
Zuvor hatte ein weiterer Mitschüler im ARD-Magazin „Report München“ zu Protokoll gegeben, dass Aiwanger beim Betreten des Klassenzimmers gelegentlich den Hitlergruß gezeigt habe (Video ab ca. 26:00 Min. in der „ARD-Mediathek“). Außerdem habe er „sehr oft diese Hitler-Ansprachen in diesem Hitler-Slang nachgemacht“ und zuweilen auch „judenfeindliche Witze über Auschwitz und so weiter“ erzählt. Der mutmaßliche Zeuge erklärte, „keine Ahnung“ zu haben, inwiefern der Schüler Aiwanger eine „starke Gesinnung“ gehabt habe.
Sollten die Aussagen stimmen, hätte Aiwanger das beschriebene Verhalten ungefähr im Alter zwischen 14 und 16 Jahren an den Tag gelegt: Der Informant hatte erklärt, ihn in der 7. bis 9. Jahrgangsstufe gekannt zu haben – also noch zwei Jahre vor dem Auftauchen des Flugblatts.
Wollte Aiwangers Lehrer die Karriere seines Ex-Schützlings torpedieren?
Nach Recherchen des „Focus“ soll es sich bei dem Pädagogen, der die SZ über den Flugblatt-Vorfall des Schuljahres 1987/88 in Kenntnis gesetzt haben soll, um Aiwangers ehemaligen Deutschlehrer am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg handeln.
Der heutige Pensionär soll der SPD sehr nahestehen. Er soll sich nach Darstellung des Mitschülers Roman Serlitzky zumindest seit einigen Wochen versucht haben, die politische Karriere seines früheren Schützlings Hubert Aiwanger zu beenden. Serlitzky hatte im Schuljahr 1988/89 jenen später preisgekrönten Geschichtsaufsatz geschrieben, in dem das Flugblatt als Negativbeispiel für den Umgang mit der NS-Zeit gedient hatte.
Den Tipp, das Flugblatt zu verwenden, habe ihm seinerzeit derselbe Lehrer gegeben. Dass es aus dem Hause Aiwanger stammte, habe er, Serlitzky, bis vor Kurzem aber nicht gewusst. Während der Schulzeit habe er auch nie etwas darüber gehört, dass „Hubert Aiwanger in irgendeiner Weise rechtsradikal aufgefallen sei“.
„Mein ehemaliger Deutschlehrer hat mich vor acht Wochen aufgesucht und mich gebeten, ihm einen Dreizeiler aufzuschreiben, in dem ich bestätige, dass Hubert Aiwanger der Verfasser des antisemitischen Flugblatts ist“, zitiert das Münchener Nachrichtenmagazin Serlitzky. „Diese Aufforderung hat er mit folgenden Worten kommentiert: ‚Es wird Zeit, dass wir diese braune Socke jetzt stürzen’“. Er sei dieser Ermunterung jedoch nicht nachgekommen.
Nach Angaben des „Focus“ lehnte der Lehrer bislang ab, persönlich Stellung zu seiner Rolle zu beziehen.
Aiwanger wehrt sich: Seit Jahrzehnten ein „Menschenfreund“
Hubert Aiwanger beteuerte am 30. August mehreren Medienberichten zufolge gegenüber der „Deutschen Presse Agentur“ (dpa), noch nie „Antisemit oder Extremist“ gewesen zu sein.
„Vorwürfe gegen mich als Jugendlicher sind mir nicht erinnerlich, aber vielleicht auf Sachen zurückzuführen, die man so oder so interpretieren kann“, räumte Aiwanger ein, ohne näher in Details zu gehen. In Donauwörth hatte er im Gespräch mit „Welt TV“ ähnlich geantwortet: „Es ist auf alle Fälle so, dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird“. Es wundere ihn etwas, was nun aus seinen Jugendzeiten diskutiert werde. Aiwanger weiter:
Aber auf alle Fälle, ich sag‘ seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund.“
Für diese Selbsteinschätzung könne er „für die letzten Jahrzehnte alle Hände ins Feuer legen“. Von der „Bild“ zum Thema Hitlergruß befragt, sagte Aiwanger: „Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll.“
Auch auf seinem „X“ (vorher Twitter)-Account reagierte Aiwanger am Vormittag des 30. August auf die zahlreichen Anschuldigungen der vergangenen Tage: „#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los. #Aiwanger“. In einem anderen X-Post hieß es: „Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte „Mein Kampf“ in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?“
Rückendeckung durch Parteikollegen: „Kampagne aus Schmutzeleien“
Agenturberichten zufolge entschloss sich der bayerische Landesverband der „Freien Wähler“ am 30. August nach internen Beratungen, seinem Chef den Rücken zu stärken. Der FW-Landesvorstand in Bayern, der Vorstand der Landtagsfraktion und die FW-Kabinettsmitglieder stünden „geschlossen“ hinter Aiwanger, hieß es am Mittwoch, 30. August vonseiten der FW-Generalsekretärin Susann Enders. „Wir sind mit ihm solidarisch“, habe auch FW-Fraktionschef Florian Streibl gesagt. Augenblicklich werde das Schicksal von Millionen Juden dazu instrumentalisiert, einen Politiker fertigzumachen.
Streibl gab zu bedenken, dass eine Koalition in Bayern in Zukunft „auch nur mit Hubert Aiwanger geben“ werde. Aiwanger werde „immer irgendwie dabei sein“, zitiert die SZ den FW-Fraktionschef. Nun habe „im wahrsten Sinne des Wortes der bayerische Souverän das Wort“.
Die Freien Wähler wollten sich weiter gegen die „Diffamierungsversuche und Spekulationen“ der vergangenen Tage wehren. Es handele sich um eine „Kampagne aus Schmutzeleien“, sagte Fabian Mehring, der Parlamentarische Geschäftsführer der FW-Landtagsfraktion, laut SZ. Die ganze Partei sehe sich einer „steigenden Zahl von politischen Angriffen ausgesetzt“, die „derzeit massiv unter der Gürtellinie“ stattfänden.
Aiwanger-Gegner erhöhen Druck
Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, warf Aiwanger im Gespräch mit der „Bild“ vor, „auch Tage nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts aus seiner Schulzeit Einsicht und die Bereitschaft zur ehrlichen Auseinandersetzung vermissen“ zu lassen. Aiwangers Umgang mit den im Raum stehenden Vorwürfen wirke „fast schon trotzig“.
Vural Ünlü, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Bayern (TGB), erklärte nach Angaben der SZ, dass der Verein die Zusammenarbeit mit Aiwanger einstellen werde, bis die Vorwürfe „vollständig ausgeräumt sind und er sich transparent und vollständig zu seiner Vergangenheit äußert“. Ünlü weiter: „Die vorliegende Beweislage erscheint derart überwältigend, dass eine Umkehrung der Beweislast für Herrn Aiwanger unausweichlich wird“.
Am Rand der Kabinettsklausur in Meseberg erklärte nach Angaben der SZ auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass er „alles das, was bisher bekannt geworden ist“ als „sehr bedrückend“ empfinde. Deshalb sei für ihn „sehr klar, dass alles aufgeklärt werden“ müsse. Vorausgesetzt, dabei werde nichts „vertuscht“, müssten im Nachgang „Konsequenzen“ gezogen werden.
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnete es nach SZ-Angaben als „schwer vorstellbar“, dass Markus Söder weiter mit einem Kollegen zusammenarbeiten wolle, der so agiere wie Aiwanger. Dessen Umgang mit der Flugblatt-Affäre komme ihm „unaufrichtig“ vor. Außerdem habe der FW-Chef in Reden „der jüngeren Vergangenheit eine Sprache des rechten Populismus benutzt“.
Bundeswirtschaftsminister Christian Lindner (FDP) argumentierte laut SZ ähnlich: In seinen Augen sei Aiwangers „Umgang und die Aufklärungsbereitschaft […] bislang nicht glaubwürdig.“ Es müsse dringend Klarheit geschaffen werden mit den dann gegebenenfalls nötigen Konsequenzen. Diese müsse Aiwanger „selber ziehen“ – „oder der bayerische Regierungschef“.
Dirk Wiese, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, forderte Aiwangers Rückzug von seinen Kabinettspflichten: „Das, was täglich Stück für Stück das Licht der Welt erblickt, ist eine Geisteshaltung, die nur noch eine Konsequenz haben kann: Rücktritt“, erklärte er gegenüber der „Rheinischen Post“. Auch für Ministerpräsident Söder werde es „mehr und mehr zum Problem“ werden, dessen Stellvertreter noch länger im Amt bleibe.
Aiwanger soll sich in 25 Antworten offenbaren
Markus Söder hatte seinem Stellvertreter am 29. August die Möglichkeit eingeräumt, 25 Fragen zur Flugblatt-Affäre schriftlich zu beantworten. Davon wolle er abhängig machen, ob es eine weitere Zusammenarbeit auf Koalitionsebene mit dem Spitzenmann der „Freien Wähler“ geben werde. Aiwanger ließ sich darauf ein. Wann seine Stellungnahme vorliegen wird, ist unklar.
Auf Druck der Opposition im Bayerischen Landtag soll es nach Agenturangaben voraussichtlich in der kommenden Woche eine Sondersitzung im Parlament geben, um über die sogenannte „Flugblatt-Affäre“ zu sprechen. In Bayern wird am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt.
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