Wie verteidigungsfähig ist Europa ohne die USA?

„Die EU muss eine Militärmacht werden“, forderte der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer in einem Interview. Wie ist es um die Verteidigungsfähigkeit Europas tatsächlich bestellt? Eine Analyse.
Die Staats- und Regierungschefs stehen bei den Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der Nato zusammen. Der Nato-Gipfel dauert bis zum 11.07.2024
Die Staats- und Regierungschefs stehen bei den Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der NATO zusammen.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 27. Juli 2024

Die Europäische Union muss wieder stärker als bisher die Verteidigung ihres Territoriums in die Hand nehmen. Das fordert der frühere Außenminister Joschka Fischer im Gespräch mit dem Onlineportal „Table.Briefings“. Der frühere Spitzenpolitiker der Grünen sagte: „Wir müssen eine militärische Macht werden als Europäische Union – in Verbindung mit der NATO, die durch den Beitritt Finnlands und Schwedens ja gestärkt worden ist“. Um für die „Sicherheit zu sorgen“, würde man aber auch als Bundesrepublik weiter aufrüsten müssen, so der ehemalige Außenminister.

Es gehe darum, „verteidigungsfähig“ zu werden. „Wir müssen so stark werden, dass jede Überlegung, NATO-Territorium oder gar Bundesgebiet anzugreifen, einfach abwegig ist auf der anderen Seite. Das setzt Abschreckungsfähigkeit voraus“, so Fischer. 

Illusionäre Phase in Deutschland beenden 

Darauf angesprochen, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vor einiger Zeit davon sprach, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden müsse, sagte Fischer, dass er diese Begrifflichkeit nicht kritisieren könne. „Denn er hatte offensichtlich im Hinterkopf, dass es darum geht, die illusionäre Phase in Deutschland in den deutschen Köpfen zu beenden und die Realität zu sehen“, begründet Joschka Fischer seine Aussage. Die Realität sei, dass Putin ohne Not einen Nachbarn überfallen hat, so Fischer weiter. „Und er wird, sollte er damit durchkommen, nicht aufhören, sondern weiter westlich weitermachen“. Man könne nicht „sehenden Auges“ vorgeben, als wenn sich nichts verändert hätte durch den Angriffskrieg Russlands gegenüber der Ukraine. 

Was Fischer auf europäischer Ebene einfordert, wird schon seit Jahren intensiv diskutiert: Wie verteidigungsfähig ist Europa? Auch wenn der ehemalige Außenminister im Interview die „Verbindung mit der NATO“ betont, dürfte er im Blick haben, dass die mögliche Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten auch die europäische Sicherheitsarchitektur durcheinanderwirbeln könnte. 

Trump hatte im Februar dieses Jahres für Aufmerksamkeit gesorgt. Auf einer Wahlkampfveranstaltung im Bundesstaat South Carolina hatte er gesagt, der „Präsident eines großen Landes“ habe ihn einmal gefragt, ob die USA dieses Land auch dann noch vor Russland beschützen würden, wenn es die Verteidigungsausgaben nicht zahle. Er habe geantwortet: „Nein, ich würde euch nicht beschützen.“ Vielmehr noch: Er würde Russland „sogar dazu ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen“. Es war dabei unklar, ob es jemals ein solches Gespräch zwischen Trump und einem Staatschef gegeben hat, denn der Republikaner sagte auch: „Nehmen wir an, das ist passiert.“ Unter anderem hatte damals die „Tagesschau“ darüber berichtet.

Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel äußerte damals, dass diese Aussage wie eine Aufforderung an den russischen Präsidenten Wladimir Putin wirke, die NATO herauszufordern. „Putin könnte uns dann vielleicht nicht in Deutschland, aber möglicherweise im Baltikum testen“, warnte der SPD-Politiker im Februar im „Deutschlandfunk“.

Gabriel betonte weiter, dass Trump bereits früher ähnliche Aussagen gemacht habe und die neue Äußerung zu seinem politischen Ansatz passe. Trump sei bestrebt, Deals zu schließen. „Was er sagt, ist also nicht völlig neu. Und das Problem ist, dass ein Teil davon wahr ist.“

Es sei schwer zu erklären, warum die USA mehr zur Sicherheit Europas beitragen als die Europäer selbst, obwohl beide Volkswirtschaften vergleichbar groß seien. „Trotzdem darf man eine Allianz nicht auf diese Weise behandeln“, sagte Gabriel. Die USA seien die Führungsmacht der NATO.

Europas Verwundbarkeit

Ohne die USA können sich die Europäer im Moment tatsächlich nicht verteidigen. Die Amerikaner stellen den Löwen­anteil der sogenannten „strategic enablers“, das heißt etwa Aufklärung, Luftbetankung und Satellitenkommunikation. Sie verfügen über schnell einsatzbereite und kampffähige Streitkräfte mit umfangreichen Munitionsvorräten, die den meisten europäischen Staaten fehlen. Nicht zuletzt ist die amerikanische Nukleargarantie Europas Lebensversicherung und ein elementarer Bestandteil der Abschreckung. Die nukleare Teilhabe ist ein Konzept innerhalb der Abschreckungspolitik der NATO, das Mitgliedstaaten ohne eigene Nuklearwaffen in die Zielplanung und in den Einsatz der Waffen einbezieht.

Sicherheitspolitisch ist Europa also nach wie vor auf die USA angewiesen. Das ist auch die Verwundbarkeit Europas. Schon 2022 wies der US-Verteidigungsexperte Max Bergmann in einem Beitrag für das „Journal für Internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG Journal) auf den Umstand hin, dass die NATO so organisiert sei, dass die europäischen Streitkräfte im Wesentlichen an einen von den USA geführten Operationsplan angedockt seien. Bergmann ist der Direktor des Europa-, Russland- und Eurasien-Programms und des Stuart Center in Euro-Atlantic and Northern European Studies am „Center for Strategic and International Studies“ (CSIS).

Europa, so der Rat des Experten, müsse seine Sicherheit langsam selbst in die Hand nehmen. Das Engagement der USA wird nicht von Dauer sein, prognostiziert der Strategieexperte.

USA könnten Interessen schnell verlagern

Zwar werde in den kommenden Jahren Russland und der Krieg in der Ukraine ein „wichtiger Brennpunkt“ bleiben. Allerdings, so befürchtete Bergmann, werde die USA dieses Engagement nicht über einen langen Zeitraum durchhalten. Bergmann befürchtet eine Interessenverlagerung der USA nach Asien über kurz oder lang. 

„Die Konfliktgefahr in Asien, wo möglicherweise ein chinesischer Angriff auf Taiwan droht, kann die amerikanische Prioritätenliste auf einen Schlag von Grund auf verändern“, warnt der frühere Berater und Sonderassistent im US-Außenministerium.

Chinas weiterer Aufstieg werde dafür sorgen, dass die USA ihr „Augenmerk wieder dem pazifischen Raum“ zuwenden. „Washington wird wohl erkennen müssen, dass es nicht die Erfordernisse seiner Verbündeten in Europa und Asien ausbalancieren und gleichzeitig die Machtpräsenz aufrechterhalten kann, die es braucht, um Russland und China abzuschrecken.“ Damit seien die USA überfordert, so Bergmann. 

Doch nicht nur die mögliche Hinwendung der USA in den pazifischen Raum könnte Europa vor neue Herausforderungen stellen. Ende des vergangenen Jahres startete die einflussreiche amerikanische Denkfabrik Heritage Foundation ihr sogenanntes „2025 Presidential Transition Project”. Mit diesem Projekt soll nach eigenen Angaben der Weg für eine „effektive konservative Regierung“ geebnet werden. Die Kampagne beruht auf mehreren Säulen: einem politischen Programm, einer Datenbank mit dem Personal des Präsidenten, einer Akademie für die Präsidentenverwaltung und einem Strategieplan für die ersten 180 Tage der nächsten Regierung. Schon bei der letzten Regierung unter Trump, rühmt sich die Denkfabrik, habe der Präsident fast zwei Drittel der Vorschläge von der Heritage Foundation übernommen. Ein Blick ins politische Programm lohnt sich daher – primär in den außenpolitischen Teil. 

Konzept der „schlafenden“ NATO-Mitgliedschaft

Es wird die Strategie einer „dormant NATO“ ins Spiel gebracht. Hinter dieser Option steckt die Vorstellung einer „schlafenden“ Mitgliedschaft der USA. Für die Ideengeber bedeutet diese Option: keine Erweiterung der NATO und massive Reduzierung der US-Präsenz in Europa.

Einer der Ideengeber dieses Konzepts ist der Direktor für Forschung und Öffentlichkeitsarbeit am „American Ideas Institute“, Dr. Sumantra Maitra. In einem Beitrag aus dem Dezember vergangenen Jahres für das Magazin „The American Conservative“ erläuterte Maitra seine Idee. Er schreibt, die Unterstützung der Ukraine sei kein vitales nationales Interesse und die hohen Kosten seien nicht gerechtfertigt, da Russland „keine hegemoniale Bedrohung in Europa“ mehr sei. Er fordert stattdessen, es sei für die USA „höchste Zeit, den [europäischen] Kontinent als nationale Sicherheitspriorität aufzugeben“.

Maitra kritisiert die institutionelle Entwicklung der NATO seit dem Ende des Kalten Krieges, insbesondere die Osterweiterung und die „supranationale Bürokratisierung“ unter dem Vorwand der Demokratieförderung. Er argumentiert, dass die Europäer sich sicherheitspolitisch nicht stärker engagieren, solange die USA den Großteil der Lasten tragen. Maitra fordert daher eine Umstellung hin zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur, in der US-Truppen nicht mehr das Rückgrat der Verteidigung an der NATO-Ostflanke bilden, sondern nur im Notfall eingesetzt werden.

Zwar strebt Maitra keinen vollständigen Abzug der USA aus Europa an – der nukleare Schutzschirm sowie eine begrenzte US-Marine- und Luftpräsenz sollen erhalten bleiben –, jedoch soll die NATO keine weitere territoriale Expansion anstreben und sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Die Europäer sollen die konventionelle Abschreckung gegen Russland eigenständig übernehmen. Maitra bevorzugt ein „burden-shifting“ gegenüber einem „burden-sharing“, indem er die USA von ihrer Lastenverantwortung in Europa entbinden möchte.

„Europäer, ihr müsst eure Hausaufgaben machen“

Auch ein Wahlsieg der Demokraten entbindet Europa nicht davon, sich zukünftig stärker finanziell einzubringen, wenn das NATO-Bündnis Bestand haben soll. Das betonte noch einmal Christoph Heusgen, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, nach dem Rückzug Joe Bidens aus dem US-Wahlkampf im „ARD-Brennpunkt“

Die US-amerikanische Forderung, dass Europa mehr Geld in die eigene Verteidigung investieren sollte, existiert seit Jahren, so Heusgen. „Egal, wer amerikanischer Präsident wird, es ist ganz klar: Die Amerikaner werden sich mehr auf die Sicherung des indopazifischen Raums konzentrieren, die Rivalität mit China wird einen größeren Stellenwert einnehmen. Und seit Obama sagen uns alle amerikanischen Präsidenten: Europäer, ihr müsst eure Hausaufgaben machen.“ Diese Erledigung steht aber nach wie vor aus.

Tatsächlich ist Europa weiter hinter die USA zurückgefallen. Von einer „strategischen Autonomie“ ist Europa immer noch weit entfernt. Jeremy Shapiro und Jana Puglierin schreiben 2023 eine Analyse für den „European Council on Foreign Relations“ (ECFR). Laut dieser Analyse stiegen die Militärausgaben der USA zwischen 2008 und 2021 von 656 auf 801 Milliarden Dollar. Im gleichen Zeitraum erhöhten sich die Ausgaben der 27 EU-Staaten und Großbritanniens lediglich von 303 auf 325 Milliarden Dollar. Und eine weitere Erkenntnis aus dieser Analyse: Die Ausgaben der USA für neue Verteidigungstechnologien sind immer noch sieben Mal so hoch wie die aller EU-Mitgliedsländer zusammen.

Weiter kommt die Analyse zum Ergebnis, dass die Europäer darüber hinaus bei der Verwendung ihres doch relativ kleinen Budgets kaum zusammenarbeiten. So bleibe es ineffizient, erläutert die Studie.

Abhängig von Drittstaaten schwächt

EU-Initiativen, die als Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine ins Leben gerufen wurden – wie „EDIRPA“ zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung oder „ASAP“ zur Förderung der Munitionsproduktion – stoßen laut der Analyse auf mangelnde Unterstützung der Mitgliedstaaten.

Da europäische Produkte und Kapazitäten oft nicht rechtzeitig verfügbar seien und Lücken schnell geschlossen werden müssten, griffen viele europäische Länder auf „Lösungen außerhalb Europas“ zurück. „Dies erhöht die Abhängigkeit von Drittstaaten und schwächt die eigene verteidigungsindustrielle Basis in Europa“, so die Analyse. Zahlen aus dem September 2023 zeigten, dass 78 Prozent der finanziellen Mittel der EU-Länder für den Zeitraum 2022 bis 2023 für Beschaffungen außerhalb der EU ausgegeben wurden.

„Der wichtigste Beitrag der EU zu einer stärker europäisierten NATO besteht darin, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, mehr und intelligenter in ihre Verteidigungsfähigkeiten und in innovative Technologien zu investieren“, heißt es weiter. Mehr Geld allein sei nicht die Lösung: „Ohne eine Neugestaltung bestehender Strukturen und Prozesse wird europäische Rüstungskooperation weder innovativer noch effektiver. Doch ohne nachhaltige Finanzierung fehlen Anreize für die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung“, prognostiziert die Analyse.  



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