Weißrussland: Lage bleibt explosiv – Menschenkette mit 50.000 Teilnehmern von Vilnius bis zur Grenze
Etwa 32 Kilometer lang war die Menschenkette, die am Sonntag (23.8.) von Vilnius (Litauen) bis an die Grenze zu Weißrussland führte. Sowohl der Tag als auch das geografische Ziel der Aktion waren gezielt ausgewählt. Die Teilnehmer wollten durch die Menschenkette ihre Solidarität mit der Opposition in Belarus zum Ausdruck bringen, die seit dem 9. August gegen die möglicherweise gefälschten Ergebnisse der Präsidentschaftswahl protestiert.
Menschenkette von Vilnius an den Schauplatz eines OMON-Massakers
Wie das Portal „IntelliNews“ berichtet, war das Grenzdorf Medininkai der Endpunkt der Aktion. Dort hatten 1991 Sondereinheiten des Innenministeriums der Sowjetunion ein Massaker an Zollbeamten der früheren Sowjetrepublik Litauen verübt, die im März 1990 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte. Zuvor hatten am 23. August 1989 über eine Million Menschen an einer Menschenkette teilgenommen, die Litauen, Lettland und Estland umfasste, und in der das Ende der Okkupation der baltischen Länder durch die Sowjetunion gefordert wurde.
Neben litauischen Nationalflaggen schwenkten die Teilnehmer an der gestrigen Aktion auch die weiß-rot-weiße Flagge, die nach der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion als Nationalflagge verwendet worden war und nun als Erkennungszeichen der Opposition gilt. Die regierungstreuen Kräfte verwenden die von den Farben Rot und Grün dominierte offizielle Flagge.
Litauische Politiker für Sanktionen gegen Weißrussland
Die Kundgebung endete mit einem Konzert und einem Spendenmarathon im Innenhof des Schlosses Medininkai. Die dabei eingenommenen Mittel sollen der Vereinigung BY Help zugutekommen, die seit 2017 den Familien verfolgter und aus politischen Gründen inhaftierter Belarussen hilft.
An der Veranstaltung nahmen der amtierende litauische Präsident Gitanas Nauseda und die frühere Präsidentin Dalia Grybauskaite teil. Die Politiker forderten dazu auf, für die Freiheit einzutreten und neben politisch-diplomatischen auch wirtschaftliche Sanktionen gegen die Führung in Minsk zu verhängen.
In Litauen befindet sich derzeit unter anderem die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die am 21. August dort auch eine Pressekonferenz gegeben hatte, in der sie zu friedlichen Demonstrationen und zu Streiks in Weißrussland aufgefordert hatte. Tichanowskaja war als Kandidatin eingesprungen, nachdem bereits im Mai ihr Ehemann, der Videoblogger Sjarhej Zichanouski, wegen angeblicher Vorbereitung staatsgefährdender Akte verhaftet und damit an der Kandidatur gehindert worden war.
Opposition wirft Lukaschenko Wahlbetrug vor
Am 14. August wurden offizielle landesweite Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen bekanntgegeben. Diese entsprachen im Wesentlichen jenen der Nachwahlbefragungen vom 9. August, wonach auf Amtsinhaber Alexander Lukaschenko etwa 80 Prozent der Stimmen entfallen wären – wobei die Detailergebnisse von 64,5 Prozent im Hauptstadtbezirk Minsk bis zu 88 Prozent im Oblast Mogiljow an der russischen Grenze gereicht hätten. Auf Tichanowskaja wären demnach landesweit 10 Prozent entfallen, mit einem Spitzenwert von knapp 15 Prozent in Minsk.
Die Opposition, die Lukaschenko eine sechste Amtszeit als Präsident sichern sollten, sprach von Wahlfälschung. Zudem seien die Wahlen von vornherein nicht fair gewesen, da alle potenziell aussichtsreichen Kandidaten unter fadenscheinigen Gründen verhaftet und Oppositionelle systematisch eingeschüchtert worden wären.
Dass oppositionelle Kräfte, wie sie auch in westlichen Medien als Hoffnungsträger präsentiert werden, in autoritär regierten Staaten der früheren Sowjetunion zwar über einen gewissen Zuspruch in den größeren Städten verfügen, aber nicht flächendeckend, wäre kein neues Phänomen. Auch in Russland war ähnliches bei Oppositionspolitikern wie Alexej Nawalny oder Xsenia Sobtschak zu beobachten. Allerdings war in unabhängigen Meinungsumfragen der Beliebtheitsgrad Lukaschenkos im Sommer 2016 auf unter 30 Prozent gesunken – woraufhin diese kurzerhand verboten wurden.
Berichte über Schläge und Folter in Polizeigewahrsam
Im Zuge der Proteste, die mit der Verkündung der Ergebnisse der Nachwahlbefragung einsetzten, wurden bis dato 7.000 Menschen inhaftiert. Zuletzt traf es unter anderem zwei DJs, die einen Song der Protestbewegung spielten und dafür nach eigenen Angaben für zehn Tage unter unmenschlichen Bedingungen in Haft gekommen seien.
Die Betroffenen bestätigen im Gespräch mit der „Wiener Zeitung“ Berichte, wonach es häufig zu Misshandlungen und Folter der Festgenommenen kommt und diese als Terroristen betrachtet werden. Im Zuge der Proteste starben bis dato mindestens drei Menschen, hunderte wurden verletzt.
Mittlerweile deutet sich an, dass die harte Gangart gegen die Protestbewegung Wirkung zeigt. Während vor etwa einer Woche noch 200.000 Menschen an einer Großkundgebung der Opposition in Minsk teilgenommen hatten, soll eine angekündigte Großveranstaltung am vergangenen Wochenende deutlich weniger Demonstranten mobilisiert haben. Die Kundgebung auf dem Platz der Unabhängigkeit soll sich zudem schnell zerstreut haben, als Regen einsetzte.
Im Laufe der Woche hatte es zudem auch in mehreren Teilen des Landes Unterstützungskundgebungen sowie Fahrrad- und Autokorsos für Lukaschenko mit unterschiedlichen Teilnehmerzahlen gegeben.
Obskure Affäre rund um Söldner der Wagner Group
Auch an der außenpolitischen Front zeichnen sich Anzeichen für eine Beruhigung ab. Von Beginn der Proteste an waren im In- und Ausland Warnungen vor einer Neuauflage des Maidan-Szenarios in der Ukraine laut geworden.
Während von unterschiedlichen Seiten Gerüchte über mögliche militärische Interventionen entweder vonseiten Polens oder der Russischen Föderation laut geworden waren, wurden im Vorfeld der Wahlen tatsächlich mehr als 30 mutmaßliche Angehörige der paramilitärischen „Wagner Group“ des russischen Oligarchen Jewgeni Prigoshin festgenommen.
Wie BBC berichtete, seien die Männer bereits im Juli in einer Kuranstalt im Bezirk Minsk aufgegriffen worden. Sie hätten dadurch Aufmerksamkeit erregt, dass sie eine militärisch anmutende Disziplin an den Tag gelegt und keinen Alkohol getrunken hätten.
Lukaschenko will weiterhin zwischen Westen und Moskau taktieren
Die Wagner Group wird eine Nähe zum russischen Verteidigungsministerium nachgesagt, ihre Söldner sollen sogar berechtigt sein, Einrichtungen des Ministeriums zum Training zu nutzen. Sie sollen bereits in Ländern wie der Ukraine, Syrien, Libyen, Venezuela, Sudan, Madagaskar oder der Zentralafrikanischen Republik als private Auftragnehmer aufgetreten sein.
Der Kreml bestreitet jegliche Verbindung zu der Gruppe, zahlreiche Mitglieder gehörten zuvor jedoch der Spetsnaz-Elitetruppe des Militärgeheimdienstes GRU an. Im Vorfeld der Verhaftung hatte die weißrussische Nachrichtenagentur BelTA über „200 Paramilitärs“ berichtet, die ins Land gekommen seien, um im Vorfeld der Wahlen für Destabilisierung zu sorgen.
Ob an einer solchen tatsächlich ein Interesse besteht, ist indessen fraglich. Lukaschenko, der seit 1994 das Land unangefochten regiert, misstraut dem Westen insbesondere seit der Ukraine-Krise – und doch betont er seither explizit die Eigenständigkeit Weißrusslands. Immerhin hat er auch kein Interesse an einer Eingemeindung seines Landes in die Russische Föderation, wie sie in Kreisen des Kremls als sinnvolle Lösung gesehen wird.
Lukaschenko will Präsident bleiben und nicht zum Gouverneur herabgestuft werden, der gegenüber dem Kreml rechenschaftspflichtig ist, wie dies im Fall einer Vereinigung von Russland und Weißrussland der Fall wäre.
Wirtschaft auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig
Dennoch ändert auch der Ehrgeiz Lukaschenkos, sich als eigenständiger Akteur in der Region zu präsentieren, wenig am Umstand, dass das Land wirtschaftlich auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen des russischen Nachbarn ausgeliefert ist, das Belarus nicht zuletzt günstige Gaslieferungen und Transitentgelte garantiert.
Dass Lukaschenko es in den 2000er Jahren geschafft hatte, trotz seiner Politik der Rückkehr zur Planwirtschaft die ökonomischen Verhältnisse in Weißrussland zu stabilisieren und weithin unbeschadet durch die Weltfinanzkrise zu kommen, ist zu einem entscheidenden Teil der Unterstützung aus Moskau geschuldet. Auch die führenden Köpfe der Opposition wissen das und streben – anders als die Protagonisten des Maidan in der Ukraine – keinen Bruch mit Moskau an.
Auch der Außenpolitik-Chef der „Wiener Zeitung“, Gerhard Lechner, warnt auf Facebook davor, Gerüchten über angeblich bevorstehende Interventionen in Belarus Glauben zu schenken – egal ob sie von Lukaschenko selbst oder von westlichen Beobachtern verbreitet werden.
Erfolgschancen im Falle eines Regimewechsels gering
Er hält es auch für wenig wahrscheinlich, dass der Westen Ambitionen entwickeln könnte, einen Machtwechsel in Minsk herbeizuführen. Es sei nicht nur zu offensichtlich, dass sich derlei Abenteuer bis dato weder in Libyen noch in Syrien und noch nicht einmal wirklich in der Ukraine – obwohl die Voraussetzungen dort noch verhältnismäßig am besten gewesen wären – als Erfolgsgeschichten erwiesen hätten.
Vor allem gäbe es keinerlei Strukturen, auf die man einen Neuanfang aufbauen könnte: „Lukaschenko hat über die Jahre alle konkurrierenden Parteien zerschlagen, es gibt also keine Strukturen, auf denen man aufbauen könnte. Dazu kommt das überlieferte altsowjetische Natschalnik-System, ein autoritäres Anschaffer-System, das man auch nicht so mir nix, dir nix durch was Besseres ersetzen kann.“
Es gebe zwar in Weißrussland eine Vielzahl talentierter, gut ausgebildeter und fähiger Kräfte. Persönlichkeiten wie Viktor Babariko oder Valeri Tsepkalo, die sich als Oppositionelle einen Namen gemacht hätten, seien auch solide Akteure, die das Land unter normalen Umständen in eine bessere Zukunft führen könnten.
Allerdings wäre zu befürchten, dass sie in einer Situation wie der derzeitigen, mit weltweiter Corona-bedingter Wirtschaftskrise, Pleitewellen und ähnlichem, verheizt werden könnten.
Dass Lukaschenko an der Macht bleibe, habe zumindest etwas von ausgleichender Gerechtigkeit: „Gewinnt Lukaschenko diesen Machtkampf, muss er seine eigene Suppe (die Früchte von 70 Prozent sozialistischer Staatswirtschaft…) wenigstens selbst auslöffeln.“
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