Vielfalt ohne Einheit? Bundestagswahl zeigt tief gespaltenes Deutschland
CDU-Vize Reiner Haseloff sieht das Ergebnis der Bundestagswahl vom Sonntag (26.9.) als Ausdruck eines „heterogenen Deutschlands“, das es nun gelte, „sinnvoll zusammenzuführen“. Damit interpretiert er auf wohlwollende Weise ein Wahlergebnis, das wie noch keines zuvor ein tief gespaltenes und auseinanderdriftendes Gemeinwesen illustriert.
Die SPD landete dem amtlichen Endergebnis zufolge auf dem ersten Platz in der Wählergunst. Der Sieg ist dennoch von dem Umstand überschattet, dass die 25,7 Prozent, die auf die Sozialdemokraten entfallen, immer noch deutlich unterhalb all jener Zweitstimmenergebnisse liegt, die von der Traditionspartei im Zeitraum von der Gründung der Bundesrepublik bis zum Ende der Ära Schröder erzielt werden konnten.
Viele Verlierer – wenige und glanzlose Sieger
Die Union, die Medien unter Berufung auf Umfragen zum Teil schon unter die 20-Prozent-Marke geschrieben hatten, konnte auf den letzten Metern noch Boden gutmachen. Die 24,1 Prozent, die CDU und CSU zusammen erzielten, dürften Armin Laschet zwar den Verbleib an der Spitze der CDU ermöglichen – und die CSU konnte immerhin bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde überschreiten.
Dennoch steht am Ende das mit Abstand schlechteste Unionsresultat bei einer Bundestagswahl – und es ist damit zu rechnen, dass trotz der nach wie vor vorhandenen Aussicht, zumindest im Rahmen einer möglichen Jamaika-Koalition weiter den Kanzler zu stellen, keine Ruhe in CDU und CSU einkehrt.
Zu den absoluten Wahlgewinnern gehören hingegen die Grünen mit 14,8 Prozent der Zweitstimmen (plus 5,8) und die FDP mit 11,5 (plus 0,7). Ihr Erfolg wird jedoch dadurch getrübt, dass die Grünen noch im Frühjahr von Umfrageinstituten bei 25 Prozent und mehr gehandelt worden waren und auch die Liberalen in der Endphase des Corona-Lockdowns näher an ihrem Allzeithoch des Jahres 2009 als am gestrigen Endergebnis gelegen hatten.
Gelb-grünes Kartell bei den Koalitionsgesprächen möglich
Das erste Statement von FDP-Chef Christian Lindner auf der Wahlfeier seiner Partei in Berlin ließ eine Tendenz erkennen, zum Zwecke der anstehenden Sondierungen und Regierungsverhandlungen einen Schulterschluss mit den Grünen zu suchen. Wollen die Union und die SPD eine neuerliche Große Koalition vermeiden und gibt es kein Kenia- oder Deutschlandmodell unter Ausschluss entweder der FDP oder der Grünen, werden sie beide mit ins Boot nehmen müssen.
Dies könnten beide dazu nutzen, eine Art Kartell zu bilden, um den Preis für ein Bündnis sowohl gegenüber der SPD als auch gegenüber der Union maximal in die Höhe zu treiben.
Linkspartei entging nur knapp dem Bundestags-Aus
FDP-Chef Lindner sieht durch die Bundestagswahlen die Mitte gestärkt und die Ränder geschwächt. Tatsächlich haben viele Verschiebungen eher ein Nullsummenspiel ergeben. Die Liberalen haben sich gegenüber 2017 nur geringfügig verbessert, die Große Koalition kommt auf ähnlich viele Stimmen und Mandate wie damals – nur dass mehrere Millionen Wähler netto direkt von der Union zur SPD gewandert waren. Die Grünen haben fast sechs Prozent gewonnen, während die beiden anderen Parteien links- und rechtsaußen zusammen 6,6 Prozent einbüßten.
Die Linkspartei hätte dieser Umstand um ein Haar aus dem Bundestag verbannt. Mit 4,9 Prozent verfehlte die Partei die Fünf-Prozent-Hürde bei den Zweitstimmen und konnte auch von den Hoffnungsgebieten in Ost-Berlin nur noch zwei bei den Direktmandaten halten. Erst die Meldung vom dritten Direktmandat in Leipzig II brachte Sicherheit, dass die Linkspartei auch im künftigen Bundestag vertreten sein wird. Allerdings nicht in einer rot-grün-roten Koalition: Dieser fehlt es bereits an einer rechnerischen Mehrheit.
AfD nur noch für Linkswähler attraktiv
Mit einem blauen Auge kam auch die AfD davon, die wie bereits bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt an Stimmen verlor, in absoluten Zahlen etwas mehr als eine Million bei den Zweitstimmen. Mit 10,3 Prozent (minus 2,3) konnte sich die Partei aber immerhin noch im zweistelligen Bereich halten und sich insbesondere in Hochburgen wie Thüringen und Sachsen stabilisieren. In beiden Ländern wurde die AfD stärkste Kraft, zudem konnte sie in Sachsen zehn, in Thüringen vier und in Sachsen-Anhalt zwei Direktmandate holen.
In Summe allerdings verlor die Partei an alle anderen politischen Lager sowie ins Lager der Nichtwähler – mit Ausnahme der Linkspartei, von der es eine Netto-Wählerwanderung zur AfD in Höhe von 110.000 Zweitstimmen gab. Die meisten Wähler verlor die AfD mit 210.000 an die SPD, 170.000 an die Nichtwähler, 150.000 an die FDP, 120.000 an sonstige Parteien wie die „Freien Wähler“ oder „Die Basis“, je 60.000 an die Union und die Grünen.
Sarrazin als Wählerschreck?
Unter den sonstigen Parteien blieben die „Freien Wähler“ mit 2,4 Prozent deutlich unter der Fünf-Prozent-Hürde, die Tierschutzpartei kam auf 1,5 und die „Basis“ auf 1,4 Prozent. Wahlkampfkostenrückerstattung können dem amtlichen Endergebnis zufolge auch noch „Die Partei“ (1,0 Prozent) und möglicherweise auch das Team Todenhöfer beantragen, das bei genau 0,5 Prozent ausgewiesen wird.
In Berlin landete die neu gegründete Partei des Publizisten und Ex-CDU-Abgeordneten sowohl bei den Bundestags- als auch bei den Abgeordnetenhauswahlen noch vor den „Freien Wählern“, die in den Medien stärker präsent und Unterstützung von Prominenten wie Ex-Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin erhalten hatten. Dessen Support nützte auch Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen im Thüringer Wahlkreis 196 nicht: Dort behielt SPD-Kandidat Frank Ullrich deutlich die Oberhand.
Steinmeier wird Scholz zuerst mit Regierungsbildung beauftragen
Während die Gebiete des ehemaligen Preußen fast flächendeckend SPD-Mehrheiten aufweisen und zahlreiche Großstadtlagen und einige Stimmkreise in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein grün eingefärbt sind, kann sich die Union hauptsächlich im Süden und im Rheinland behaupten und der Südosten ist von hohen AfD-Stimmenanteilen gekennzeichnet. In Sachsen, wo die CDU bei jüngsten Umfragen für den Landtag deutlich vor der AfD gelegen hatte, dürfte auch die Spitzenkandidatur des umstrittenen Ost-Beauftragten Marco Wanderwitz einen Teil zur Niederlage der Christdemokraten beigetragen haben.
Es ist davon auszugehen, dass Bundespräsident Steinmeier zuerst Olaf Scholz als Chef der stimmenstärksten Partei mit der Bildung einer Regierung beauftragen wird. Ob dieser in der Lage sein wird, bis Weihnachten eine solche zu bilden, ist ungewiss. Bis zur Vereidigung eines neuen Kabinetts wird weiterhin Bundeskanzlerin Angela Merkel die Regierungsgeschäfte führen.
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