Russlands Truppen in der Ukraine: Invasion oder Überfall?
Am 24. Februar 2023 ist der Einmarsch der russischen Armee in die östlichen Landesteile der Ukraine genau ein Jahr her. Für viele markiert das Datum den Beginn des „Ukraine-Kriegs“. Andere meinen, dass der Krieg bereits viel früher begonnen habe – nämlich spätestens nach der Annexion der Krim durch russische Truppen am 18. März 2014. Das sieht jedenfalls die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg so.
Zwei wichtige Dinge änderten sich nach der Annexion der Krim durch Russland: Die EU verhängte andauernde Sanktionen gegen Moskau und Kiew fuhr unter dem neuen Präsidenten Petro Poroschenko fort, die prorussischen „Separatisten“ in den östlichen, russlandaffinen Donbass-„Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zu bekämpfen. Selbst nach Unterzeichnung des „Minsker Abkommens“ kehrte keine vollständige Waffenruhe ein.
Wie die NZZ berichtete, sollen nach Angaben des UNO-Menschenrechtsbüros OHCHR in den folgenden acht Jahren bis zu 14.000 Menschen auf beiden Seiten dem Bürgerkrieg zum Opfer gefallen sein, darunter rund 4.000 Zivilisten. Als am 23. Februar 2022 die „Separatisten“ in Luhansk und Donezk den russischen Präsidenten um Hilfe baten, ordnete Wladimir Putin am 24. Februar den Militäreinsatz an, der die Welt seitdem in Atem hält.
„Putins Überfall“?
In den westlichen Medien ist häufig zu hören, dass es sich um „Putins Überfall“ handele. Das ARD-Talkformat „hart aber fair“ vom 13. Februar 2023 mag hier nur als Beispiel dienen.
Doch egal, wie man zum Ukraine-Krieg auch stehen mag – die Verwendung des Begriffs „Überfall“ ist aus juristischer Sicht höchst fraglich. Laut „Juraforum.de“ bezeichnet das Wort im militärischen Kontext ein „Unternehmen“, das gegen einen „unvorbereiteten Gegner“ ausgeführt wird. Und genau dieser Tatbestand ist kritisch zu hinterfragen.
Minsker Abkommen verschaffte Ukraine Zeit zur Aufrüstung
Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte in einem am 7. Dezember 2022 erschienenen „Zeit“-Interview zugegeben, dass es schon bei Abschluss des „Minsker Friedensabkommens“ („Minsk II“) am 12. Februar 2015 weniger darum gegangen sei, die seit 2014/15 in der Ostukraine aufgeflammten Kampfhandlungen per Waffenstillstand zu befrieden. Das Hauptziel sei vielmehr gewesen, Zeit für die Ukraine zu gewinnen: „Es war uns allen klar, dass es sich um einen eingefrorenen Konflikt handelte, dass das Problem nicht gelöst war, aber genau das hat der Ukraine wertvolle Zeit verschafft“, erklärte Merkel. Die Ukraine habe „diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht“.
Der ehemalige französische Präsident François Hollande bestätigte Ende Dezember 2022, dass die Ukraine seit „Minsk II“ „ihre militärische Aufstellung gestärkt“ habe und „besser ausgebildet und ausgerüstet“ sei. „Es ist der Verdienst der Vereinbarungen von Minsk, der ukrainischen Armee diese Möglichkeit gegeben zu haben“, so Hollande in einem Artikel der Zeitung „Kyiv Independent“.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bereits am 24. Juni 2022 beim EU-Gipfel in Brüssel erklärt, dass er „Ende letzten Jahres“, also wohl im Dezember 2021, angefangen habe, über die „Konsequenzen des Krieges“ für die Energieversorgung nachzudenken und Deutschland „deshalb auch gut vorbereitet war, als der Krieg ausgebrochen ist“.
Stoltenberg: „Invasion war keine Überraschung“
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wurde am 13. Februar 2023, am Abend vor dem jüngsten Treffen der NATO-Verteidigungsminister, noch deutlicher. Nach Informationen der „Weltwoche“ und der „Berliner Zeitung“ räumte Stoltenberg ein, dass der russisch-ukrainische Krieg „nicht im Februar letzten Jahres“, sondern bereits 2014 begonnen habe.
„Tatsächlich hat die NATO seit 2014 die größte Verstärkung der kollektiven Verteidigung seit einer Generation durchgeführt“, unterstrich Stoltenberg die Rolle des nordatlantischen Militärbündnisses bei der Aufrüstung Kiews. „Wir haben die Kampftruppen im Jahr 2016 beschlossen. Und wir haben unsere Präsenz auch in den Monaten vor der Invasion verstärkt, denn die Invasion war keine Überraschung.“
Krieg im Interesse der angloamerikanischen Oligarchie?
Melchior Ibing, der Sprecher der Protestbewegung „München steht auf“ und Koordinator der Initiative „Macht Frieden“, sieht auch eine Mitschuld des Westens. Wladimir Putin habe bis Dezember 2021 immer wieder darum gebeten, international über eine Lösung für die Ukraine zu sprechen, sagte Ibing im „Kontrafunk“-Gespräch am 17. Februar 2023. Doch die USA hätten stets „abgelehnt, mit ihm darüber zu verhandeln“, stellte Ibing klar.
Die Fortsetzung des Krieges sei „sehr im Interesse der angloamerikanischen Oligarchie“. Diese nutze „gerne Angst, Not [und] Mitgefühl“ der Menschen aus, um dann wegen eines „Notstands“ neue Gesetze zu erlassen, meinte Ibing.
Eine lange Vorgeschichte
Auch die Frage, ob der Krieg schon im März 2014 mit der Krim-Eroberung durch Russland seinen Anfang nahm, wie die baden-württembergische Landeszentrale für politische Bildung annimmt, ist durchaus umstritten. Denn diesen militärischen Akt Moskaus werten viele auch als Reaktion auf den Revolutionswinter 2013/14 („Euromaidan“).
Zu den Protesten in Kiew war es gekommen, weil prowestliche Kräfte in der Ukraine nicht mehr mit dem 2010 gewählten prorussischen und EU-kritischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch einverstanden waren. Der lehnte eine Bindung seines Landes an EU und NATO ab. Doch nach der Revolution musste Janukowytsch im Februar 2014 aus dem Land fliehen. Seinen Platz nahm der prowestliche Oppositionsführer Petro Poroschenko ein – und unterzeichnete alsbald ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Ein Schritt, den die mehrheitlich russischstämmigen Menschen im Donbass mehrheitlich ablehnten. Und diese Haltung hatte ihren Ursprung abermals in anderen Konflikten, die bis in die Zeit des Kalten Krieges, womöglich sogar noch länger zurückreichen.
Geopolitische Dimensionen
Für den Russlandexperten Prof. Alexander Rahr etwa steht nur vordergründig die Ukraine im Mittelpunkt. „Tatsächlich geht es um die Ordnung in Europa seit 1990“, sagte Rahr im Gespräch mit der Epoch Times kurz nach der russischen Invasion:
Aus Sicht des Westens sollte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die neue Sicherheitsarchitektur für Europa und die Weltarchitektur unipolar sein. Das neue Europa sollte an liberalen Werten orientiert sein. Zudem sollte sie auf zwei Säulen aufgebaut sein: der NATO und der Europäischen Union – jedoch nicht auf der OSZE. Die OSZE wurde in den 1970er-Jahren geschaffen, um einen Kompromiss mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt zu finden. Die Organisation löste gemeinsame Sicherheitsprobleme, befasste sich mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und anderen kulturellen oder humanitären Fragen im Rahmen eines gemeinsamen Europas. Doch die OSZE wurde ausgeschaltet, weil die Amerikaner an ihr kein Interesse hatten. Sie haben die OSZE als eine Organisation angesehen, die man nicht mehr benötigte, die überholt war. Man nutzte den Moment, um Russland als Großmacht in Europa zu verhindern.
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