Parlament der Akademiker: Wen repräsentiert der Bundestag?
Im letzten Jahr veröffentlichten die beiden Autorinnen Anastasia Pyschny und Melanie Kintz in der „Zeitschrift für Parlamentsfragen“ einen Aufsatz unter dem Titel „Berufsstruktur des Deutschen Bundestages in der 20. Wahlperiode“. Sie kommen dabei zu einem Ergebnis, das aufhorchen lässt: Etwa 87 Prozent der Bundestagsabgeordneten haben einen Hochschulabschluss. In der Bevölkerung betrage diese Quote laut den Autoren allerdings nur 20 Prozent. Im Bundestag hätten hingegen nur 13 Prozent der Abgeordneten keinen akademischen Hintergrund. Das repräsentiert in keiner Weise die Zusammensetzung in der Bevölkerung.
Schaut man dann etwas genauer auf die Nichtakademiker im Bundestag, fällt ein weiterer Punkt auf: Arbeiter sind dort kaum zu finden. Laut dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes macht diese Berufsschicht in Deutschland aber 16,6 Prozent aus.
Auch Unternehmer sind im aktuellen Bundestag eine kaum wahrnehmbare Minderheit. Die „Tagesschau“ sprach im Oktober 2021 kurz nach der letzten Bundestagswahl davon, dass von 735 Abgeordneten nur 14 Unternehmer, – davon drei Frauen – vertreten sind. Ganze gesellschaftliche Gruppen, dies macht die Zusammensetzung deutlich, sind im Parlament unterrepräsentiert; der Bundestag ist kein Spiegel der Gesellschaft.
Juristen, Steuerberater und Beamte regieren uns
Die „Bild“ hat gestern einen Beitrag veröffentlicht, der das Missverhältnis im Bundestag bestätigt. Die Zeitung nahm dafür die Berufe der Abgeordneten unter die Lupe. Das Ergebnis: Wir werden von Juristen, Steuerberatern und Beamten regiert.
192 der 736 Bundestagsabgeordneten studierten Rechts- oder Staatswissenschaften, rund 30 Prozent arbeiteten im öffentlichen Dienst. Selbstständig im Handwerk, Gewerbe, Handel und Industrie sind nur 22 der 736 Abgeordneten. 13,7 Prozent der Abgeordneten waren selbstständig in rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden Berufen.
Experten und Politiker schlagen Alarm. Wegen der fehlenden Repräsentanz weiter Bevölkerungsschichten befürchten sie sogar gravierende Probleme für die Gesellschaft und das gesamte parlamentarische System. „Für die demokratische Willensbildung ist es gut, wenn alle Bevölkerungsgruppen im Parlament vertreten sind“, sagte Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, gegenüber der „Bild“. Er fordert daher für die Zukunft, dass mehr handwerkliche Berufe und mehr Unternehmer im Bundestag vertreten sind.
Prof. Dr. Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL), geht im gleichen „Bild“-Artikel noch einen Schritt weiter. Die „Interessen der hart arbeitenden Menschen“ würden im Bundestag „nicht berücksichtigt“. Als Folge sieht Engelhardt, dass die Kosten für Pendler und Lkw-Fahrer zu hoch seien.
In der Politik sieht man ebenfalls Probleme durch die Zusammensetzung des Bundestags. So bestätigt der FDP-Abgeordnete Manfred Todtenhausen das Missverhältnis. „Die geringe Zahl von Handwerkern und Unternehmern im Bundestag steht in keinem Vergleich zur Wirklichkeit. Der hohe Anteil von Juristen, Steuerberatern und Beamten im Bundestag bräuchte ein Gegengewicht, um die Balance wieder herzustellen“, sagt Todtenhausen. Der Politikwissenschaftler an der Universität Mainz, Professor Armin Schäfer, sieht das laut „Bild“ ähnlich. „Nicht-Akademiker könnten sich von diesem Bundestag nicht vertreten fühlen. Für die Demokratie in Deutschland ist das ein Problem.“ Die Lösung sieht Schäfer bei den Parteien. „Es liegt nun an den Parteien, den Zugang zum Parlament gerechter zu gestalten. Freiwillige Nicht-Akademiker-Quoten könnten die Sitzverteilung im Bundestag gerechter machen.“
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hermann Färber fordert ebenfalls gegenüber „Bild“: „Das Parlament sollte ein Spiegelbild der Gesellschaft sein. Insofern bin ich der Meinung, dass möglichst viele unterschiedliche Berufsbilder sowie Personen- und Altersgruppen als Abgeordnete im Bundestag vertreten sein sollten.“
Zweitstärkste Abgeordnetengruppe in Parteien oder NGOs gearbeitet
Eine Gruppe wird aber in dem Beitrag der „Bild“ nicht erwähnt: Menschen, die vor ihrer Wahl für politische und gesellschaftliche Organisationen gearbeitet haben. Unter diese Gruppe fallen Abgeordnete, die vorher beispielsweise für Parteien, Fraktionen, Gewerkschaften oder Arbeitnehmerorganisationen gearbeitet haben. Mit rund 22 Prozent aller Abgeordneten sind sie die zweitstärkste Gruppe hinter den Beamten (23,3 Prozent). Zu diesem Ergebnis kommen Pyschny und Kintz in ihrem Beitrag für die „Zeitschrift für Parlamentsfragen“.
Entscheidungen über Probleme, die sie nicht kennen
Das offensichtliche Missverhältnis zwischen Bevölkerung und Repräsentanz im Bundestag muss nicht zwangsläufig ein Problem sein. Schaut man auf die Zusammensetzung des Bundestags in den vergangenen Legislaturperioden, dann hat es diese Repräsentanz aller Teile der Gesellschaft nie gegeben. Trotzdem besteht die Gefahr, dass Abgeordnete über Dinge abstimmen, die sie aus eigener Erfahrung kaum kennen.
Das schreibt der Politwissenschaftler Armin Schäfer schon 2015 in einem Beitrag im „Jahrbuch des Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung“. Unter dem Titel „Die Akademikerrepublik: Kein Platz für Arbeiter und Geringgebildete im Bundestag?“ weist der Wissenschaftler auf die Gefahr hin, dass sich die Lebenswelten von Repräsentanten und Repräsentierten sich kaum mehr überlappen. Dann treffen die Abgeordneten Entscheidungen über Probleme, die sie selbst nur aus zweiter Hand kennen.
Auch die Wahlprogramme der Parteien könnten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die wenigsten Politiker aus eigener Erfahrung wissen, wie Betriebe ihre Auszubildenden behandeln, ob man wirklich von Sozialhilfe leben kann oder welche Hürden das Bildungssystem für Arbeiterkinder bereithält.
Stärkere Vertretung Unterrepräsentierter wirklich die Lösung?
Wäre eine zukünftig stärkere Vertretung der unterrepräsentierten Bevölkerungsschichten im Bundestag am Ende wirklich die Lösung? Eine Studie aus dem Jahr 2021 weckt Zweifel. Damals untersuchten Politikwissenschaftler der Universitäten Konstanz, Basel, Genf und Stuttgart unter der Leitung von Professor Christian Breuning, inwieweit Bundestagsabgeordnete, die zur Gruppe Frauen, Migranten oder Arbeiter gehören, sich für diese Gruppen einsetzen. Im Rahmen des Projektes „Politik der Ungleichheit“ ließ das Ergebnis aufhorchen.
Sie untersuchten Kleine und Große Anfragen im Bundestag aus anderthalb Jahrzehnten, die Abgeordnete aus benachteiligten Gruppen persönlich unterschrieben hatten. Insgesamt waren das 1.300 Bundestagsabgeordnete.
Anfangs setzten sie sich tatsächlich stark für die Belange ihrer Herkunftsgruppe ein. Nach ein bis zwei Legislaturperioden nahm dieses Engagement dann spürbar ab. Lediglich die weiblichen Bundestagsabgeordneten setzten sich dauerhaft für Frauenbelange ein. Die Forscher erklären in der Studie den Bruch mit Karriereüberlegungen und Notwendigkeit: Die Fraktionen benötigen auf Dauer Führungsnachwuchs, der sich über die Nischen hinaus qualifiziert. Dabei tritt dann schnell nach hinten, dass diese meistens erst den Abgeordneten ins Parlament gewählt haben. Irgendwann müsse man sich dann auf die klassischen Politikfelder, beispielsweise Finanz- oder Außenpolitik konzentrieren, wenn man innerhalb der Hierarchie in der Fraktion weiterkommen wolle.
„Prägende Mehrheit“ entscheidender als Spiegelung der Bevölkerung
Der emeritierte Soziologieprofessor Michael Hartmann gehört zu den führenden Eliteforschern in Europa. Im Oktober 2021 sagt er gegenüber dem „Tagesspiegel“, dass er eine exakte soziale Spiegelung der Bevölkerung im Parlament nicht für ausschlaggebend halte. Bis 1957 lag der Akademikeranteil zwar bei 45 Prozent und stieg dann kontinuierlich auf aktuell gut 87 Prozent. „Bezogen auf die Gesamtbevölkerung gab es bis Mitte der 60er-Jahre sogar noch mehr Akademiker im Bundestag als heute“, so Hartmann. „Damals lag die Quote in der erwachsenen Bevölkerung um drei Prozent, heute bei gut vierzehn.“
Entscheidender sei, so der Eliteforscher, was er als „prägende Mehrheit“ bezeichnet. „Früher hatten drei Viertel der Bevölkerung nur einen Volksschulabschluss, aber auch jeder vierte Abgeordnete. Volksschule und danach eine Lehre, das war auch im Bundestag normal. Heute haben immer noch knapp 30 Prozent der Bevölkerung einen Hauptschulabschluss. Im Parlament sind Hauptschüler aber praktisch nicht mehr vertreten. Normal ist dort nur noch der Hochschulbesuch.“
Drastisch sieht Hartmann das Problem der Repräsentation bei der abnehmenden Wahlbeteiligung. Vor allem diejenigen, die wenig oder nichts haben, sehen im Wählen keinen Sinn mehr und gehen nicht zur Wahl. Am Ende bekämen dadurch die Stimmen der Bessergestellten noch mehr Gewicht. Diese Ungleichheit könne der Demokratie schaden.
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