Palmer rät CDU in Thüringen zu Koalition mit AfD: „Ausprobieren, ob sie konstruktiv arbeiten kann“
Im Gespräch mit dem BR-Magazin „Kontrovers“ hat Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer der CDU in Thüringen zu einem Regierungsexperiment mit der AfD geraten.
Er erklärte, dass „noch so gute Kommunikation nichts nützt, wenn die falsche Politik betrieben“ werde. Dies sei jedoch in den vergangenen Jahren der Fall gewesen. Man habe die Migration nicht geordnet und dulde viele Menschen im Land, die keinen Asylanspruch hätten. Außerdem habe man so viele Personen aufgenommen, dass Situationen entstanden seien, die man als Bürgermeister einer Kommune nicht mehr erklären könne.
Der Anteil an Geflüchteten, die ohne Pass nach Deutschland kämen, liege immer noch bei 56 Prozent. Das seien zwar weniger als die 80 Prozent aus früheren Zeiten, aber nach wie vor Ausdruck der Überzeugung, ohne Identitätsausweis eine größere Bleibechance in Deutschland zu haben. Rückschiebungen scheiterten an der Weigerung von Staaten, diese wieder aufzunehmen. Staatliche Leistungen für Integration müssten entsprechend an einen Identitätsnachweis gekoppelt werden.
CDU müsse „legitime Forderungen“ der AfD-Wähler aufgreifen
Bereits nach den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg hatte Palmer die sogenannte Brandmauer für „gescheitert“ erklärt. Man müsse mit der AfD reden, so der OB. Gegenüber dem BR legte er nun nach.
„Man muss aufhören, sie zu beschimpfen, auszugrenzen und zu dämonisieren, weil das ihnen offenbar die Wähler zutreibt. Sonst wären die Wahlergebnisse im Osten nicht erklärbar.“
Die Union sei in der Pflicht, die „legitimen Forderungen“ von Wählern der AfD aufzugreifen – und die Mehrheit der Forderungen dieser Wähler sei legitim, etwa jene nach einer Ordnung der Migration. Außerdem müsse die Politik beweisen, dass der Wille zur Veränderung der eigenen Politik ernsthaft sei. Dies mache man nicht durch einen einzigen Abschiebeflug nach Afghanistan.
Es müsse vielmehr deutlich werden, dass Straftaten grundsätzlich ein Ende des Aufenthalts in Deutschland zur Folge hätten. Dann wäre auch eine Rückgewinnung vieler AfD-Wähler möglich:
„Also ein rationalerer Umgang mit dieser Partei wäre meine Empfehlung.“
Spezielle Situation in Thüringen als Chance
Palmer rät der Union sogar dazu, eine Einbindung der AfD in einem Bundesland wie Thüringen zu wagen – solange sie selbst das Amt des Ministerpräsidenten und des Innenministers behalte. Dann könne der AfD angeboten werden, „auszuprobieren, ob sie überhaupt in der Lage ist, sich konstruktiv an einer Regierung zu beteiligen“.
Dies biete sich insbesondere deshalb an, weil eine andere Regierung im Freistaat derzeit nicht in Sicht wäre:
„Man kann natürlich immer weiterwählen, aber das würde wohl eher der AfD nützen.“
Das Chaos rund um die Wahl des Landtagspräsidenten zeigt allerdings ein vergiftetes Verhältnis zwischen den Parteien. Dazu kommen zeitlich nicht weit zurückreichende Einordnungen führender Politiker der Union wie jene von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Dieser hatte 2023 erklärt, dass „jeder, der kein Nazi“ sei, in der AfD fehl am Platz sei. Die sogenannte Brandmauer gegen die AfD fällt insbesondere in Sachsen und Thüringen schwerer ins Gewicht, da die beiden Landesverbände der AfD vom Verfassungsschutz als „gesichert Rechtsextrem“ eingestuft werden.
Kritik an dieser Einstufung wird derweilen nicht nur von AfD und deren Umfeld geäußert. Denn der Verfassungsschutz unterliegt der Weisung der Innenministerien, welche wiederum parteipolitisch geführt werden. Diese Kritik äußert beispielsweise Mathias Brodkorb, ehemaliger SPDler und Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, in seinem Buch aus dem März 2024.
Österreich als Vorbild für Thüringen?
In Europa gibt es bereits Beispiele für die Einbindung von Rechtsaußenparteien in Regierungskoalitionen. Die meisten dieser Einbindungen brachten eine Abnahme der Zustimmungswerte der rechten Koalitionspartner mit sich. Als Oppositionsparteien konnten sie demgegenüber ihre Stimmenanteile meist ausbauen.
In Österreich hatte 1999 die FPÖ bei der Nationalratswahl mit 26,9 Prozent und einem Vorsprung von 415 Stimmen auf die ÖVP den zweiten Platz belegt. Die Bürgerlich-Konservativen unter Wolfgang Schüssel traten mit dieser Anfang des Jahres 2000 in eine Koalition ein, die sogar vorübergehende EU-Sanktionen zur Folge hatte.
Die schwarz-blaue Koalition setzte einige Reformen um. Zu den im Kern bis heute erhaltenen Weichenstellungen gehörte dabei eine Neugestaltung der Kinderbeihilfe, die vor allem in den ersten drei Lebensjahren deutlich ausgebaut wurde. Neuerungen gab es auch im Arbeitsrecht und bei der Rente – diese stießen allerdings auf erheblichen Widerstand bei den Gewerkschaften.
FPÖ nach fünf Jahren der Koalition unter vier Prozent
Mit ihrem Regierungseintritt war der politische Höhenflug der FPÖ gestoppt. Bei den ersten Landtagswahlen im Herbst des Jahres 2000 in der Steiermark und im Burgenland verlor die Partei bis zu 4,7 Prozentpunkte. Im Jahr 2001 büßte sie bei der Wiener Gemeinderatswahl sogar 7,8 Prozentpunkte ein.
Jörg Haider, seit Beginn der Koalition nicht mehr Parteichef, sondern „einfaches Parteimitglied“ und Landeshauptmann in Kärnten, begann, sein Regierungsteam unter Druck zu setzen. Die geplante Verschiebung einer Steuerreform hatte einen Aufstand der Parteibasis beim „Knittelfelder Treffen“ zur Folge. Dieser führte zum Rücktritt mehrerer Minister und zu Neuwahlen, bei denen die FPÖ auf 10,01 Prozent der Stimmen abstürzte.
Es schloss sich eine weitere Koalition Schüssels mit einer geschwächten FPÖ an, die 2005 sogar zur Parteispaltung führte. Die Partei fiel in Umfragen phasenweise auf unter vier Prozent. Erst die Übernahme durch Heinz-Christian Strache und den damaligen Generalsekretär Herbert Kickl und die Neuauflage der Großen Koalition im Jahr 2006 konnten die Partei wieder stabilisieren. In der Migrationspolitik, die seit 1986 stets ein zentrales Thema der FPÖ gewesen war, gab es lediglich 2005 mit dem „Fremdenrechtspaket“ eine größere Reform – die mithilfe der oppositionellen Sozialdemokraten durchgesetzt wurde.
Regierungsbeteiligungen in Dänemark und Schweden
Ähnliche Erfahrungen machten etablierte Parteien auch in Dänemark mit der Dänischen Volkspartei. Diese stützte von 2001 bis 2011 Mitte-Rechts-Regierungen – und stagnierte in dieser Zeit in der Wählergunst. Im Jahr 2015 erlebte sie nach Jahren der Opposition einen neuen Aufschwung und erzielte mehr als 22 Prozent der Stimmen, um 2019 nach einer erneuten Einbindung in die Regierung einen Komplettabsturz zu erleben. Bei den Parlamentswahlen 2022 erzielte die Partei nur noch 2,6 Prozent.
Die Schweden haben seit der Reichstagswahl 2022 eine Mitte-Rechts-Regierung in Stockholm. Bei den EU-Wahlen im Juni 2024 erzielten sie weniger als die Hälfte der Stimmen, die sie zwei Jahre zuvor auf nationaler Ebene erhalten hatten. In den Niederlanden duldete die PVV von Geert Wilders 2010 eine Regierungskoalition, verlor jedoch bei den Kammerwahlen 2012 deutlich an Stimmen und blieb auch 2017 unter dem Ergebnis von sieben Jahren zuvor.
Im Ergebnis zeigen diese Erfahrungen, dass Regierungsbeteiligungen häufig eine Überforderung von Rechtsaußenparteien darstellen. Häufig haben sie interne Machtkämpfe zur Folge, weil die Minister nicht in der Lage sind, die Erwartungen der Basis und der Wähler vollständig zu erfüllen. Vor allem zeigen sie sich meist außerstande, ihre radikalsten Forderungen in einer Regierung durchzusetzen. Allerdings tragen Regierungsbeteiligungen auch zur Stabilisierung innerhalb des Parteienspektrums bei.
„Brandmauer“ in vielen Fällen gescheitert
Demgegenüber haben sich strikte Cordon-Sanitaire-Ansätze mit sogenannter „Brandmauer“ nur bedingt als wirksam erwiesen. In Deutschland verschwanden vorübergehend erfolgreiche Rechtsaußenparteien wie NPD, DVU oder Republikaner in der Bedeutungslosigkeit. In den Niederlanden konnten sich Parteien wie die Centrum-Demokraterne nicht etablieren, in Großbritannien verschwand die British National Party (BNP) schon nach kurzer Zeit wieder aus den Parlamenten.
Keinen dauerhaften Effekt hatte die Ausgrenzungspolitik hingegen in den Fällen des Front National, der Schwedendemokraten oder des Vlaams Blok – später Vlaams Belang. Sie alle sind mittlerweile fester Bestandteil des Parteienspektrums ihres Landes. Der italienische MSI galt sogar über Jahrzehnte hinweg als außerhalb des Verfassungsbogens stehend. Seine Nachfolgeparteien Alleanza Nazionale und Fratelli d’Italia konnten sich hingegen als Regierungsparteien etablieren.
Die sogenannten Basisfinnen stellen einen Sonderfall dar: Sie erlebten als seit 2015 mitregierende Partei 2017 eine Parteispaltung. Allerdings blieben ihre Wahlergebnisse seit 2011 stabil zwischen 17 und 21 Prozent.
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