NATO-Raketen für Angriff auf Russland: Putin warnt, Pistorius gibt sich unbeteiligt
Der vergangene Freitag, der Dreizehnte, erinnert frappant an den kalten 22. Dezember 1941. Damals landete ein Flugzeug mit Winston Churchill an Bord in Washington, D.C.
Der britische Premierminister war gekommen, um mit dem US-Präsident Franklin D. Roosevelt zu besprechen, wie Großbritannien und die Vereinigten Staaten ihre Weltkriegsstrategie am besten koordinieren könnten.
Wie 1941: Treffen in Washington
Genau dies scheint jetzt wieder der Fall zu sein, fast eins zu eins. Der britische Premierminister Sir Keir Starmer (Labour-Partei, politisch links) sowie sein Außenminister David Lammy starteten am Freitag, 13. September, einen Flug nach Washington, um sich mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden (Partei der Demokraten) zu beraten.
Laut dem englischen Staatsfernsehsender BBC sei das Ziel der Gespräche, eine bilaterale Abstimmung über die Frage zu erreichen, ob die der Ukraine von beiden Ländern zur Verfügung gestellten Raketensysteme für Angriffe auf russisches Territorium freigegeben werden.
Bislang galt als Konsens unter allen NATO-Partnern, dass die Ukraine das aus dem Westen gelieferte militärische Material ausschließlich zur Bekämpfung der russischen Invasoren im eigenen Land benutzen dürfe. Die NATO befürchtete bisher, andernfalls könnte dies in Moskau als Provokation verstanden werden und infolgedessen die NATO-Mitgliedsländer in den Konflikt direkt hineinziehen.
Dem möglichen Sinneswandel der amerikanischen und britischen Regierung liegt laut BBC vom 12. September folgende Überlegung zugrunde: Der Winter naht, die Energieversorgung der Ukraine ist durch russische Angriffe schwer angeschlagen.
Ukrainer werden entweder frieren oder in den Westen fliehen. Zudem habe Russland laut amerikanischer Satellitenaufklärung aus dem Iran ballistische Kurzstreckenraketen erhalten. Dies berichtete US-Außenminister Antony Blinken am 10. September.
Es handle sich um Raketen des Typs Fatah-360, die nach Blinkens Worten „wahrscheinlich innerhalb weniger Wochen in der Ukraine gegen Ukrainer einsetzen werden“.
Fatah-360 hat eine Reichweite von bis zu 120 Kilometern und kann eine Sprengladung von 150 Kilogramm transportieren. Sie wäre in der Lage, ukrainische Frontpositionen aus beträchtlicher Entfernung anzugreifen. Zudem wäre sie schwer abzufangen.
Das Washingtoner Institute for the Study of War (ISW) schätzt, dass „russische Streitkräfte in den kommenden Monaten wahrscheinlich die von Iran gelieferten Raketen einsetzen werden, um ukrainische Energie-, Militär- und zivile Infrastruktur anzugreifen“.
Kamala Harris duckt sich weg
Von der englischen Presse darauf angesprochen, ob auch die Vizepräsidentin und demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris an den Beratungen teilnehmen werde, gab Premier Starmer bekannt: „Nein. Sie wird nicht in Washington, sondern in anderen Teilen der USA unterwegs sein.“
Damit steht die Frage im Raum, ob Kamala Harris vermeiden will, für die weitreichende Entscheidung, die eine Eskalation mit Russland auslösen könnte, mitverantwortlich gemacht zu werden. Diese „Vermeidungsstrategie“ hatte sie bereits Ende Juli praktiziert, als der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nach Washington kam, um über seine Sicht zum Gaza-Krieg zu informieren.
Harris bevorzugte es damals, auf Wahlkampftour zu gehen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ warf ihr daraufhin vor, sie buhle lieber um arabische Wähler.
Pistorius: „Dies ist ihre Sache“
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) glaubt indes, dass dies alles Deutschland nichts angehe. Laut der Nachrichtenagentur AFP kommentierte er am Freitag in Berlin das Ansinnen Großbritanniens und der USA mit den Worten, es stehe diesen frei, „dies mit Blick auf die von ihnen gelieferten Waffen so zu entscheiden“. Dies sei ihre Sache.
„Das Völkerrecht lässt das zu“, gab sich Pistorius selbstsicher. Die Warnung Putins, dass sich die NATO in solch einem Fall im Krieg mit Russland befände, nahm Pistorius offensichtlich auf die leichte Schulter: Laut der französischen Nachrichtenagentur AFP bemerkte der deutsche Verteidigungsminister dazu: „Er droht, wann immer es ihm beliebt, und lockt, wann immer er es für richtig hält.“
Putin habe bereits in den vergangenen Jahren immer wieder gedroht. Dessen Ziel sei es, westliche Staaten einzuschüchtern und von der Unterstützung der Ukraine abzubringen.
Um diese Raketen geht es
Ganz neu ist die Diskussion nicht, denn es wurden bereits in den USA hergestellte Kurzstreckenraketen vom ukrainischen Militär gegen Ziele innerhalb Russlands eingesetzt. Jedoch nur auf eine Entfernung von etwa 60 bis 80 Kilometer. Die nun zur Entscheidung anstehenden Raketensysteme sind zum einen „Storm Shadow“ aus englisch-französischer Produktion.
Dieser Marschflugkörper könnte Ziele bis zu 250 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt angreifen. Die Franzosen nennen diesen Raketentyp „Scalp“ (Kopfhaut). Er wird von Flugzeugen aus gestartet, fliegt mit nahezu Schallgeschwindigkeit und passt sich an das Gelände an.
Storm Shadow gilt als ideale Waffe, um in Bunker und Munitionslager einzudringen. Da jede Rakete fast eine Million Dollar (902.370 Euro) kostet, bedarf es sorgfältiger Planung. Meist werden billige Drohnen vorausgeschickt, um die russische Luftverteidigung abzulenken.
„Letztlich ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Storm Shadow das Blatt wenden wird“, schätzt Matthew Savill, Direktor für Militärische Wissenschaft am „Royal United Services Institute for Defence and Security Studies“ in London, die Wirkung der Rakete in der britischen Presse ein.
Gleiches dürfte für das amerikanische Kurzstreckenraketensystem ATACMS gelten, das über eine Reichweite von 300 Kilometer verfügt. Wozu also dann die ganze Aufregung?
Wo genau ist Putins rote Linie?
Schritt für Schritt begibt sich die NATO immer tiefer in das politische und militärische Minenfeld des Krieges in der Ukraine. Deutschland etwa begann am 25. Februar 2022, einen Tag nach dem russischen Überfall, mit der Lieferung von 5.000 Helmen für das ukrainische Militär.
Dies sorgte international für Spott, zumal das „Schutzmaterial“ (Sprachgebrauch des Bundesverteidigungsministeriums) wegen der laufenden Kämpfe vorsichtshalber außerhalb der Ukraine übergeben wurde.
Mittlerweile sind Lieferung von Panzern, Raketen, Flugzeugen selbstverständlich. Bleibt nur die Frage: Ab wann ist die NATO-Unterstützung der Ukraine für Putin zu viel? Wo genau zieht er seine rote Linie und schlägt mit einem Angriff gegen die NATO zurück? Und gegen wen? Polen und Deutschland stehen an der „NATO-Ostflanke“ ziemlich weit vorne. England nicht, die USA ist jenseits des Atlantiks weit weg.
Ein Angriff auf das russische Staatsgebiet mit westlichen Langstreckenraketen würde den Konflikt „auf eine neue Ebene heben“, gab Putin am Donnerstag in St. Petersburg bekannt. Er warnte zudem, dass Russland mit den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten „im Krieg“ sein würde, wenn diese die Beschränkungen für den Einsatz westlicher Langstreckenwaffen für die Ukraine aufheben würden.
Mit anderen Worten: Sollten Großbritannien und die USA im Alleingang entscheiden, der Ukraine eine Carte Blanche für die Nutzung der genannten Raketensysteme zu erteilen, wäre Deutschland dennoch ein Angriffsziel Russlands.
Es ist indes unwahrscheinlich, dass London und Washington solch einen folgenreichen Schritt unternehmen, ohne zuvor alle NATO-Staaten zu konsultieren. Aus britischen diplomatischen Kreisen war zu erfahren, dass keine solche Entscheidung vor der jährlichen UNO-Generalversammlung gefällt würde.
Diese trifft sich vom 24. bis 30. September in New York. Eine erste Reaktion Russlands erfolgte jedoch bereits am Freitag: Moskau entzog sechs britischen Diplomaten die Akkreditierung und warf ihnen „subversive Aktivitäten“ und eine Bedrohung der Sicherheit Russlands vor.
Risiko: Eskalation oder Stopp?
Der ehemalige US-Präsident und erneute Präsidentschaftskandidat Donald Trump hatte vergangenen Dienstagabend in seiner Fernsehdebatte mit der Kandidatin der Demokraten, Kamala Harris, zu bedenken gegeben, dass Putin über Atomwaffen verfüge.
Darüber würde in den USA nie jemand reden. Vielleicht aber würde er sie „irgendwann“ benutzen. Wenn der Ukraine-Krieg nicht beendet würde, „könnte es zum Dritten Weltkrieg führen“, warnte Trump. Dieser Hinweis fand sich in kaum einem Medium diesseits und jenseits des Atlantiks wieder.
Zwei Tage später beherrscht die russische Warnung weltweit die Schlagzeilen. Die westlichen Staats- und Regierungschefs müssen bald entscheiden, was ihrer Meinung nach wichtiger ist: das kollektive Risiko einer Eskalation hinzunehmen oder die Unterstützung der Ukraine einzuschränken.
Über den Autor:
Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C., und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times.
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