NATO in der Ukraine: Was bekannt ist und was ansteht
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat bei seinem gestrigen Staatsbesuch in Kiew dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unmissverständlich erklärt: „Ein Waffenstillstand, geknüpft an eine Frist, würde eine Chance eröffnen, Friedensgespräche zu beschleunigen. Ich habe diese Möglichkeit mit dem Präsidenten erörtert“, sagte Orbán vor der Presse. Er gab aber auch zu verstehen, dass sich Selenskyj auf diesen Vorschlag nicht eingelassen habe.
Seit drei Wochen geht die ungarische Regierung mit ihrer Besorgnis aktiv in die Öffentlichkeit. Mitte Juni warnte Außenminister Szijjártó in der Sendung Vasárnapi újság von Radio Kossuth: „In Europa und im Nordatlantischen Bündnis wird eine Art Weltkrieg vorbereitet.“
Viele europäische Entscheidungsträger der NATO würden „an einer Kriegspsychose leiden und das Gefühl haben, dass sie sich im Krieg mit Russland befinden“, kritisierte Szijjártó.
Vor der ungarischen Presse erläuterte er am 12. Juni: Die NATO bereite eine Mission in Bezug auf die Ukraine vor, die Ungarn für „gefährlich und unnötig“ hält. Das wichtigste Ziel und die wichtigste Aufgabe der ungarischen Regierung bestehe darin, eine Garantie dafür zu erhalten, dass ungarische Truppen nicht zur Teilnahme an der geplanten Mission gezwungen würden.“
Pläne seit Mai bekannt
„Während Russland vorrückt, erwägt die NATO die Entsendung von Ausbildern in die Ukraine“, titelte am 16. Mai die „New York Times“ (NYT). Auch die einflussreiche amerikanische Tageszeitung weiß, dass der Begriff „Ausbilder“ dehnbar ist und damit auch Kampftruppen gemeint sein können.
Und so beklagte sie: „Der Schritt könnte die Vereinigten Staaten und Europa direkter in den Krieg hineinziehen.“ Der Mangel an ukrainischen Soldaten habe „einen kritischen Punkt erreicht“. Die Lage der Ukrainer auf dem Schlachtfeld habe sich „in den letzten Wochen erheblich verschlechtert“, zitiert die NYT den US-Generalstabschef General Charles Q. Brown.
Ein NATO-Einsatz von „Ausbildern“ in der Ukraine sei deshalb „unvermeidlich“. „Mit der Zeit werden wir dort ankommen“, so General Brown.
Bereits im Februar hatte der französische Präsident Emmanuel Macron gefordert, die NATO solle die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine in Erwägung ziehen. Damals erhob sich umgehend Empörung in Berlin. Mittlerweile haben sich Kanada, Litauen, die Niederlande, Estland und Polen dieser Forderung angeschlossen.
Scholz mit erstem Hinweis
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) war der erste NATO-Staatsmann, der Anfang März ungefragt zugab, dass bereits seit längerem Soldaten von NATO-Staaten – namentlich nannte er Großbritannien und Frankreich – in der Ukraine an Operationen beteiligt seien.
Scholz äußerte sich im Zuge des bekannt gewordenen russischen Abhörskandals: Drei hochrangige deutsche Offiziere, darunter der Chef der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, telefonierten fahrlässig über eine ungeschützte Leitung. Dieses Gespräch wurde vom russischen Geheimdienst abgefangen, aufgezeichnet und veröffentlicht.
Gerhartz erzählte am Telefon über die Ukraine, „die Briten haben ein paar Leute vor Ort“. Scholz wollte daraufhin seinen Luftwaffen-Chef verteidigen und ritt sich damit selbst in die Kritik. Sicherheitsexperten im Londoner Parlament ärgerten sich über diese deutsche Information und warfen dem deutschen Kanzler „Geheimnisverrat“ vor.
„Damit hat Scholz ungewollt dazu beigetragen, das Tabu der Präsenz von NATO-Kräften in der Ukraine zu brechen“, stellte Francois Heisbourg vom Londoner Institut für Strategische Studien (IISS) am 12. März in der „Berliner Morgenpost“ fest.
Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski bestätigte nach dem Leak von Scholz, dass westliche Soldaten in der Ukraine operierten. Dies sei ein offenes Geheimnis, sagte Sikorski in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur am 20. März.
Dokumente zu NATO-Präsenz geleakt
Hinzu kam im April die an die Presse geleakte Veröffentlichung eines US-Geheimpapiers, aus dem ebenfalls hervorgeht, dass Spezialkräfte aus fünf NATO-Staaten in der Ukraine tätig seien. Deutschland wurde nicht genannt. Aber eine Bundestagsmeldung vom 2. April, die sich auf eine Anfrage von AfD-Bundestagsabgeordneten aus dem März bezieht, macht stutzig.
„Deutschland hat in der Ukraine keine Einsatzkräfte der Bundeswehr stationiert“, heißt es dort. Keine regulären Einsatzkräfte – das stimmt wohl. Aber was ist mit Spezialkräften, wie etwa die Kommandosoldaten des KSK in Calw? Diese werden in der Regel (mit Ausnahme Afghanistan) nirgendwo im Ausland „stationiert“ – also über einen längeren Zeitraum in einem festen Camp im Ausland untergebracht.
Ihr klassischer Auftrag lautet vielmehr, für eine kurze Zeitspanne eine Operation durchzuführen und danach schnellstmöglich nach Calw zurückzukehren. Die Bundesregierung hat möglicherweise unter Bedienung des Wortes „stationiert“ mit dieser sprachlichen Wendung versucht, nicht die Unwahrheit zu sagen.
NATO-Stützpunkt in Kiew
Die NATO richtet jedoch demnächst ganz offiziell einen „Stützpunkt“ in Kiew ein. Dies berichtete am 1. Juli das „Wall Street Journal“ (WSJ) unter Berufung auf nicht näher genannte amerikanische Regierungsbeamte.
Das Militärbündnis werde zunächst einen „hochrangigen zivilen Beamten in Kiew stationieren“, berichtete das New Yorker Blatt weiter. Dieser Schritt soll Teil „einer Reihe neuer Maßnahmen zur Stärkung der langfristigen Unterstützung für die Ukraine“ sein und werde nächste Woche auf dem NATO-Gipfel, der vom 9. – 11. Juli in Washington zusammenkommt, offiziell mitgeteilt.
Die NATO hat zudem bekanntgegeben, dass sie ein neues Kommando in Wiesbaden einrichten werde, um von dort aus die Lieferung von Waffen und Ausrüstung für die Ukraine sowie die Ausbildung von ukrainischen Soldaten zu koordinieren.
Die Aufgabe des NATO-Beamten in Kiew würde dem WSJ-Bericht zufolge darin bestehen, als „Bindeglied zwischen dem Stützpunkt in Wiesbaden und der Ukraine“ zu fungieren. Außerdem soll er dazu beitragen, das ukrainische Militär an NATO-Standards heranzuführen.
Über den Autor:
Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C. und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times.
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