In der SPD brodelt es nach katastrophaler Europawahl

Der verheerende Ausgang der Europawahl hat die SPD in eine schwere Krise gestürzt. Kanzler Olaf Scholz steht wegen seines Umgangs mit dem Debakel unter heftiger Kritik. Innerparteilich wächst der Unmut. Die Forderungen nach klaren Lösungen und einem Kurswechsel werden lauter. Selbst ein Bruch der Ampel wird nicht mehr ausgeschlossen.
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Nach dem schlechten Ergebnis bei der Europawahl gerät Bundeskanzler Scholz unter Druck.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 19. Juni 2024

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Der Wahlsonntag 9. Juni zur Europawahl war für die SPD ein Desaster: Nur 13,9 Prozent der Wähler stimmten für die Sozialdemokraten. Gerade ein Siebtel der Wahlberechtigten versammelte sich um den Kanzler, der neben der Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley im Mittelpunkt der SPD-Kampagne stand.

In so einer Situation hätten sich am Abend nicht nur Journalisten eine Antwort darauf erwartet, wie Olaf Scholz die Wahlkatastrophe bewertet. Wie der „Spiegel“ schreibt, ist der Kanzler allerdings recht kurz angebunden. Von Journalisten bekommt er die Frage gestellt, ob er das Ergebnis kommentieren wolle. Scholz‘ Antwort ist mit „Nö“ kurz und bündig.

Auch im ARD-Interview mit dem Leiter des ARD-Hauptstadtstudios Markus Preiß, das dieser kurz vor seiner Abreise vom G7-Gipfel in Italien mit dem Kanzler führte, fiel die Antwort knapp aus. Als Scholz gefragt wird, ob er sich sicher sei, bei der nächsten Bundestagswahl der Kanzlerkandidat seiner Partei zu sein, sagt er „Ja“ und schweigt dann. 

Das Problem, so Scholz, liegt an der Vermittlung der Politik gegenüber dem Bürger: „Es muss ja auch so sein, dass das alle mitbekommen und verstehen.“ Und, über die Ampel: „Es gelingt nicht, dass alle sich am Riemen reißen.“ Zu oft würden die Beschlüsse überlagert: „Manchmal kann man dann hinter dem Pulverdampf gar nicht erkennen, was da entschieden ist“, so der Kanzler.

Unmut in der SPD

Am Montag, 10. Juni, bekommt der Kanzler auf der Pressekonferenz noch einmal die Frage nach einem Kommentar zum Wahldebakel gestellt. Scholz antwortet, es gehe jetzt darum, „dass wir unsere Arbeit machen, dass unser Land modern wird, dass es vorankommt und im Übrigen, sich darauf vorzubereiten, dass die Zustimmung immer größer wird.“

Wie das „Handelsblatt“ schreibt, wächst in der Partei der Unmut über den Umgang mit dem Ergebnis der SPD bei der Europawahl. „Die letzten Tage zeigen, dass es keine Einigkeit in der Partei gibt, wie es jetzt weitergehen soll“, zitiert das „Handelsblatt“ SPD-Vorstandsmitglied Sebastian Roloff. 

Auch auf der vertraulichen Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion am Dienstag nach der Europawahl soll es sehr deutliche Kritik an Scholz gegeben haben. Das „Handelsblatt“ schreibt, dass Berlins früherer Regierender Bürgermeister Michael Müller in Richtung des Kanzlers kritisiert habe, dass Scholz am Wahlabend den Wahlausgang gegenüber Journalisten nicht kommentieren wollte.

Müller warf dem Kanzler weiter widersprüchliche Aussagen am Ende des Wahlkampfes vor: Man könne keinen Friedenswahlkampf machen und gleichzeitig erlauben, dass die Ukraine mit deutschen Waffen Ziele in Russland angreife. Das sagte der Abgeordnete nach Angaben von Sitzungsteilnehmern, wie das „Handelsblatt“ weiter schreibt.

Wie auch der „Tagesspiegel“ schreibt, hatten die 207 SPD-Abgeordneten am Dienstag Lösungen für die Misere erwartet. Sie hatten bei ihrem Treffen mit dem Kanzler wenigstens auf einen Hoffnungsschimmer gesetzt.

Olaf Scholz versucht an diesem Tag, eine Parallele zwischen Ausdauer beim Joggen und der Geduld zu ziehen, die in der politischen Arbeit erforderlich ist.

Einige Abgeordnete verlassen den Raum. Selbst diejenigen, die nie ein schlechtes Wort über den Kanzler verloren haben, murren.

Scholz‘ Botschaft an seine Fraktion lautet erneut: Ruhe bewahren. Wenn der Haushalt für 2025 erst einmal steht und die Wirtschaft wächst, werde sich alles fügen. Jetzt aber müsse man erst einmal „schwitzen“, sagt der Kanzler wörtlich, also: sparen. 

Kanzler „Teil des Problems“

„Scholz ist Teil des Problems, nicht der Lösung“, sagt ein langjähriger Abgeordneter. Solche Aussagen hört man parteiübergreifend, nicht nur von Hinterbänklern, Unzufriedenen oder Risikofreudigen, sondern auch von führenden Politikern.

Eine weitere Neuheit: Die SPD beginnt, sich gedanklich von der Ampelkoalition zu lösen. In der Krisensitzung im Otto-Wels-Saal fragt ein Abgeordneter nach einem „Plan B“. Worte wie Neuwahlen und Vertrauensfrage machen im Parlament, wie der „Tagesspiegel“ schreibt, die Runde.

Dachte man, dass mit dem Ergebnis von 15,8 Prozent bei der Europawahl 2019 der Tiefpunkt der Partei erreicht war, zeigte das Ergebnis fünf Jahre später, dass es noch tiefer gehen kann. Nun sind heftige Debatten in der SPD ausgebrochen, die sich bis in die Parteispitze hineintragen.

Generalsekretär Kevin Kühnert zählt inzwischen, wie „Bild“ berichtet, zu den schärfsten Kritikern der Ampelkoalition. Einen Tag nach der Wahl sprach Kühnert auf der Pressekonferenz in der SPD-Parteizentrale davon, dass die Ampel ganze Teile der Gesellschaft verloren habe. „Die Wahrnehmung der Koalition ist bewertet worden“, so Kevin Kühnert weiter. Er lästere laut „Bild“ in diskreten Gesprächen über die Regierungskoalition und schließe ihr Platzen nicht mehr aus. 

Sozialdemokratische Handschrift fehlt

Am vergangenen Sonntag prasselte dann heftige Kritik aus den eigenen Reihen auf Scholz ein. Die linke SPD-Gruppierung Forum DL21 gab bekannt, dass sie ein Mitgliederbegehren über den Haushalt 2025 nach vorn bringen möchte. In einer Pressemitteilung heißt es dazu: 

„Aus Sicht der DL21 muss die SPD wieder glaubwürdiger für soziale Gerechtigkeit einstehen und einen Kurswechsel in der Ampel einleiten. Um dieses Ziel zu erreichen, will die DL21 die Partei-Mitglieder stärker für Diskussionen um die Regierungspolitik und die inhaltliche Ausrichtung der Partei mobilisieren. Hierfür wird die DL21 unter anderem ein Mitgliederbegehren für einen Bundeshaushalt 2025 einleiten, der eine sozialdemokratische Handschrift trägt.“

„Am nächsten Bundeshaushalt können wir sehr grundsätzlich diskutieren, ob sich die Sozialdemokratie gerade in den heutigen Zeiten an Austeritätspolitik beteiligen sollte. Wir halten das für den falschen Weg“, wird der Co-Vorsitzende der DL21, der Bundestagsabgeordnete Jan Dieren, zitiert.

Der Bundestagsabgeordnete Erik von Malottki, ebenfalls Co-Vorsitzender des Zusammenschlusses, ergänzt:

Wir brauchen einen Kurswechsel in der Regierungspolitik. Im Fokus müssen sozialdemokratische Kernbereiche wie Soziales, Bildung, Gesundheit und Familie stehen. Hier dürfen auf keinen Fall Kürzungen stattfinden. Stattdessen benötigen wir Investitionen in diese Bereiche, unsere Infrastruktur und in bezahlbares Wohnen.“

Diskussion zur Unzeit

Für Olaf Scholz dürfte die nun in seiner Partei losgetretene Diskussion zu einer Unzeit kommen. Ursprünglich, so der Plan der Ampel, soll der Haushaltsplan am 3. Juli stehen. Anschließend soll es noch ein paar Tage Puffer bis zum NATO-Gipfel am 9. Juli in Washington geben. In dieser Zeit sollen die Kleinigkeiten dann ressortübergreifend noch einmal glatt gezogen werden, wenn notwendig. Eine Mitgliederbefragung in der SPD dürfte den Zeitplan aus den Angeln heben. 

Für ein Mitgliederbegehren benötigt die DL21 im ersten Schritt knapp 4.000 Unterstützer aus zehn Unterbezirken. DL21-Chef Dieren will in die Verhandlungen von Scholz mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) direkt einwirken. „In diesen Zeiten einen zweistelligen Milliardenbetrag einzusparen, wäre katastrophal. Das würde viele Bereiche der sozialen Infrastruktur zerstören“, so der DL21-Co-Vorsitzende.

„Nö“ wird nicht reichen

Allerdings gehen die Linksausleger in der SPD nicht nur mit Bundeskanzler Scholz hart ins Gericht. Auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert gerät in die Kritik. Die Aufarbeitung der Wahlniederlage dürfe nicht nur dem Parteipräsidium überlassen werden, heißt es. 

In der letzten Woche meldete sich dann auch die Opposition zu Wort. Per Rundmail an die CDU-Mitglieder, die der Redaktion vorliegt, bot CDU-Chef Friedrich Merz eine Kooperation an. „Wir bieten den Sozialdemokraten ausdrücklich an, bei den notwendigen Entscheidungen mitzuwirken und gemeinsam nach Lösungen zu suchen“, schreibt Merz.

Ziel sei ein „grundlegender Politikwechsel“. Der CDU-Chef forderte „vor allem die SPD“ auf, sie dürfe sich nicht allein „die nächsten 15 Monate durchwurschteln“. Und eine Spitze in Richtung Kanzler: Als Erklärung für den Wahltag werde ein „Nö“ nicht reichen.



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