Durchbruch oder Abbruch? Verhandlungen über Ampel-Koalition werden zähflüssiger
Ob die Koalitionsparteien in spe SPD, Grüne und FDP tatsächlich in der Lage sein werden, ihre Ankündigung von einem fertigen neuen Regierungsteam noch vor dem Nikolaustag wahr zu machen, ist nach wie vor unsicher. Dass aus den Reihen der Ampel-Verhandler kaum verlässliche Informationen über den Verlauf der Gespräche nach außen dringen, spricht für Ernsthaftigkeit und Disziplin unter den Beteiligten – und damit etwas, was 2017 im Umfeld der Jamaika-Gespräche in entscheidender Weise gefehlt hatte.
Auf der anderen Seite wissen die Parteien, was für sie auf dem Spiel steht und dass ein zu weites Einknicken an der falschen Stelle die Etappengewinne, die man bei der Bundestagswahl einfahren konnte, schneller und nachhaltiger zunichtemachen könnte, als es allen Beteiligten lieb wäre. Die Erinnerungen an das Schicksal der FDP von 2013 und den von Olaf Scholz nur auf halbem Wege wieder gutgemachten Niedergang der SPD in der Zeit von 2005 bis noch weit in den Frühling 2021 hinein sind nach wie vor zu frisch.
„Neuwahl“-Drohung zeigt: Grüne halten an Maximalforderungen fest
Gleichzeitig zeigen sich die Grünen entschlossen, den Druck zu erhöhen – und es kommt nicht von ungefähr, dass ihr baden-württembergischer Verkehrsminister Winfried Hermann in der „Süddeutschen Zeitung“ jüngst erstmals die Rute eines Scheiterns der Koalitionsgespräche und von Neuwahlen ins Fenster gestellt hat.
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Die Grünen wissen, dass sie von allen potenziellen Ampel-Partnern am wenigsten zu verlieren haben, selbst wenn im Fall von Neuwahlen im kommenden Frühjahr eine erstarkte Union mit einem Zugpferd Friedrich Merz als Gegner warten könnte.
Immerhin würde die Spitzenkandidatur bei den Grünen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr Annalena Baerbock übernehmen – darüber hinaus können sie einmal mehr auf den Rückhalt der mächtigen öffentlich-rechtlichen Medien und weiterer Meinungsführer rechnen, die mit dem erforderlichen Nachdruck ihre Agenda pushen. Auch vor horrenden Energiepreisen müssen sie keine Angst haben: Ihr Zielpublikum hat finanziell ausreichend Luft nach oben, um trotzdem noch ihren hohen Lebensstandard halten zu können.
Stimmen wägen statt zählen
Entsprechend rückt die Partei auch ungeachtet der Tatsache, dass mehr als 85 Prozent der Wähler, die sich an der Stimmabgabe beteiligt hatten, sie nicht gewählt haben, von ihren Maximalforderungen nicht ab. So bevorzugt man es in den eigenen Reihen, die Stimmen zu wägen anstatt zu zählen.
Die Grünen setzen darauf, die politische Mitte durch Medienkampagnen, Verbandsklagen, Ämter und notfalls durch das einfache Volk auf der Straße zu mobilisieren.
Mit ihrer Forderung nach einem „Klimacheck“ für alle künftigen Gesetze der Bundesregierung würde sich die 15-Prozent-Partei gleichsam eine Schatten-Richtlinienkompetenz zulasten des Bundeskanzlers und zulasten der Ministerkollegen sichern.
Die Begründung durch Noch-Parteichefin Annalena Baerbock ist das Universal-Totschlagargument: „Wenn wir keinen Planeten mehr haben, ist alles andere ohnehin irrelevant“ aus den Reihen von „Fridays for Future“. In ihren Worten klingt dies – wie vor wenigen Tagen gegenüber dem RND – dann in etwa so:
Wenn eine Bundesregierung beschließt, alles dafür zu tun, dass Deutschland auf einen 1,5-Grad-Pfad kommt, dann kann es ja nicht sein, dass man die Augen zumacht, wenn ein Ministerium Gesetze vorlegt, die sich davon deutlich entfernen.“
FDP droht Schlappe beim angestrebten Digitalministerium
Dass man, wie es bereits zu Beginn der Verhandlungen angeklungen war, der FDP einen Verzicht auf das Tempolimit als Zugeständnis zu gewähren bereit war, wird die Forderung nach Kompromissbereitschaft in anderen – und möglicherweise weniger bloß symbolträchtigen – Bereichen vonseiten der Liberalen nach sich ziehen.
Diese mussten bereits zum jetzigen Zeitpunkt einen Dämpfer hinnehmen: Mit ihrer Forderung nach einem üppig ausgestatteten Ministerium für Digitalisierung sei die FDP, glaubt man einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) mittlerweile „auf dem Rückzug“. Es wird – so viel zeichnet sich den Aussagen von Unterhändlern zufolge jetzt schon ab – ein solches nicht geben und damit auch kein Schaufensterministerium für die Liberalen.
Immerhin kann die FDP diese Entwicklung ihren Wählern und Anhängern als Akt des Pragmatismus verkaufen. Es würde, so die Argumentation, die dafür erforderliche Neugruppierung von Kompetenzen zu lange Zeit in Anspruch nehmen und außerdem gäbe es zu wenig schnell verfügbares und geeignetes Personal für die erforderliche „große fachliche Restrukturierung“. Daher würde der Aufbau eines eigenen Ministeriums, so die tröstliche Begründung für die Liberalen, die Digitalisierung „eher bremsen als forcieren“.
Mit dem sich abzeichnenden Aus für das Digital-Superministerium wird allerdings auch der Drang der FDP größer, das Finanzministerium für sich zu reklamieren. Dass die Grünen in diesem Fall wiederum neben einem „Klima“-Superministerium auch auf das Auswärtige Amt drängen würden, liegt ebenfalls auf der Hand.
Womit wird sich die SPD in einer Ampel-Koalition begnügen?
Am unaufgeregtesten von allen potenziellen Ampel-Partnern zeigt sich derzeit die SPD. Der überraschende Sieg nach einem starken Wahlkampffinale von Olaf Scholz und die Aussicht auf den Kanzlerbonus lässt die Genossen ebenso von den Zeiten der „Politik der ruhigen Hand“ in der Ära Schröder träumen wie jüngste Umfragen. Diese sehen die Sozialdemokraten nach wie vor deutlich an der Spitze der Publikumsgunst und mittlerweile stabil näher bei 30 als bei 20 Prozent.
Vor einem Gesichtsverlust infolge einer Umgruppierung der Kabinettsressorts muss die SPD auch wenig Angst haben. Ein Heiko Maas auf dem Posten des Bundesaußenministers erscheint ebenso ersetzbar wie eine Svenja Schulze im Umweltressort. Christine Lambrecht will sich weiterhin nicht festlegen, ob sie Ambitionen hat, auch dem nächsten Kabinett zur Verfügung zu stehen. Eines ihrer derzeit zwei Ämter würde jedoch in jedem Fall frei werden – und zwar aller Voraussicht nach das Familienressort, das sie seit dem Rückzug von Franziska Giffey kommissarisch mitbetreut.
Es ist davon auszugehen, dass die SPD in den von ihr besetzten Ressorts vielfach auf neue Gesichter setzen wird – und ihre größte Herausforderung bleiben wird, sicherzustellen, im Zweifel das Merkel-Prinzip für sich nutzbar machen zu können: Erfolge als jene des Kanzlers zu kennzeichnen, Misserfolge hingegen als jene der Koalitionspartner.
Corona-Zahlen könnten Regierungsbildung weiter verzögern
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor bezüglich des weiteren Verlaufes der Regierungsbildung könnte die Entwicklung der Corona-Pandemie sein. Zwar ist es den Ampel-Verhandlungspartnern verhältnismäßig friktionsfrei gelungen, einige grundlegende strukturelle Einigungen über Rechtsgrundlagen für die Pandemiepolitik bis März miteinander zu vereinbaren.
Die deutlich gestiegenen Zahlen und die mancherorts wieder angespannte Lage in den Krankenhäusern könnte bewusst oder unbewusst die Entschlossenheit, schnell eine Regierung zu bilden, empfindlich dämpfen. Der Grund dafür läge auch auf der Hand: Sollten unpopuläre Maßnahmen zur Bekämpfung von Corona zum Thema werden, wäre es aus Sicht der Ampel-Parteien hilfreicher, wenn diese noch unter der kommissarischen Führung der scheidenden Kanzlerin Merkel und von CDU-Gesundheitsminister Spahn vonstattengehen könnten.
Dies würde auch einem möglichen Merz-Effekt entgegenwirken können – immerhin ist davon auszugehen, dass Jens Spahn in dessen Team einen prominenten Posten bekleiden würde. Die Aussicht, eine coronabedingt noch verschlechterte Stimmung in der Bevölkerung infolge eines harten Corona-Winters ihm anhängen zu können, würde möglicherweise eine Versuchung für alle drei möglichen Ampelparteien darstellen.
Verzocken sich die Grünen langfristig?
Allerdings bestünde für diese auch ein nicht unerhebliches Restrisiko, dass ein Auf-Zeit-Spielen auffallen würde. Die Grünen würden eine solche Verzögerung nutzen, um ihre Macht im öffentlichen Raum auszuspielen und ihren Druck auf SPD und Liberale weiter zu verstärken.
Scheitert eine Koalitionsbildung, wären kurzfristig voraussichtlich auch diese die Verlierer. Scholz wäre als gescheiterte Kanzlerhoffnung beschädigt, die FDP würde in den Medien als Sündenbock präsentiert, und die Union könnte sich als erneuerte Kraft in Szene setzen, ohne überhaupt richtig auf der Oppositionsbank angekommen zu sein.
Längerfristig könnten sich jedoch auch die Grünen verrechnen, wenn sie auf ihre faktische Unverwundbarkeit spekulieren. Zwar würden sie im Fall von Neuwahlen ohne eine Spitzenkandidatin Baerbock möglicherweise noch weiter auf die 20-Prozent-Marke zusteuern und sich als unverzichtbarer Koalitionspartner ins Spiel bringen.
Sollte die Union mit Friedrich Merz an den Start gehen, hätten sie mit ihren extremen Positionen allerdings ein noch deutlich schwereres Spiel als derzeit mit Scholz und Lindner. Zudem hat die Partei trotz medialer Schützenhilfe nur knapp 15 Prozent auf sich vereinigen können – offenbar ist die Rettung der Welt um jeden Preis über diese Blase hinaus doch nicht das Thema, das die Menschen am meisten bewegt.
Längerfristig könnte den Grünen damit ein ähnliches Schicksal ins Haus stehen wie AfD und Linkspartei: Zwar jederzeit fähig, mit radikalen und kompromisslosen Maximalpositionen einen bestimmten Prozentsatz vollständig Überzeugter binden zu können – aber keinen Nutzen davon zu haben, weil die moderateren Parteien ihre Mehrheiten lieber ohne sie bilden.
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