Deutsche Verkehrsinfrastruktur in kritischem Zustand

Der Einsturz der Carolabrücke am 11. September in Dresden hat die ganze Nation schockiert. Wie konnte das passieren? Bei genauerer Analyse wird deutlich: Die marode Brücke über die Elbe ist kein Einzelfall. Tausende Brücken in unserem Land haben gravierende Schäden und müssten dringend saniert oder gar abgerissen werden.
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Autobahnen sind heute mit mehr als doppelt soviel Fahrzeugen ausgelastet, als in der Baukonzeption berechnet.Foto: Frederick Doerschem/iStock
Von 19. September 2024

Ein Unfall wie in Dresden könnte also jederzeit überall passieren und es gibt keine Garantie dafür, dass es immer so glimpflich, sprich ohne Personenschäden, abgeht wie bei der Carolabrücke.

„Der Zustand unserer Infrastruktur ist alarmierend“, stellt Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie (HDB), in der „Berliner Morgenpost“ fest. Seiner Meinung nach müsste jede dritte kommunale Brücke saniert oder ersatzweise neu gebaut werden.

An der Stelle wurde aber in den vergangenen Jahren – besser gesagt Jahrzehnten – viel zu wenig getan. Dementsprechend beklagt Müller einen „gewaltigen Sanierungsstau von 372 Milliarden Euro“. Nicht weniger bedrohlich stellt sich die Situation bei Autobahnen und Bundesstraßen dar.

Hier gelten rund 4.000 Bauwerke als sanierungs- oder ersatzbedürftig. „Das sind etwa zehn Prozent aller Brücken an den Bundesfernstraßen“, erklärt Thomas Puls, Verkehrsökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln).

Viele kaputte Brücken stellen ein Sicherheitsrisiko dar

Insbesondere in Westdeutschland seien viele Autobahnen zwischen 1960 und 1980 gebaut worden, also seit rund 50 Jahren in Betrieb, erklärt Puls. „Als diese Autobahnen und insbesondere deren Brücken gebaut wurden, konnte sich niemand die heutigen Verkehrsmengen vorstellen.“

Hinzu komme: Heute dürfen Lkw zehn Tonnen schwerer sein als damals. „Und um die Sache abzurunden: Damals endete die Welt an der Zonengrenze. Heute laufen die großen Transportrouten weiter nach Osteuropa und auf den Balkan“, sagt Puls. Sein Fazit deckt sich mit dem von Tim-Oliver Müller: All die Jahre ist viel zu wenig in den Erhalt von Brücken investiert worden.

Nicht weniger kritisch beurteilt Dr.-Ing. Heinrich Bökamp, Präsident der Bundesingenieurkammer, die Lage. Bei extremnews.com verweist er auf zahlreiche Studien und Berichte, die seit Jahren anmahnen, Deutschland müsse erheblich mehr in die Instandhaltung seiner Infrastrukturen investieren.

In seinen Ausführungen rückt Bökamp den Sicherheitsaspekt in den Vordergrund. Den Zustand vieler Brücken, die aufgrund mangelnder Wartung und Ertüchtigung schon jetzt ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen, hält er für „besonders alarmierend“. Weiter führt er aus: „Wir sprechen hier von sicherheitsrelevanten Problemen der Infrastrukturbauwerke bis hin zu einem Totalversagen aufgrund eines jahrelangen Investitionsstaus.“

„Viele der Brücken sind bereits heute am Rande ihrer Belastungsgrenzen. Ein weiteres Aufschieben von Sanierungen können wir uns aus Sicherheitsgründen nicht leisten. Wir haben unter den Brücken viele ‚Patienten‘, die in keinem wirklich guten Zustand sind“, betont der Präsident der Bundesingenieurkammer.

Früherkennung durch Sensoren im Bauwerk

Brücken gehören zu den am meisten kontrollierten Bauwerken in Deutschland. In der Regel werden sie im Dreijahresturnus von Spezialisten unter die Lupe genommen. Das ist aber offensichtlich nicht genug. Dabei könnte man hier – zumindest bei Neubauten – technisch Abhilfe schaffen.

Wie Bauindustrieverbandschef Müller erläutert, könnte man Sensoren einbauen, die zum Beispiel Porosität und Risse in Brückenpfeilern detektieren. Der Beton meldet also selbstständig, wenn es ein Problem gibt.

Mit dem Einbau würden Projekte aber um bis zu fünf Prozent teurer. Das spare man sich – und zahle „am Ende doppelt und dreifach“, moniert Müller. In Dresden zumindest hätte die Technik seiner Meinung nach entsprechend angeschlagen.

Als herausragendes Symbol der Misere galt bisher die Talbrücke Rahmede, die als Teil der A 45 im Westen, der sogenannten Sauerlandlinie, stand und für die die bundeseigene Autobahn GmbH zuständig ist. Im Dezember 2021 wurde sie infolge schwerer Schäden ungeplant gesperrt, im Mai 2023 spektakulär gesprengt.

Als die Talbrücke Rahmede in den 1960er-Jahren gebaut wurde, ging die Verkehrsprognose davon aus, dass später rund 25.000 Lkw und Pkw über die Brücke fahren würden. Vor der Sperrung waren es 64.000 Fahrzeuge pro Tag, davon allein 13.000 Lkw. Derzeit wird an einem Ersatzbauwerk gearbeitet.

Viele zu lange Planungs- und Bauzeiten

Volker Treier, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), mahnt mehr Geschwindigkeit beim Brückenbau in Deutschland an. Als vorbildliches Beispiel führt er die 2018 in Genua eingestürzte Morandi-Brücke an, die binnen zwei Jahren neu gebaut wurde.

Zum Vergleich: An der Rheinbrücke, die die A1 zwischen Leverkusen und Köln verbindet, wird seit 2017 gebaut. Seit Februar ist eine Hälfte wieder befahrbar, abgeschlossen sollen die Arbeiten aber erst mit dem Neubau der zweiten Brückenhälfte Ende 2027 sein.

In Lüdenscheid soll der Bau der Rahmede-Talbrücke immerhin verkürzt werden. Allerdings von acht auf immer noch fünf Jahre Bauzeit. Bis die neue Brücke steht, müssen die Anwohner von Lüdenscheid damit leben, dass sich Tag für Tag ein nicht enden wollender Verkehrsstrom durch ihre Stadt quält.

Bauindustrieverbandschef Müller benennt die wesentlichen Ursachen für die Misere: Lange Genehmigungsverfahren, nicht ausreichende Finanzierung und wenig Planungssicherheit. Aus dieser Gemengelage ergab sich laut Müller jüngst eine „völlig skurrile Situation“angesichts des Zustands der Infrastruktur: „Im Sommer haben Bauunternehmen darüber nachgedacht, ihre Brückenbauer zu entlassen.“ Grund: Man war nicht ausreichend ausgelastet.

Gewaltiger Sanierungsstau auch bei der Schieneninfrastruktur

Brücken und Autobahnen bilden jedoch keineswegs das einzige Problemfeld in der deutschen Verkehrsinfrastruktur. Auch im Schienennetz, eine mögliche und vor allem von den Grünen erwünschte Alternative zum Straßenverkehr, sieht es düster aus.

Nach Berechnungen des Bahnverbands Allianz pro Schiene beläuft sich der Sanierungsstau bei der Schieneninfrastruktur auf sage und schreibe 92 Milliarden Euro. Seit Jahren macht die DB AG durch Verspätungen und Zugausfälle und entsprechend verärgerte Fahrgäste sowie durch chaotische Baustellenplanung auf sich aufmerksam.

Das soll jetzt besser werden. Weil einige Strecken über Jahre hinweg vernachlässigt wurden, organisiert die Bahn Reparaturen seit diesem Jahr anders. Anstatt einzelne Schäden nach und nach zu reparieren, sollen die nötigen Bauarbeiten am Schienennetz auf bestimmten Abschnitten nun gebündelt erfolgen. Diesem neuen Konzept hat die DB AG den wohlklingenden Namen „Generalsanierung“ gegeben.

In deren Rahmen sollen bis zum Jahr 2030 insgesamt 4.000 Kilometer Gleise auf rund 40 Strecken in Deutschland generalsaniert werden. So immerhin der Plan.

Problem Wasserwege: Marode Schleusen aus der Kaiserzeit

Nicht so prominent im Fokus der Öffentlichkeit wie Straßen- und Schienenwege, für funktionierende Wirtschaftskreisläufe aber nicht weniger bedeutsam, sind die Wasserwege in unserem Land. Wird doch ein Großteil der Schwer-, Container und Stückguttransporte von Lastkähnen bewältigt.

Die größten Schwachstellen hier bilden Schleusen aus der Kaiserzeit, die in höchstem Maße sanierungsbedürftig sind. Bauindustrieverbandschef Müller stellt fest: „Schleusen sind ähnliche Nadelöhre wie Brücken und ihre Sanierung ist kläglich unterfinanziert.“ Jede fünfte Schleuse in Deutschland ist älter als 120 Jahre.

Das gilt auch für die Schleuse Brunsbüttel, die den Nord-Ostsee-Kanal (NOK) mit der Elbe verbindet. Die 100 Kilometer lange Verbindung wurde unter Kaiser Wilhelm in erster Linie aus militärischen Überlegungen gebaut und ging 1895 in Betrieb.

Heute ist der NOK die meistbefahrene künstliche Seeschifffahrtsstraße der Welt. Und sie ist in einem desaströsen Zustand. Über 100 Baustellen gibt es, um zu verhindern, dass Böschungen in den Kanal abrutschen. An der Schleuse selbst, der größten Wasserbaustelle Europas, wird seit Jahren gebaut. Ursprünglich sollte die 5. Schleusenkammer 2018 fertiggestellt sein, heute ist die Rede von 2026.

Ein weiteres Problem bei den Wasserstraßen sind Überführungen mit zu geringer Durchfahrtshöhe für zweilagige Containerladungen. Die Folge sind laut Müller rund 80 Havarien pro Jahr im westdeutschen Kanalnetz.

Logistikbranche fordert „Sondervermögen Verkehrsinfrastruktur“

Bleibt festzuhalten: Der Investitionsstau für notwendige Projekte der deutschen Verkehrsinfrastruktur ist gewaltig und es braucht neben dem politischen Willen vor allem viel Geld. Wie könnte eine Lösung aussehen?

„Die Verkehrsinfrastruktur ist der Blutkreislauf einer funktionierenden Volkswirtschaft“, sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband Spedition und Logistik im „Deutschlandfunk“.

Durch Sperrungen und Staus werde das Logistikgeschäft immer schwieriger, wodurch sich die Standortbedingungen verschlechtern. Um mehr finanzielle Spielräume zu schaffen, fordert Huster ein „Sondervermögen Verkehrsinfrastruktur“ – eine Idee, die auch bei Bauindustrieverbandschef Müller auf Zustimmung stößt.

„Ein Sondervermögen für Investitionen in die Infrastruktur könnte einen großen Konjunkturimpuls auslösen. Jeder geförderte Euro im Bau löst private Folgeinvestitionen von 2,5 Euro aus.“

Über den Autor:

Hubert von Brunn wurde nach dem Studium der Germanistik und Amerikanistik (MA) Zeitungsjournalist – vom Volontär bis zum Chefredakteur. Parallel dazu ist er Autor mehrerer Bücher – sowohl Belletristik als auch Sachbücher. Neben seinem schriftstellerischen Schaffen arbeitet von Brunn seit 2004 als Coach und Trainer mit den Schwerpunkten Mentale Fitness, Kommunikation und Work-Life-Balance.



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