Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge in der Türkei

Was bedeutet es für neue Flüchtlingsströme über die bekannten Routen in die EU, wenn die Türken ihre dreieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge nicht mehr wollen? Ausschreitungen nach sexuellen Übergriffen könnten das Fass jetzt zum Überlaufen bringen.
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Syrer bitten um Wasser an der syrischen Grenze zur Türkei.Foto: BULENT KILIC / AFP / Getty Images
Von 3. Juli 2024

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Vor wenigen Tagen trafen Bundesinnenministerin Nancy Faeser und ihr türkischer Amtskollege Ali Yerlikaya zu Arbeitsgesprächen in Berlin zusammen. Thema der Gespräche war laut Bundesinnenministerium die Bekämpfung illegalen Schleusens von Migranten.

Ein Informationsaustausch mit der Türkei ist deshalb von besonderem Interesse, weil Syrer nach wie vor den überwiegenden Anteil an der Zuwanderung nach Deutschland ausmachen und die Türkei mittlerweile mehr als 3 Millionen Syrer aufgenommen hat. Die Lebenssituation dieser Menschen in der Türkei ist für Deutschland von großem Interesse.

Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt dazu im Juli des vergangenen Jahres:

„Lange Zeit signalisierte der offizielle politische Diskurs Aufnahmebereitschaft. Dies hat sich jedoch in den letzten Jahren geändert.“

Innenminister Ali Yerlikaya berichtete gestern von Ausschreitungen im 350 Kilometer südöstlich der türkischen Hauptstadt gelegenen Kayseri. Westeuropäern kaum bekannt, hat die zentraltürkische Stadt bald so viele Einwohner wie Hamburg.

Wie Minister Yerlikaya über seinen X-Account mitteilte, hatten sich die Ausschreitungen gegen Syrer entzündet, nachdem türkische Bürger einen syrischen Staatsangehörigen festgesetzt und der Polizei übergaben haben, weil dieser sich an einem syrischen Mädchen vergangen haben soll. Anschließend, so der Minister weiter, sei es zu Pogromen gegen Häuser, Geschäfte und Fahrzeuge von Syrern gekommen. Im Zuge dieser Ausschreitungen seien 67 Personen festgenommen worden, die an diesen Pogromen beteiligt waren.

Türkei will keine Fremdenfeindlichkeit dulden

Minister Yerlikaya kommentierte, die Türkei könne keine Fremdenfeindlichkeit dulden, „die nicht mit unserem Glauben, unseren zivilisatorischen Werten und der Geschichte unserer geliebten Nation übereinstimmt“.

Am Dienstagmorgen äußerte sich Yerlikaya erneut zu den Ausschreitungen und versprach wiederum, dass die Türkei weiter gegen die Migration vorgehen werde „im Einklang mit unseren nationalen Interessen [und] im Einklang mit den Rechten, dem Gesetz und unseren zivilisatorischen Werten“.

Der Minister erklärte zudem, dass es in den letzten Wochen etwa einhundert polizeiliche Operationen gegen Schleuser und illegale Migranten gegeben habe. Dabei seien 149 Schleuser gefasst, 49 festgenommen und gegen 21 von ihnen Haftbefehl erlassen worden. Auch sollen 2.500 illegale Migranten festgenommen worden sein, die man jetzt abschieben werde.

In einem dritten Tweet zum Thema äußerte sich der türkische Innenminister zu einer Auswertung von Kommentaren auf der Plattform X, die sich mit den Ausschreitungen in Kayseri beschäftigt haben. Demnach seien dazu knapp 350.000 Beiträge auf 79.000 X-Accounts veröffentlicht worden. Und laut Minister Yerlikaya seien etwa 30.000 dieser Accounts Bots; eine überwiegende Zahl der Kommentare sei negativ gewesen. Gegen 63 Accounts laufen Ermittlungen in Richtung Hassrede, so der Minister.

Das ZDF berichtete zu den Ausschreitungen, dass auf Videos von spontanen Demonstrationen Sprechchöre zu hören gewesen sein sollen, die sich auch gegen Präsident Erdoğan gerichtet haben: „Auf Videos war zu sehen, wie Menschen in Kayseri durch die Straßen zogen und Sprechchöre wie ‚Syrer raus‘ und ‚Trete zurück, Erdoğan‘ riefen.“

Erdoğan soll sich ebenfalls bereits zu den Ausschreitungen gegen Syrer dahingehend geäußert haben, dass es inakzeptabel sei, Häuser anzuzünden, Vandalismus zu betreiben und Straßen in Brand zu setzen.

Abschiebung von einer Million Syrer

Allerdings war es Erdoğan selbst, der noch im Mai 2023 während des Wahlkampfes zur Präsidentschaftswahl mit dem Versprechen um Stimmen geworben hatte, die Abschiebung von einer Million Syrer aus der Türkei voranzutreiben.

Epoch Times berichtete Anfang dieses Jahres davon, dass die Türkei lange Zeit Musterland bei Aufnahme und Betreuung von Millionen Flüchtlingen aus Syrien gewesen sei. Mittlerweile habe sich die Stimmung gegen diese gewendet. Es drohten Abschiebungen – was viele Asylbewerber dazu veranlasst habe, über eine Weiterreise in die EU nachzudenken. Die Migrationspolitik der Türkei habe demnach direkte Auswirkungen auf die Zuwanderung auch nach Deutschland.

In diesem Jahr beantragten bis Ende Mai bereits 33.600 Syrer in Deutschland Asyl, die Anzahl syrischer Migranten im Land überschreitet demnächst die Zahl von einer Million Zuwanderer.

Für die Türkei sind die Ausschreitungen von Kayseri aus noch einem weiteren Grund von besonderer Bedeutung: In den von türkischen Militärkräften seit 2016/17 besetzten nordsyrischen Gebieten, welche als Sicherheitszone betrachtet werden, soll es als Reaktion auf die Übergriffe gegen Syrer in der Türkei zu bewaffneten Auseinandersetzungen in den überwiegend kurdisch besiedelten syrischen Städten Afrin und Dscharābulus gekommen sein. Dabei sollen drei Personen in der Stadt Afrin und eine weitere in Dscharābulus getötet und zwanzig Menschen verletzt worden sein.

Verwickelt waren laut einer in London ansässigen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Observatory for Human Rights) bewaffnete Demonstranten und Angehörige der türkischen Streitkräfte sowie Milizen, die sich spontan mit den Demonstranten verbündet hätten. Angesichts von hauptsächlich entlang der Grenze zur Türkei lebenden syrischen Kurden spielt der türkisch-syrische Konflikt hier mutmaßlich ebenfalls eine gewichtige Rolle.

Ein Drittel der Syrer haben einen kurdischen Hintergrund

Von den knapp eine Million Syrern in Deutschland haben ein Drittel einen kurdischen Hintergrund, wie Marcel Leubecher für die „Welt“ bereits 2019 recherchierte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lieferte seinerzeit auf Nachfrage eine Auswertung von Befragungen von Asylantragstellern: Danach waren im Jahr 2018 31 Prozent der syrischen Asylbewerber kurdischer Abstammung, 2017 waren es 36 Prozent, 2016 29 Prozent und 2015 waren es 25 Prozent.

Nachrichtenagenturen wie dpa und AFP berichteten im Zusammenhang mit den Ausschreitungen in Kayseri von einer nicht näher genannten Umfrage aus dem Jahr 2022 unter in der Türkei lebenden Türken, wonach 80 Prozent der Befragten wollen, dass die Syrer das Land wieder verlassen. Ein Bezug zum oft kurdischen Hintergrund der Syrer wurde hier nicht abgefragt beziehungsweise genannt.

Gegenüber den knapp dreieinhalb Millionen Syrern halten sich derzeit auch etwa dreihunderttausend Afghanen in der Türkei auf. Inwieweit diese Flüchtlingsgruppe von Ausschreitungen betroffen ist, bleibt unklar, der türkische Innenminister spricht explizit nur von Syrern.

Die Massenflucht von Syrern in die Türkei ist kein neues Phänomen. Die große Zuwanderungswelle nach Deutschland war darauf zurückzuführen, dass das UN World Food Programme (WFP) mit Sitz in Rom die finanzielle Unterstützung in den grenznahen türkischen, aber auch in den libanesischen und weiteren Auffanglagern 2015 halbieren musste.

Der WFP schrieb am 1. Juli 2015:

„Gerade als wir dachten, schlimmer kann es nicht mehr kommen, müssen wir unsere Hilfe weiter einschränken […] Wir sind extrem besorgt über die Auswirkungen der Kürzungen auf die Flüchtlinge und die Länder, die sie aufnehmen.“

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) erklärte im Herbst 2015 unter der Schlagzeile „Warum Flüchtlinge nach Europa kommen“:

„Viele Flüchtlinge in Jordanien haben UNHCR berichtet, dass diese Kürzungen der letzte Anstoß waren, das Land zu verlassen.“

Wanderbewegungen sind jederzeit möglich

Mit anderen Worten: Alles, was die Lebensumstände der knapp dreieinhalb Millionen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge spürbar verschlechtert, kann unmittelbar zu einer weiteren großen Wanderbewegung führen.

Andererseits hat Erdogan auch ein Eigeninteresse daran, dass es gar nicht erst zu solchen Wanderbewegungen kommt: Gerade debattiert der Europäische Rechnungshof darüber, wie „nachhaltig“ die milliardenschwere EU-Hilfe für Flüchtlinge in der Türkei tatsächlich noch sei. Unklar sei, ob die finanzierten Projekte nach Auslaufen der Förderung fortgeführt würden, heißt es in einem Bericht der Luxemburger Behörde, der im April veröffentlicht wurde.

Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge sind im Übrigen in der Türkei kein neues Phänomen. Schon 2019 ergab eine Studie der Kadir-Has-Universität, dass 67,7 Prozent der Türken mit der Präsenz der Syrer unzufrieden ist. 2017 waren es noch 54,5 Prozent. Demnach ist die Unzufriedenheit Jahr für Jahr kontinuierlich gewachsen.

Antwort vom Auswärtigen Amt

(Ergänzung vom 04.07.2024)

Epoch Times telefonierte während der Recherche zum Artikel mit der Pressestelle des Auswärtigen Amtes und wurde gebeten, Fragen schriftlich zu stellen. Epoch Times fragte,

  • ob solche Meldungen die Bundesregierung bzw. das Auswärtige Amt (AA) in „Alarmstimmung“ versetzt,
  • in welcher Form darauf bereits reagiert wurde,
  • wie solche Ereignisse im AA besprochen und analysiert werden,
  • ob das AA neue konkrete Wanderbewegungen Richtung EU bzw. Deutschland sieht,
  • ob es eine konkrete Zusammenarbeit auf diese Millionen Menschen umfassende Flüchtlingsgruppe zwischen AA und EU gibt,
  • ob das AA Kontakt mit der türkischen Regierung aufgenommen hat oder dies geplant ist,
  • und welche Relevanz der kurdische Hintergrund vieler Syrer nach Einschätzung des AA haben könnte.

In weiten Teilen wurde die Anfrage unbeantwortet gelassen. Aus dem Auswärtigen Amt war lediglich zu hören, dass man die jüngsten Berichte über Übergriffe auf syrische Geflüchtete in einer Reihe türkischer Provinzen sowie die Zusammenstöße in den türkisch kontrollierten Teilen Nordwest-Syriens mit großer Aufmerksamkeit verfolge.

Zudem analysiere das Auswärtige Amt über seine Auslandsvertretungen in der Türkei die Lage fortlaufend, beteilige sich aber nicht an Spekulationen. Auch unterstütze die Europäische Union die Türkei im Rahmen der EU-Türkei-Erklärung vom 18.03.2016 bei der Bewältigung der umfangreichen Flüchtlingssituation, die infolge des syrischen Bürgerkrieges entstanden ist. Sie trüge so dazu bei, das Leben der Geflüchteten in der Türkei zu verbessern und ihnen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Daneben leiste auch die Bundesregierung bilateral Hilfe, die der syrischen Flüchtlingsbevölkerung in der Türkei zugutekomme.



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