Ferienlaune auf Gleis 103

Titelbild
9-Euro-Ticket.Foto: Leonhard Simon/Getty Images
Von 10. Juni 2022

„Komm’se rein, wir nehm‘ jeden mit“, beteuert der freundliche Zugführer im lässigen Ost-Dialekt an diesem leicht sonnigen Donnerstagmorgen auf Gleis 103 am Hundertwasserbahnhof in Uelzen in Niedersachsen. Es ist Anfang Juni und Tag 2 des bundesdeutschen Feldversuchs zur Bewältigung der Energiekrise – und ich fahre gleich seit Langem mal wieder Zug.

Normalerweise wäre ich die 600-Kilometer-Reise zu Muttern ins baden-württembergische Ländle mit dem Auto gefahren. Doch mit einer bundesweiten 9-Euro-Monats-Flatrate für Bus und Bahn quer durchs Land zu surfen, ist schon ein unschlagbarer Deal. Da nimmt man auch schon mal die Beschränkung auf den Nahverkehr als Herausforderung an: 9 Mal umsteigen und fast 12 Stunden unterwegs. Aber sonst: keine überfüllten Züge auf meiner Route, Anschlüsse problemlos, keine besonderen Vorkommnisse.

Nahverkehr, das hat auch seine Vorteile. Prinzipiell könnte man sehr flexibel seine Reiseroute wechseln, weil nicht Zug-gebunden: Mal einen verpassen und irgendwo doch länger verweilen. Kein Problem. Irgendein Bummelzug fährt immer in die favorisierte Richtung. Flatrate – das hat schon VIP-Charakter – wenn auch in der Light-Version, so ganz ohne ICE & Co.

Nun, hier auf Gleis 103, tummeln sich vor allem junge Leute und einige rüstige Senioren, viele mit mehr oder minder großen Rucksäcken bestückt. Urlaubsstimmung. Etwaige Pendler dürften längst auf Arbeit sein.

Rund zehn Stunden Reise liegen vor mir – inklusive abschließender Busfahrt. Die Bahn folgt ohnehin ihrer eigenen Logik und nicht dem kürzesten Weg, wie man ihn vielleicht mit dem Pkw fahren würde. Da wunderte es auch nicht, dass statt der direkten Nord-Süd-Route plötzlich ein größerer „Schlenker“ in den Osten vollzogen wird. Beschaulich tuckerte die Bummelbahn durch das wilde Thüringen – vorbei an grünen Wiesen, niedlichen Schrebergärten und weiter durch den malerischen Thüringer Wald. Vieles davon würde man nicht sehen, wenn man eine ähnliche Route mit dem Auto auf der Autobahn führe. Ein klarer Punkt für die Entschleunigung.

Dabei wollte ich eigentlich noch etwas am Laptop arbeiten, wenn ich schon mal nicht selber fahren muss. Doch in den Nahverkehrszügen sind Steckdosen Mangelware und der Akku hält am Laptop nicht wirklich so lang, um komplexe Arbeiten in Angriff zu nehmen. Das kostenlose WLAN der Bahn ist oft auch nur theoretisch zugegen.

Hinzu kommen die vielen Umstiege. Nur zweimal gibt es auf meiner Reise Fahrtabschnitte von mehr als zwei Stunden. Die übrige Fahrtzeit zwängt sich geschmeidig zwischen die sieben Umsteigestationen und verrinnt schließlich äquivalent mit der gemächlich dahinfließenden Landschaft. Während des Thüringen-Abstechers versagte zeitweise auch schon mal 4G am Smartphone. Aber wenigstens die Fensterscheibe hatte klare Sicht. Bahn-Meditation: Tucktuck-Tucktuck-Tucktuck.

Die letzten 60 Kilometer oder eineinhalb Stunden gehören dem Bus. Gefühlt in jedem kleineren Ort hält das schaukelnde Landstraßenschiff und nähert sich dem langersehnten Hafen. Doch letztlich hat jede Reise einmal ein Ende, so auch diese. Abends. 19 Uhr. Ein alkoholfreies Bier. Ein Jetlag der anderen Art – und fester Schlaf.



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