Der verschwundene Weihnachtsmann
Jetzt neu: Epoch Times Wochenzeitung auch als Podcast |
„Mama! Du hast doch nicht etwa?“, höre ich meinen fünfjährigen Sohn Peter rufen. Ertappt! Das zusammengeknüllte rot glänzende Papier im Mülleimer lässt keinen Zweifel darüber: Der Schokoladen-Weihnachtsmann, den Peterle zum Nikolaus in seinem Stiefel vorgefunden hatte, ist weg. „Ach Mama!“, seufzt Peter enttäuscht aus der Küche kommend, während ich in der Stube die neuen Gardinen aufhänge. Betrübt klettere ich von der Leiter hinunter und nehme meinen Sohn in den Arm. „Es tut mir wirklich leid, Peter. Aber gestern Abend konnte ich mich einfach nicht zurückhalten.“ Mein Sohn schaut mich streng an: „Mama, du hast ein Problem!“
Ich war beschämt an diesem 13. Dezember. Tagelang hatte ich dem Adventskalender, der jeden Tag ein Stückchen zartschmelzender Schokolade versprach, widerstehen können. Ich war auf Äpfel und Nüsse umgestiegen, um mein Verlangen nach Schokoladen zu unterdrücken. Aber in der Nacht konnte ich mich einfach nicht beherrschen und hatte Peters Weihnachtsmann aus seinem Nikolausstiefel entführt und heimlich in meinem Bett gegessen. Dabei empfand ich weder Genuss noch Freude. Dafür verstummte endlich die Stimme in meinem Inneren, die unersättlich nach Schokolade gierte.
„Peter, ich kauf dir einen neuen“, verspreche ich meinem Sohn. Doch der schüttelt den Kopf. „Nein, Mama. Viel lieber möchte ich gar keine Schokolade mehr in der Wohnung haben.“ Schweißperlen treten auf meine Stirn. Doch schnell beruhige ich mich. Keine Schokolade? Wo nichts ist, kann man nichts finden! Es wäre zumindest einen Versuch wert. „Abgemacht“, höre ich mich sagen und schiebe noch schnell ein „keine Schokolade bis Weihnachten“ hinterher. Peter springt auf meinen Arm und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Mama, du bist die Beste!“
Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Plätzchen backen, Einkäufe erledigen, Geschenke verpacken, Weihnachtssterne basteln. Schließlich stand das Fest der Liebe bevor! Seit Jahren schon pflegten wir den Brauch, am vierten Adventssonntag vom Förster einen Baum zu holen. In diesem Jahr rührte eine gut gewachsene Kiefer mein Herz, die umringt von Fichtenbäumen ein besonderer Blickfang war. Schnell wurden wir uns einig und schon bald zierte das Bäumchen zunächst unseren Balkon.
Am 23. Dezember holten wir die Kiefer in die Wohnstube. Noch stand sie ganz nackt da. Während ich damit beschäftigt war, den Baum in seinem Ständer immer wieder zu drehen, um ihn im besten Licht erscheinen zu lassen, klingelte es an der Tür. „Peter, öffne bitte mal die Tür“, rief ich. Und schon sprang mein kleiner Sohn herbei und drückte auf den Summer. Leichtfüßig hörte ich jemanden die Treppe zu uns hinaufgehen. „Dann viel Spaß. Und frohe Weihnachten!“ Peter schloss die Tür und stand mit einem breiten Grinsen im Wohnzimmer. Oma Grete hatte ihm ein Weihnachtspäckchen geschickt!
Am liebsten hätte Peter es gleich ausgepackt. Aber: „Nichts da. Bis morgen kannst du wohl noch warten“, erkläre ich ihm mahnend und verschwinde mit dem Päckchen, das ich schnell im Schlafzimmer verstaue. „Na gut“, meint Peter und betrachtet den Baum. Dann holen wir den Weihnachtsbaumschmuck aus dem Keller. Rote Kugel, Strohsterne und die Lichterkette sollen es in diesem Jahr sein. Ich teste kurz, ob die Lichterkette funktioniert, und schon geht es los. Wie jedes Jahr legen wir unsere alte Platte mit Weihnachtsliedern auf, während wir unserer hübschen Kiefer ihren Festtagsschmuck anlegen. Fertig. Nach einer Stunde steht der Baum. Noch bleibt die Lichterkette aus. Traditionell wird sie erst am Heiligabend kurz vor der Bescherung eingeschaltet.
„Mama, wo sind die Schokoladenkringel?“ Unwillkürlich zucke ich zusammen. Über eine Woche hatte ich durchgehalten und nicht einmal an Schokolade gedacht. Dabei hatte ich schon vor Wochen die beliebten Schokokränze mit Streuseln für unseren Weihnachtsbaum gekauft. „Ach, da sind sie“, höre ich Peter in der Kammer knistern, bevor er mit den Schokokränzen in die Stube tritt. Auch Garn zum Aufhängen hat er dabei.
Mir ist ganz mulmig zu Mute. Üblicherweise machte ich mir nichts aus Schokokränzen, aber allein das Wort Schokolade war wie Musik in meinen Ohren. „Mama!“, reißt mich Peter aus meinen Gedanken und schiebt sogleich vorsichtig die Frage hinterher: „Soll ich sie besser wieder weglegen?“ – „Papperlapapp, ein Weihnachten ohne Schokokringel am Baum ist wie Ostern ohne Ostereier“, sage ich bestimmt. Und so wandert die Schokolade Stück für Stück an den Baum. Schön sieht er aus!
Als ich die leere Tüte wegwerfen will, finde ich noch einen Schokokringel. Ohne zu überlegen, gebe ich ihn Peter. „Hier für dich, weil du mir so schön geholfen hast.“ Doch statt ihn im Mund verschwinden zu lassen, schneidet Peter noch einen Faden zurecht. „Abgemacht ist abgemacht, keine Schokolade vor Weihnachten“, sagt er. Ich nicke zustimmend. Vorsichtshalber zählte Peter alle Schokokringel am Baum. „Mama. Es sind 23!“, warnte er mich. „Falls morgen einer fehlt, weiß ich, dass du dich nicht an unsere Abmachung gehalten hast.“ Ich seufze leicht – und nicke erneut.
Als Peter im Bett ist, lege ich die Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Auch das Päckchen von Oma Grete. Am nächsten Morgen hüpft Peter schon früh aus dem Bett und knistert in der Stube herum, als ich wach werde. „Peter?“ Noch ganz schlaftrunken schaue ich um die Ecke. „Mama, es ist Weihnachten! Du hast es geschafft! Es sind immer noch 23 Schokokringel!“ Begeistert springt mir Peter auf den Arm. „Ich habe für dich etwas unter den Baum gelegt. Mach es auf!“
Ich bin unsicher. Üblicherweise gibt es Geschenke erst nach dem Kaffeetrinken. Aber dieses Jahr kann Peter einfach nicht abwarten. Enttäuschen möchte ich ihn auch nicht. Ich ziehe den Gürtel von meinem Morgenmantel zusammen. „Na gut. Dann bring mir mal das Geschenk.“ Mit einem „O ja“ hüpft Peter zurück zum Baum und kommt mit einem sehr leichten Geschenk zurück, das äußerlich sehr an eine Kerze erinnert. „Mach es auf, mach es auf!“, ruft er ungeduldig. Ganz vorsichtig ziehe ich an der kleinen roten Schleife, die Peter geschickt um mein Geschenk gebunden hat. Das blaue Papier mit den weißen Schneemännern vom letzten Jahr erkenne ich wieder, das hatte ich gestern noch in der Weihnachtskiste gesehen. „Nun mach schon!“, fordert Peter – und schon habe ich einen Schokoladenweihnachtsmann in der Hand. Ich halte inne. Der erwartende Blick meines Sohnes rührt mich. „Danke Peter.“ Ich drücke den Fünfjährigen ganz fest an mich.
„Dann möchtest du bestimmt jetzt das Päckchen von Oma Grete öffnen?“, frage ich feierlich, während Peter schon vor Freude durchs Zimmer springt. „Hier ist es. Aber die anderen Geschenke gibt es erst heute Nachmittag.“
Gemeinsam mit Peter setze ich mich auf die Couch. Ungeduldig reißt er das Päckchen auf. Ein kleines Spielzeugauto, ein Puzzle und ein weiteres Geschenk mit einer kleinen Karte liegen darin. Peter wickelt das Geschenk aus und ein Weihnachtsmann kommt zum Vorschein. Auf der Karte, die ich meinem Sohn vorlese, steht: „Lieber Peter. Dieser Weihnachtsmann ist nur für dich. Gib gut darauf acht, damit deine Mama ihn dir nicht weg isst! Deine Oma Grete.“
Peter schaut mich fragend an. Ich fühle mich beschämt. Tränen der Reue laufen mir über das Gesicht. Ich bekomme keinen Ton heraus. Die Vorfreude auf die weihnachtliche Schokolade ist mir sprichwörtlich im Hals steckengeblieben. Wie oft hatte ich meinem Sohn seine Schokolade in den vergangenen Monaten weggegessen. Die ganze Familie machte sich schon darüber lustig, selbst in meinem Freundeskreis hatte sich mein „Problem“ herumgesprochen. Nun war es meine eigene Mutter, die mich vor meinem Sohn bloßstellte. Peter tätschelt liebevoll meine Hand. Er wagt es nicht, etwas zu sagen. Eine heilige Stille liegt in der Luft.
Schließlich hole ich einen tiefen Atemzug und fasse einen Entschluss: „Peter, ich stelle jetzt den Weihnachtsmann, den du mir geschenkt hast, hier auf das Regal. Er soll mich immer an dieses besondere Weihnachtsfest erinnern – ein Weihnachten, an dem mir mein kleiner Sohn gezeigt hat, dass es Wichtigeres im Leben gibt als Schokolade.“
Peter umklammert mich fest. Dann nimmt auch er seinen Weihnachtsmann von Oma Grete und stellt ihn daneben. „Und ich stelle meinen Weihnachtsmann hier auf das Regal“, sagt auch er feierlich, „damit ich mich immer erinnere, dass ich die Hoffnung nie aufgeben darf.“
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion