Warum niemand über Schweden reden möchte
Zu Beginn des Jahres 2020 erreichte SARS-CoV-2 erstmals Europa. Menschen starben und Länder in der ganzen Welt verhängten als Maßnahme gegen die neue Viruserkrankung weitreichende Lockdowns. Im Sommer 2020 tauchten dann in den Medien die Zahlen und Auswertungen der ersten COVID-Welle auf. Dabei gab es verschiedene Möglichkeiten, die Auswirkungen der Pandemie zu messen.
Eine Art, die Pandemie zu betrachten, bestand darin, sich auf die Zahl der Todesopfer zu konzentrieren. So starben bis Ende Juni weltweit mehr als eine halbe Million Menschen. Eine andere bestand darin, die komplizierten Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus zu bewerten. Wenn viele Funktionen der Gesellschaft eingefroren waren, hatten die Menschen zu kämpfen – vor allem die, die am meisten gefährdet waren.
Diejenigen, die die erste Betrachtungsweise bevorzugten, konnten sich auf eine Fülle von Daten stützen. Dabei führten die meisten, vor allem wohlhabenden Länder genaue Aufzeichnungen über die Zahl der Todesopfer und Übersterblichkeit durch. Auf verschiedenen Websites erschienen diese Daten dann in ansprechenden Diagrammen, wie etwa bei der Johns-Hopkins-Universität, auf Worldometer oder Our World in Data.
Viel schwieriger war es dagegen, die Auswirkungen der Lockdowns zu messen. Hier und da tauchten sie als verstreute Anekdoten und Zahlen auf. Der vielleicht auffälligste Datenpunkt dazu kam aus den USA: Bis zum Schuljahresende (Mai-Juni) waren insgesamt 55,1 Millionen Schüler von den Schulschließungen betroffen.
Berichterstattung wie im Vietnamkrieg
Interessanter war jedoch die Berichterstattung zu den Todeszahlen im Jahr 2020.
So veröffentlichte im Frühsommer die „New York Times“ eine Titelseite ohne Bilder. Stattdessen enthielt sie eine lange Liste von Menschen, die gestorben waren: Tausend Namen, gefolgt von Alter, Wohnort und einer sehr kurzen Beschreibung. „Alan Lund, 81, Washington, Dirigent mit dem ‚erstaunlichsten Ohr‘. Harvey Bayard, 88, New York, wuchs direkt gegenüber dem alten Yankee-Stadion auf.“ Und so weiter.
Der Chefredakteur der „New York Times“ bemerkte, dass die Zahl der US-Todesopfer bald die 100.000er-Marke überschreiten würde. Aus diesem Grund wollte er etwas Denkwürdiges schaffen – etwas, auf das man in 100 Jahren zurückblicken konnte, um zu verstehen, was die Gesellschaft durchmachte. Die Titelseite erinnerte schließlich jedoch eher an die Berichterstattung amerikanischer Fernsehsender während des blutigen Vietnamkriegs in den Jahren 1955 bis 1975. Auch da gab der Fernsehsender am Ende eines jeden Tages die Namen der gefallenen Soldaten bekannt.
Die Idee verbreitete sich schnell auf der ganzen Welt. Einige Wochen später schien eine Ausgabe der schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“ unter dem Titel: „Ein Tag, 118 Menschenleben“. All diese 118 Schweden starben am 15. April – dies war seit dem Frühjahr 2020 die höchste Opferzahl an einem Tag. Seitdem sanken die Todeszahlen stetig.
Jene Zeitung irritierte den Epidemiologen und Arzt Johan Giesecke. Giesecke war bis 2005 Staatsepidemiologe Schwedens, während der COVID-19-Pandemie offizieller Berater der schwedischen Gesundheitsbehörde und ist zudem Mitglied der strategischen und technischen Beratergruppe für Infektionsgefahren (STAG-IH) der WHO.
An einem normalen Tag sterben in Schweden 275 Menschen. Epidemiologen untersuchen, wo, wann und wie Menschen sterben. Die Art und Weise, wie die Welt in dieser Zeit über den Tod dachte, war Giesecke völlig fremd. Andere Todesursachen und Krankheiten waren häufig völlig aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden – ebenso wie die mehr als 2 Millionen Menschen, die 2020 an Hunger starben. Im gleichen Zeitraum wurden zwischen 200.000 und 300.000 Todesopfer in Verbindung mit COVID-19 gelistet.
Eine künstlich in die Länge gezogene Pandemie
Für Giesecke geriet die Welt in eine selbstverschuldete globale Katastrophe. Hätte man den Dingen einfach ihren Lauf gelassen, wäre es schneller vorbei gewesen. Stattdessen wurde Millionen von Kindern die Bildung vorenthalten. In einigen Ländern durften sie nicht einmal auf Spielplätze gehen. Aus Spanien kamen Berichte über Eltern, die sich mit ihren Kindern in Parkhäuser schlichen, um sie dort herumlaufen zu lassen.
Gesundheitsdienste verschoben Zehntausende Operationen. Unzählige Vorsorgeuntersuchungen von Gebärmutterhals- bis hin zu Prostatakrebs wurden auf Eis gelegt. Dies geschah in vielen Ländern, wie auch in Schweden. Doch dies waren nicht die einzigen merkwürdigen Entscheidungen. Aus Angst vor dem Virus hatte die schwedische Polizei monatelang keine Autofahrer mehr auf Trunkenheit am Steuer getestet. In diesem Jahr schien es also nicht ganz so schlimm zu sein, wenn betrunkene Fahrer Unfälle bauten und dadurch Menschen töteten.
Es wurde offensichtlich, dass die Medien, die Politiker und die Öffentlichkeit die Risiken des neuen Virus nur schwer einschätzen konnten. Für die meisten Menschen hatten die Zahlen keine Bedeutung. Aber sie sahen, wie die Gesundheitsdienste in mehreren Ländern überfordert waren. Sie hörten die Berichte von Krankenschwestern und Ärzten.
Hier und da in der Welt – von Deutschland bis Ecuador – waren Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Vorschriften, Gesetze und Verordnungen zu protestieren. Aus anderen Ländern kamen Berichte, dass Menschen sich über die Beschränkungen hinwegsetzten. Doch die Kraft des Widerstands blieb schwächer als Giesecke erwartet hatte. Es hatte keine französische Revolution gegeben, keine weltweite Gegenreaktion.
Schätzungen der Tödlichkeit übertraf immer Realität
Eine Erklärung für die Passivität der Bürger könnte die Berichterstattung über die Tödlichkeit des Virus in den Medien sein. Es schien, als habe man ein verzerrtes Bild davon vermittelt, wie die COVID-19-Pandemie wirklich war. So wurde im Frühjahr und Sommer 2020 die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs, Deutschlands, Frankreichs, den USA und Japan zur COVID-Pandemie befragt. Das sechste Land in der Umfrage war Schweden, da es viel kleiner und einen völlig anderen Weg durch die Pandemie einschlug.
Die Fragen betrafen alles: Von der Meinung zu den Maßnahmen der Behörden über die Lage auf dem Arbeitsmarkt bis hin zu der Frage, ob die Regierungen ihrer Meinung nach Handel und Industrie ausreichend unterstützten. Das zwölfte und letzte Thema der Umfrage umfasste zwei Fragen: „Wie viele Menschen in Ihrem Land sind an dem Coronavirus erkrankt? Wie viele Menschen in Ihrem Land sind daran gestorben?“
In den USA schätzte man Mitte Juli, dass im Durchschnitt 9 Prozent der Bevölkerung starb. Absolut bedeutet dies, das COVID-19 fast 30 Millionen Amerikanern das Leben gekostet haben soll. Tatsächlich wurde die Zahl der Todesopfer jedoch um 22.500 Prozent, also das 225-fache, überschätzt. Ein ähnliches Bild zeigte sich im Vereinigten Königreich, in Frankreich und Schweden. Auch hier waren die Schätzungen der Todeszahlen um das Hundertfache höher als die Realität. Die schwedische Schätzung von 6 Prozent (also 600.000 Toten) stand der Realität von 5.000 bis 6.000 Opfern nach offiziellen Zahlen gegenüber.
Die Angabe der durchschnittlichen Schätzung war demnach vielleicht ein wenig irreführend, da viel zu hohe Zahlen angegeben wurden. Selbst das Vereinigte Königreich mit der niedrigsten Schätzung von 1 Prozent lag um mehr als das Zehnfache über den offiziellen Zahlen. Bis zum Sommer 2020 waren in Großbritannien 44.000 Tote registriert worden (etwa 0,07 Prozent der Bevölkerung).
Schweden wegen Corona-Erfolg plötzlich uninteressant für Medien
Außerdem gab es eine weitere interessante Zahl. So schätzte jeder dritte Brite die COVID-19-Todeszahl auf über 5 Prozent. Das wäre so, als ob die gesamte Bevölkerung von Wales tot umgefallen wäre. Wäre dies der Fall gewesen, dann wären erheblich mehr Briten an dem Virus gestorben als während des gesamten Zweiten Weltkriegs (zivile und militärische Opfer inbegriffen).
Die Kriegsrhetorik der führenden Politiker weltweit hatte offenbar Wirkung gezeigt. Die Bürger glaubten, dass sie eine Art Krieg erlebten. Dann, zwei Jahre nach Beginn der Pandemie, war der Krieg plötzlich zu Ende.
Bei den Pressekonferenzen der schwedischen Gesundheitsbehörde waren keine ausländischen Journalisten mehr anwesend. Keine Amerikaner, Briten, Deutschen oder Dänen fragten, warum die Schulen geöffnet blieben oder warum das Land nicht abgeriegelt worden war.
Das lag zum großen Teil daran, dass der Rest der Welt in aller Stille begonnen hatte, mit dem neuen Virus zu leben. Viele Politiker weltweit gaben die Hoffnung auf Abriegelungen und Schulschließungen auf.
Und doch war dieser plötzliche Mangel an Interesse seltsam, wenn man all die negativen Artikel und Fernsehbeiträge bedenkt, die zuvor über die liberale Haltung Schwedens gegenüber der Pandemie veröffentlicht worden waren.
Ein unsanftes Erwachen
Für jeden, der sich noch dafür interessierte, waren die Ergebnisse nicht zu leugnen. Bis Ende 2021 hatten 56 Länder mehr Corona-Todesfälle pro Kopf zu verzeichnen als Schweden. Was die weltweit hoch gelobten Maßnahmen (Lockdown, Masken, Tests und Co.) betrifft, hatte Schweden mehr oder weniger den umgekehrten Weg eingeschlagen.
Dennoch unterschieden sich seine Ergebnisse nicht merklich von denen anderer Länder. Es wurde stattdessen immer deutlicher, dass die politischen Maßnahmen, wenn überhaupt, nur begrenzt halfen. Doch niemand sprach darüber.
Aus menschlicher Sicht war es leicht zu verstehen, warum so viele zögerten, sich den Zahlen aus Schweden zu stellen. Denn die unvermeidliche Schlussfolgerung musste lauten, dass Millionen Menschen umsonst ihrer Freiheit beraubt wurden. Millionen Kinder erhielten keine oder nur eingeschränkte Bildung.
Wer würde sich daran schon beteiligen wollen?
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Here’s Why No One Wants to Talk About Sweden“ (deutsche Bearbeitung ts)
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