Unermüdlich für die Armen

Ursula Graetsch setzt sich seit mehr als 42 Jahren für Bedürftige ein
Titelbild
„Wer braucht Größe 42?“ Ursula Graetsch (rechts) verteilt neue Kleidung an mittel- und obdachlose Menschen. (Foto: Heike Soleinsky/ETD)
Von 22. Januar 2008

Vor der Alimaus am Nobistor, wo mittellose Menschen zu essen bekommen, parkt der silbergraue Opel von Werner Graetsch, der soeben Säcke voller Kleidung aus seinem Kofferraum lädt. Seine Frau Ursula ist schon in der Alimaus, aber weiter als bis zum Eingang vor dem Speisesaal ist sie nicht gekommen. Schon wird sie umringt von Männern und Frauen, die ihre Hände nach den Gaben aus den riesigen Tüten ausstrecken: Jacken, Westen, dicke Socken, Thermohemden, Fleecepullover, Sweatshirts, Unterwäsche. „Genau meine Größe!“, freut sich eine junge Frau, bedankt sich und verschwindet.

Ursula schiebt die Säcke weiter Richtung Kleiderkammer, um den Eingang nicht zu versperren. „Wer braucht noch ‘ne Jacke?“ „Ich!“ „Passt du da rein?“ Ursula mustert die Person mit dem prüfenden Blick einer Verkäuferin im Bekleidungsgeschäft. Bereits im 43. Jahr verteilt „der Engel vom Hauptbahnhof“, wie sie genannt wird, Kleidung, Essen und was sonst noch gebraucht wird an Mittellose in ganz Hamburg. Mit den Jahren hat sie gelernt, die Größen sicher einzuschätzen. „Sind das neue Jacken?“, staunt jemand. Für gewöhnlich sind die Kleiderspenden gebrauchte Sachen.

Wie man ein Engel wird

Als junge Frau hatte Ursula eine Kneipe auf St. Pauli und gab den Armen vor der Tür nach Feierabend etwas zu essen. „Da saßen immer Leute und jeder hatte Hunger.“ Bald wurde sie gefragt: „Hast Du eine Hose für mich? Kannst Du nicht mal ‘ne Jacke besorgen?“ Als auch der Bekanntenkreis keine abgelegten Kleider mehr hatte, fing die junge Wirtin an, bei den Hamburger Geschäftsleuten um Spenden für die Wohnungslosen zu bitten. „Und so ist es bis heute geblieben, ich besorge alles und versuche alles.“ Und mit den Jahren wurde es immer mehr.

Mittlerweile war Ursula Graetsch schon oft in der Zeitung und im Fernsehen, sie lernte Prominente kennen und wird auch mal zu Festen der High Society geladen – was ihr manchmal ein bisschen schwer fällt: „Ich kenn‘ die doch gar nicht, die reichen Leute.“ Doch wenn Ursula Graetsch dann feststellt, dass zum Beispiel auch Herr Darboven anwesend ist, denkt sie gleich wieder an die Bedürftigen und geht eben zu ihm hin und fragt, ob er nicht helfen mag… für die Weihnachtsfeier der Obdachlosen… rund 400 Leute. „Da bin ich sofort dabei“, war seine Antwort und so stiftet er jedes Jahr Kaffee, Tee und Säfte, damit Obdachlose Weihnachten feiern können.

Betteln für die Armen

Einen kleinen Schubs muss sich auch Ursula manchmal geben, wenn sie sozusagen für die Armen betteln geht. „Man muss immer wieder laufen und freundlich nachfragen“, sagt sie. Inzwischen kommen aber auch viele von allein auf sie zu.

Die neue Kleidung wurde bezahlt von der Bürgerstiftung August Mohr. Die begleicht auch die Jahresfahrkarte für Frau Graetsch, damit sie wochentags, wenn ihr Mann arbeitet, kostenlos in die Stadt und wieder zurück nach Hause fahren kann. Karstadt rief letztes Jahr an, sie könne für hundert Leute Geschirr abholen. „Das war vielleicht viel“, erinnert sie sich. 30 Services davon bekam die Arche, das Kinder- und Jugendzentrum in Jenfeld, das sich um bedürftige Kinder kümmert.

„Einer soll dem anderen helfen, wo er kann“

Ihre Meinung über Jugendliche, die andere Menschen überfallen: „Die brauchen Plätze, wo sie hin können. Die jungen Leute müssen gefördert werden, dann machen sie auch keinen Blödsinn mehr. Man sollte sich mehr um sie kümmern.“ Jugendliche in ihrem Bezirk haben Frau Graetsch angesprochen, ob sie für einen Bolzplatz sorgen könne.

„Ich finde, einer soll auf den anderen zugehen und ihm helfen, wo er helfen kann“, sagt Graetsch. Sie lerne immer mehr Menschen kennen, die am Existenzminimum leben und nicht mehr weiter wissen. Mit unterschiedlichen Nöten wenden sie sich an sie: Kannst Du helfen? Und dann hört sich Ursula manchmal „Ja“ sagen, obwohl sie zunächst selbst noch nicht weiß, wie.

Ihr Ehemann Werner unterstützt sie bei ihrer Arbeit vom ersten Tag an. Seit 27 Jahren sind sie verheiratet und haben sich noch nie gestritten. „Dicke, wenn Du Probleme hast, ich helfe dir“, pflegt er zu sagen. Letztes Jahr hatte er einen schweren Arbeitsunfall, musste von der Feuerwehr unter der Last von 2,5 Tonnen geborgen werden. Neun Monate lag er im Krankenhaus Boberg. Als die Obdachlosen davon hörten, besuchten sie ihn nicht nur im Krankenhaus, sondern kümmerten sich die ganze Zeit um den Garten der Graetschs: verlegten Steine, mähten den Rasen, setzten Pflanzen, beschnitten Sträucher. Zu Ursula Graetsch sagten sie: „Jetzt können wir dir endlich etwas zurückgeben.“

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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