Suche nach Reformen in China
In China ist ein Streit über die Rolle des Premierministers Wen Jiabao als Reformer entbrannt. Beide jedoch, diejenigen, die ihn angreifen und diejenigen, die ihn verteidigen, haben eine fundamentale Frage nicht gestellt, die Frage nämlich, ob jemand in der Chinesischen Kommunistischen Partei (KPCh) überhaupt ein Reformer sein kann.
Vor mehr als einem Jahr fingen Verfasser auf maoistischen Webseiten damit an, Artikel zu veröffentlichen, die Reden von Wen angriffen, in denen er über universelle Werte, Demokratie und andere Themen sprach.
Andererseits haben einige Journale und Zeitungen, wie zum Beispiel die „Southern Weekend“ und „China Through the Ages“ („Yan Huang Chun Qiu“), die dafür bekannt sind, neue Ideen zu unterstützen, regelmäßig Artikel veröffentlicht, die Wens Ideen unterstützten – menschliche Würde, politische Reformen etc.
Aber die Unterstützung Wens blieb dezent – sein Name wurde nicht erwähnt. Kürzlich jedoch brach ein Artikel das Eis. Du Guang, ein ehemaliger Wissenschaftler der Zentralen Parteihochschule, veröffentlichte am 14. Juli den Artikel „Analyse der Zusammenhänge bei der Welle der Kritik an Wen Jiabao“. Der Artikel erschien auf einer chinesischen Webseite außerhalb Chinas. Dieser Artikel wurde auf vielen Webseiten außerhalb Chinas und auch auf einigen in China im Internet verbreitet.
Am 15. Juli veröffentlichte die chinesische Webseite der „Deutschen Welle“ den Artikel „Eine Ausnahme beim Namen genannt: Der Kampf zwischen dem rechten und linken Flügel aus der Umgebung des chinesischen Premierministers“. Es ging um die kontroversen Meinungen zu Wen.
Diese beiden Artikel, besonders der von Du Guang, brachten zum Ausdruck, dass diejenigen, die Wen angreifen, maoistische Hardliner sind und zur Machtelite gehören. Obwohl diese beiden Gruppen völlig unterschiedlich sind, zeigen sie seit kurzem die Tendenz, sich zu einer Kraft zu vereinigen. Von denjenigen, die Wen verteidigen, sagt man, dass sie den Wunsch nach Reformen vertreten.
Du Guang zitierte Du Daozheng, den Gründer und Leiter von „China Through the Ages“. Er hätte gesagt, dass es zwei Ideen und zwei Kräfte bei den ersten Parteiführern in Zhongnanhai gebe. Zhongnanhai ist der Sitz der Führerschaft der KPCh in Peking. Die eine besteht darauf, an der gegenwärtigen Situation festzuhalten. Sie vertritt die korrupte Machtelite. Die andere drängt auf Reformen und auf ein „sich öffnen“ und vertritt die „fortschrittliche gesunde Kraft“. Beide Artikel vertraten die Ansicht, dass es sehr ungewöhnlich sei, dass die Differenzen der ersten Parteiführer der Öffentlichkeit vorgestellt würden.
Die Bedeutung der Reform
Reformen haben mindestens zwei Bedeutungen: eine wirtschaftliche und eine politische. In den vergangenen dreißig Jahren haben Reformen in China immer nur Veränderungen in der Wirtschaft bewirkt und hatten keine politische Bedeutung.
Statt zu fragen: „Wer ist der Reformer?“ sollte man besser fragen „Wer ist kein Reformer?“
Im Jahre 1992 erklärte Deng Xiaoping: „Entwicklung ist die einzige harte Wahrheit.“ Folgt man dieser „harten Wahrheit“ – in der Weise, dass zuerst diejenigen reich werden, die die politische Macht besitzen –, sollten alle Bürokraten in China als Reformer angesehen werden.
Die maoistischen Hardliner, auch orthodoxe Marxisten genannt, haben heutzutage in China keinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss mehr. Wenn jemand in den vergangenen 30 Jahren durch politische Macht und wirtschaftliche Reformen reich geworden ist, sollte er als Reformer angesehen werden, gleichgültig als was er sich selbst bezeichnet. Im heutigen China gibt es bei denjenigen, die die Macht haben, keine echten Maoisten mehr.
Prinzlinge
Ein illustrativer Fall bei der Machtelite ist Bo Xilai. Als Sohn eines führenden Mitglieds der KPCh, das noch zur Revolutionsgeneration gehört, ist Bo ein „Kronprinz“. Als Bürgermeister der Küstenstadt Dalian hat er zwei Vorzeigeprojekte gesponsert, die der Stadt wirtschaftliche Entwicklung bringen sollten. In dieser Rolle war Bo ein typischer „Reformer“.
Als Bürgermeister von Dalian fand Bo jedoch auch ein Interesse daran, Jiang Zemins Portrait in den Straßen aufzuhängen, als Jiang Führer der KPCh wurde. So fand die Wiedereinführung des Personenkults statt. Erst vor kurzem hat Bo als Parteiführer der westlichen Metropole Chongqing eine Kampagne gestartet, „rote (kommunistische) Lieder“ zu singen und so versucht, die Ergebenheit gegenüber der Partei neu zu beleben.
In diesen Aktivitäten ist Bo ausgesprochen orthodox und weit davon entfernt, ein politischer Reformer zu sein. Mit diesen Aktivitäten hat er nicht Wen zur Zielscheibe gemacht. Es ist einfach nur die Art und Weise wie er und andere „Prinzlinge“ demonstrieren, dass sie die vertrauten Nachfolger der politischen Macht sind.
Alle Kronprinzen haben von der wirtschaftlichen Reform profitiert. 30 Jahre lang waren alle Strategien auf die Machtelite ausgerichtet. Betrachten wir einmal das duale Preissystem. In den 1980er Jahren wollte die Partei das Preissystem der Planwirtschaft reformieren.
Die Partei setzte zwei Arten von Preisen fest. Der eine Preis für Rohstoffe wurde vom Staat kontrolliert. Doch es gab eine Quote, wie viel zu dem kontrollierten Preis verkauft werden durfte. Der andere Preis wurde vom Markt bestimmt und hatte keine Quotenregelung. Diejenigen, die den Preis auf dem freien Markt bezahlen mussten, bezahlten viel mehr für unentbehrliche Materialien als diejenigen, die den kontrollierten Preis bezahlten.
Die Prinzlinge starteten ihre gewinnbringenden Karrieren, indem sie zu kontrollierten Preisen einkauften und zu freien Marktpreisen verkauften. Diese „Reform“ war das Muster für andere Reformen, die noch folgen sollten: im Gesundheitswesen, im Bildungswesen und im Wohnungswesen. In allen diesen Fällen wurde das System so reformiert, dass die Prinzlinge reich werden konnten.
Die Prinzlinge gehören zur reichsten und mächtigsten Gruppe in China. Im Gegensatz zu Besitzern privater Gesellschaften werden Macht und Reichtum der Prinzlinge nicht durch das politische Klima beeinflusst.
Jiang Mianheng, der Sohn Jiang Zemins, hat ein gewaltiges Vermögen angehäuft, indem er hinter den Kulissen an einem Dutzend Firmen und Investmentfirmen beteiligt war, einschließlich seiner größten Gesellschaft China Netcom. Er ist auch der stellvertretende Direktor des nationalen Projektes für bemannten Raumflug und Vizepräsident der chinesischen Akademie der Wissenschaften. Sein enormes Vermögen reicht ihm nicht – er will auch politische Macht.
Jiang Mianheng steht nicht allein da. Li Xiaopeng, der Sohn des lange amtierenden Premierministers Li Peng, ist auch einer der reichsten Geschäftsleute in China. Er fasste plötzlich den Entschluss, in die Politik einzusteigen und wurde über Nacht – ohne jegliche politische Erfahrung – Vizegouverneur der Provinz Shanxi.
Der Reichtum dieser Prinzlinge hat seinen Ursprung in den politischen Vorteilen, die sie von ihren Eltern geerbt hatten und in der wirtschaftlichen Reform ohne politische Reformen. Sie haben nicht die Absicht, etwas daran zu ändern.
Macht – nicht Ideologie
Hu Jintao, Führer der KPCh, ist kein Prinzling. Er stammt aus einer anderen politischen Gruppe, nämlich aus der, die in der KPCh durch die Jugendliga aufstieg. Auch sie haben von den wirtschaftlichen Reformen profitiert. Mit Hilfe ihrer Position in Chinas Machtstruktur sind auch sie reich geworden.
Der Unterschied zwischen ihnen und den Prinzlingen besteht darin, dass sie, falls sie Pech haben, Macht und Reichtum verlieren können und dass sie permanent in einem Machtkampf stehen. Wenn Mitglieder dieser Gruppe das Glück haben, bis zu ihrer Pensionierung zu leben, dann werden ihre Söhne und Töchter zu den neuen Kronprinzen und Kronprinzessinnen. Sie haben kein Motiv, die gegenwärtige Situation zu ändern, kein Motiv, eine politische Reform voranzubringen, die ihre Privilegien einschränken würde.
Im heutigen China gibt es bei den herrschenden Klassen nicht so etwas wie eine „gesunde Macht“. Der Kampf bei den herrschenden Klassen geht um Macht, nicht um Ideologie.
Vielleicht sind Wen Jiabaos Absichten gut, vielleicht glaubt er tatsächlich an universelle Werte und glaubt, dass das chinesische Volk Demokratie und Freiheit verdient. Aber auch wenn das so ist, so werden diese Überzeugungen keinen Einfluss auf Chinas Zukunft haben.
Wenn es eine Auseinandersetzung innerhalb der Partei zwischen Reformern und Maoisten in den späten 1970er Jahren und den frühen 1980er Jahren gab, so ist diese jetzt vorüber. Eine Diskussion darüber, wer für Reformen und wer gegen Reformen ist, ist im heutigen China bedeutungslos. In den politischen Machtkreisen profitiert jeder von der gegenwärtigen Politik.
Anfang und Mitte 1940 veröffentlichte „Xinhua Daily“, offizielles Organ der KPCh, fast jeden Monat Leitartikel, die Demokratie und Freiheit nach amerikanischem Vorbild hervorhoben. Als die KPCh im Krieg die Oberhand gewann, wurde die pro-demokratische Propaganda sofort eingestellt.
Nachdem die Kommunisten China übernommen hatten, fingen sie sofort damit an, jeglichen Ansatz unterschiedlicher Meinungen zu unterdrücken.
Die Führer, die Demokratie und Freiheit zuerst förderten und dann unterdrückten, sind dieselben Leute. Sie haben sich nicht verändert. Nur brauchten sie sich nicht mehr zu verstellen, als sie erst einmal die Macht hatten. Du Guang erwähnt in seinem Artikel, seitdem die Partei Reformer wir Hu Yaobang und Zhao Ziyang hatte, gibt es keinen Grund zu glauben, dass es jemals andere geben wird.
In der Tat zeigen gerade die Beispiele von Hu Yaobang und Zhao Ziyang, warum es keine anderen politischen Reformer geben wird. Wenn Spitzen-Parteiführer wie Hu Yaobang und Zhao Ziyang so einfach von der Partei ausgeschlossen und vernichtet werden konnten, als sie von der Parteilinie abwichen, wird klar, dass es keine politischen Reformen geben wird, solange die KPCh existiert.
Originalartikel auf Englisch: Searching for Reform in China: the Case of Wen Jiabao
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