Schriftstellerin Mary Harrington: „Wir führen Krieg gegen unsere eigene Natur“

Für die britische Schriftstellerin Mary Harrington ist die Technologie die Theologie unserer heutigen Welt. Jan Jekielek sprach mit ihr über die Schnittstelle von Fortschritt, individueller Freiheit, Technologie und letztlich Transhumanismus. Ein Interview von American Thought Leaders.
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Mary Harrington im Gespräch mit Epoch Times in der Reihe American Thought Leaders, am Rande des Dissident Dialogues Festival 2024 in New York.Foto: Epoch Times
Von 22. Juni 2024

Sich selbst beschreibt Mary Harrington als reaktionäre Feministin. Zum Schreiben sei sie durch Zufall gekommen, „nachdem ich zwei Jahrzehnte lang als Erwachsene alles Mögliche versucht habe, um es zu vermeiden.“

Schließlich habe sie es aufgegeben, ihrem Schicksal zu entgehen. Sie ist Autorin des Buches „Feminism Against Progress“ (Feminismus gegen den Fortschritt). Hierin zeigt sie eine dystopische Entwicklung auf und zeigt, wie Männer und Frauen wieder lernen können, miteinander zu leben – aber nur, wenn wir einige unserer am meisten geschätzten Streitigkeiten und festgefahrenen Ideologien aufgeben.

Auch ist sie Redakteurin bei der britischen Medienplattform „UnHerd“. Ihre Arbeiten sind unter anderem in der „London Times“, der „Mail on Sunday“, dem „New Statesman“, der „New York Post“ und „The Spectator“ erschienen.

 

Jan Jekielek: Mary, ich verfolge Ihre Arbeit über Transhumanismus und die zugehörigen Phänomene in der heutigen Gesellschaft. In Ihrem jüngsten Beitrag erklären Sie sogar, dass Sie nicht an den Fortschritt glauben. Das ist ein zentrales Element Ihrer Argumentation.

Mary Harrington: Nicht an Fortschritt zu glauben heißt für mich nicht, dass ich denke, die Welt werde immer schlechter oder dass sich nichts ändere, das stimmt natürlich nicht. Die Welt ist aktuell nicht die gleiche wie im alten Rom.

Ich glaube nicht, dass es einen erzählerischen Bogen gibt, bei dem sich die Dinge von schlecht zu schlimmer, von schlecht zu besser oder umgekehrt entwickeln. Ich bin einfach skeptisch gegenüber diesem erzählerischen Bogen. Ich möchte die Dinge geschichtlich einordnen und relativieren, um darauf hinzuweisen, dass es eine religiös geprägte Sichtweise ist, hervorgegangen aus dem Christentum und mittlerweile als Progressivismus säkularisiert, ohne religiöse Komponente.

In der indischen Mythologie wird Zeit als zyklisch verstanden. Wir durchlaufen eine Reihe von Zeitaltern, die im Kali Yuga kulminieren, dem Zusammenbruch von allem, und dann geht alles wieder zurück zum Anfang. So kann Geschichte auf einer metaphysischen Ebene begriffen werden.

Bei den alten Griechen gab es einen Anfang der Zeit, aber nicht wirklich ein Ende. Sie hatten nur ihre Götter. Die nordische Mythologie hat das gleiche zyklische Konzept. Es gibt andere Kulturen, in denen die Welt nicht mit der Schöpfung beginnt und mit der Endzeit endet, die in einem Himmel auf Erden münden kann oder auch nicht. Das ist ein spezifisch christliches Weltbild.

Sie gilt sogar in der weitgehend nachchristlichen Kultur, in der wir heute im Westen leben. Die meisten von uns betrachten sich als postchristlich, da sie nicht mehr in die Kirche gehen. Sie glauben nicht an Jesus und die Bibel. Aber die Strukturen des Denkens, wie wir Zeit und Geschichte verstehen und wie wir den moralischen Charakter unserer Bewegung durch die Zeit begreifen, sind nach wie vor ganz klar christlich.

Sowohl Progressive als auch Reaktionäre verwenden dieses lineare Verständnis der Realität, das irgendwo beginnt und mit einer Vision des Lebens endet, die alle irdischen Probleme gelöst hat. Es ist nicht immer klar, wie wir dorthin kommen werden.

In der progressivistischen Version wird es sehr plausibel, die Geschichte in diesen linearen Begriffen zu sehen und zu glauben, dass wir uns von einem schlechteren zu einem besseren Ort entwickeln, zumindest was materiellen Komfort und Bequemlichkeit angeht.

Man kann dies an der Geschwindigkeit der Innovation im entwickelten Westen seit der Reformation sehen. Das war mein historischer Rahmen, wenn ich über den Transhumanismus spreche.

Die Arbeiten von James Lindsay und anderen haben mich davon überzeugt, dass der Kommunismus in Wirklichkeit quasi die gnostische Irrlehre des Christentums ist.

Ist das nicht das Argument von Eric Voegelin?

Das stimmt. Er sagt, dieser Progressivismus sei der Versuch der Menschen, den Himmel auf Erden zu schaffen.

Ja, das ist Progressivismus, und die Technologie ist das Mittel dafür.

Doch es verbirgt die Tatsache, dass es um den Glauben geht. Oft heißt es, es gäbe derzeit eine Glaubenskrise oder einen Mangel an Glauben. Aber Sie sagen, dass es in den USA heutzutage einen Überfluss an Glauben gibt.

In diesem Aufsatz ziehe ich einige Vergleiche zwischen Großbritannien und den USA, weil wir kulturell eng verwandt sind, nicht nur wegen der Sprache. Die historische Verbindung ist kompliziert und immer noch stark.

Aber der Hauptunterschied ist der Glaube an das, was möglich ist. Walt Disney hat es wohl am besten ausgedrückt, als er davon sprach, dass Träume wahr werden können.

Das ist der zentrale metaphysische Ansatz und er ist unverwechselbar US-amerikanisch. Doch er verhüllt seine theologische Qualität, da er sich vor allem an der materiellen Welt orientiert. Man träumt einen Traum, und dann versucht man, ihn in der Geschichte zu verwirklichen. Das nennt man den US-amerikanischen Traum. Das ist ganz und gar nicht englisch.

Aber glauben Sie nicht, dass alle so über die Welt denken?

Menschen, die anderswo leben und so denken, zieht es in die USA. Es ist ein so starker, typisch US-amerikanischer Impuls. Es ist sehr einfach, das als Ausländer zu sehen, wie ich es bin, und zu sagen: „Das ist einfach krasser Materialismus. Das ist nur Ausbeutung auf Kosten der übrigen Welt. Das ist einfach das US-amerikanische Imperium, das sein Ding macht.“

Aber für mich liegt dort ein sehr ehrlicher und idealistisch spiritueller Impuls zugrunde, bei dem es tatsächlich darum geht, den Himmel auf Erden zu manifestieren. Es ist der Wunsch, Träume wahr werden zu lassen, was schön ist.

Weitgehend hat er sich von seinem christlichen Ursprung gelöst und nun geht es um alles Mögliche: um innovative Frühstücksaufstriche oder die bequemste Matratze der Welt. Was auch immer es ist: Irgendjemand träumt davon und versucht, es zu verwirklichen, um den Himmel auf Erden zu schaffen. Ja, die Ergebnisse prägen ganze Epochen.

Die USA sind auf kultureller und materieller Ebene im Grunde deshalb der globale Hegemon der Welt, weil es so viele Menschen gibt, die versuchen, so viele verschiedene Träume zu verwirklichen. Aber das führt auch immer wieder zu einer neuen Grenze und einem neuen Traum. Denn jedes Mal, wenn man sich aufmacht, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, schafft man es nicht ganz.

Es funktioniert nicht und man kann es nicht ganz schaffen. Jedes Mal, wenn du den Himmel auf Erden verwirklichen willst, kreierst du auch neue Probleme. Es gibt ein neues Problem, das es erforderlich macht, das Paradies dann neu zu schaffen.

Bitte erklären Sie uns, wie die Technologie in Ihr Modell passt.

Ich widerspreche der Aussage, dass wir nicht mehr in einer religiösen Welt leben. Meiner Meinung nach ist die Technologie die Theologie unserer heutigen Welt. Sie ist ihrem Wesen nach theologisch, und sie entfaltet sich in der Welt.

Die technologische Denkweise ist ein eigenständiges spirituelles Paradigma. Sie legt die Bedingungen für das Erreichbare fest und dafür, was das Gute ist. Und zwar so, dass letztlich viele andere religiöse Paradigmen ausgeschlossen werden. Das kann man gut finden oder auch nicht.

Aber wenn man die Welt durch die technologische Linse betrachtet, wird es immer schwieriger, gleichzeitig eine theologische Linse anzuwenden. Je weiter man in das technologische Paradigma vordringt, desto mehr geht es darum, für sich das Recht zu beanspruchen, den Himmel auf Erden zu verwirklichen.

Damit lässt man auch die christliche Weltanschauung hinter sich. Denn diese geht davon aus, dass man das auf Erden nicht kann und dass der Himmel erst im nächsten Leben erreichbar ist. Wir haben es mit einer gefallenen Welt zu tun und wir müssen einige ihrer Grenzen und Unzulänglichkeiten akzeptieren.

Die technologisch fortschrittlichen Kräfte sind im gesamten Spektrum zu finden, sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite. Das ist nicht nur eine Sache der Linken. Die rechten Progressiven sind momentan wahrscheinlich die energischsten und die erfolgreichsten der verschiedenen rechten Fraktionen.

Aber alle Fraktionen sagen: „Nein, wir müssen die Welt nicht so akzeptieren, wie sie ist. Wir können sie in Ordnung bringen. Wir können jede schlechte Eigenschaft identifizieren und verbessern. Wir können für jeden ungerechten Unterschied zwischen Mann und Frau eine technische Lösung finden.“

So kommen wir zu diesem transhumanistischen Moment, oder nennen wir es ruhig die transhumanistische Versuchung. Wir befinden uns plötzlich in einer Zeit, in der all diese transhumanistischen Ideen ins Leben gerufen werden. Ich würde sagen, dass wir eigentlich schon seit 50 Jahren oder länger im Zeitalter des Transhumanismus leben. So ist es seit einem halben Jahrhundert und tatsächlich begann es mit der Antibabypille.

Das ist für mich das Bemerkenswerteste an Ihrem Artikel. Sie erklären, dass die Pille die Medizin in grundlegender Weise verändert hat. Bitte erläutern Sie uns das.

Jeder weiß, wie ein gesunder menschlicher Körper funktioniert. Wenn damit etwas nicht stimmt, geht man zum Arzt. Ansonsten lässt man den Arzt in Ruhe. Das wurde auf den Kopf gestellt, denn die Antibabypille repariert nicht etwas, das kaputt ist. Die Pille macht etwas kaputt, was normal funktioniert, und das im Namen der individuellen Freiheit. Wir haben immer noch nicht begriffen, wie radikal das war.

Im Prinzip findet es die gesamte entwickelte Welt legitim, etwas Funktionierendes im Interesse der Freiheit oder der Familienplanung zu zerstören. Wenn man das grundsätzlich akzeptiert hat, gibt es keine Grenzen mehr.

Warum darf die normale weibliche Fruchtbarkeit im Namen der persönlichen Freiheit unterbrochen werden, aber nicht andere Aspekte unserer normalen Physiologie? Das eröffnet theoretisch unendlich viele technische Möglichkeiten und die menschliche Natur selbst wird als eine Reihe von Problemen betrachtet, die es zu lösen gilt.

Sie sagen, dass Fortschritt eine gnostische Irrlehre ist. Lassen Sie mir klarstellen, was ich meine. Gnostiker glaubten, dass die physische Welt, die Realität, die wir haben, das Problem ist.

Nein, die Materialität ist das eigentliche Problem. Hier muss man etwas differenzieren. Die alten Gnostiker waren eine Variante der Platoniker, die das Problem der materiellen Welt darin sahen, dass sie unrettbar gefallen ist. Sie war kaputt. Sie war für sie ein widerliches, ekelhaftes, verdorbenes Exemplar.

Sie sehnten sich danach, sie zu zerstören und in eine ideale Welt der Formen zurückzukehren, in das platonische Reich der ursprünglichen Formen. Dorthin sehnten sie sich verzweifelt zurück, weg von diesem, kaputten, halbverformten Mutantenuniversum.

Was jetzt anders ist und was den neugnostischen Aspekt des gegenwärtigen Impulses der Kultur kennzeichnet, ist, dass er tatsächlich einen Krieg gegen die Formen führt. Er führt Krieg gegen die Vorstellung, dass es irgendeine normative Struktur für alles Lebendige gibt und dass wir es beliebig umgestalten können. Wir können Tiere so umgestalten, dass sie etwas sind, was sie nicht sind. Und sogar mit uns selbst können wir das tun.

Sie argumentieren auch, dass der spirituelle Reichtum der USA auf dramatische Weise missbraucht wurde.

Möglicherweise wird er auf dramatische Weise falsch eingesetzt. Ich würde behaupten, dass die Bestrebungen des Transhumanismus ein sehr gutes Beispiel dafür sind. Aber es ist eine sehr dramatische Fehlanwendung eines im Grunde zutiefst positiven und potenziell lebensbejahenden spirituellen Impulses.

Aber letztendlich vertrauen Sie auf die menschliche Natur.

Ich vertraue auf die menschliche Natur.

Mary Harrington, vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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