Schallenbergs Perspektiven: # 4 Über die Grenzen des puren Überlebens hinaus
Augustinus fragt in seinem kleinen Büchlein „De beata vita“ gleich zu Beginn: „Hat uns Gott oder die Natur in diese Welt wie in ein stürmisches Meer geworfen?“ Und er fährt fort: Wenn es so wäre, „wie wenige könnten da erkennen, woran sie sich halten und auf welchem Wege sie zurückkehren müssen, verschlüge nicht irgendwann ein Sturm – den Toren scheinbar ein Unglück – die unkundigen Irrfahrer gegen Willen und Widerstand ins heiß ersehnte Land?“
Jeder Mensch sieht sich ohne eigenen Willen durch Zeugung und Geburt ins Dasein geworfen; niemand wurde um seine Einwilligung zur Zeugung und zum Lebensbeginn gefragt. Und damit muss man zunächst seinen Frieden schließen und sich versöhnen, kurzum: sein Leben zumindest als Glück wider Willen begreifen.
Biologisch freilich ist der Fall klar, für Mensch wie Tier: Wir werden geboren und wir werden sterben. Dazwischen aber bleibt viel Zeit, um nachzudenken und vorauszudenken: Warum wurde ich ins Leben geworfen? Und verbunden damit: Hat dieses mein Leben mehr Sinn und Bedeutung als einst, nach dem biologischen Ende, einfach nur da gewesen zu sein?
Mit anderen Worten: Gibt es mehr als das biologische Überleben, das die Folge des biologischen Zufalls der eigenen Zeugung ist? Könnte es sein, dass der Mensch zu wenig versteht, wer ihn nur als naturhaftes Lebewesen auffasst, das von der Natur in die Welt und das Leben wie in ein stürmisches Meer geworfen wurde?
Augustinus spinnt den Gedanken noch weiter: Ist der Mensch eigentlich überhaupt in der Lage, in seinem Leben, das ohne ihn biologisch begann und auf den Tod zuläuft, ein Glück und einen beglückenden Sinn zu erkennen? Ist nicht das Meer des Lebens immer stürmisch und immer zu irgendeinem Schiffbruch führend, das nur den Toren als Unglück, den an eine göttliche Vorsehung Glaubenden aber als zielführende Schwierigkeit erscheint? Ist das Scheitern vielleicht abhängig von der Perspektive und dem Standpunkt eines Zuschauers, der um den glücklichen Ausgang der Schifffahrt des Lebens weiß, weil er die Idee des geglückten Lebens eines Menschen festhält?
Noch einmal anders: Könnte es auch in einer säkularen Lebenswelt die Hypothese Gottes geben, unter der man ein bereits jetzt geglücktes Ideal versteht, das keineswegs von den Irrungen und Wirrungen der Tatsächlichkeit zerhäckselt würde?
Gemeint ist: Es gibt mehr als nur den erlebten Schiffbruch und das Scheitern. Es könnte sein, dass es den Schiffbruch mit Zuschauer gibt, nämlich Gott als Schöpfer. Dieser ist nicht unbeteiligter Zaungast, sondern gleichsam Anteilseigner des Schiffes, das scheinbar im Begriff ist, unterzugehen, das aber gerade durch diesen scheinbaren Untergang und nur mit wenigen Planken ein Ufer erreicht, das der zuschauende Anteilseigner durchaus im Blick hatte. Ganz im Gegenteil sieht der möglicherweise verzweifelte, um Wohl und Wehe des Schiffes kämpfende Steuermann die schönsten Hoffnungen einer friedlichen Seefahrt des Lebens im Sturm zerschlagen.
Der Schiffbruch als Notwendigkeit?
Nur wer das Erreichen eines Zieles von vornherein ausschließt und im gemächlichen Schaukeln auf der See des möglichst langen und anhaltenden Überlebens das eigentliche Ziel des Lebens erblickt, wird Windstille und Flaute für das Glück des Lebens halten. Alle anderen werden ganz im Gegenteil lebenslang von der Frage beunruhigt und umgetrieben sein, an welche Gestade man auf einer restlichen Planke mühsam balancierend gelangt, von deren Existenz man beim Stapellauf des Lebensschiffes nicht ansatzweise eine Ahnung hatte.
Oder anders: Was hätte man verpasst, gäbe es nicht Stürme des Lebens, die den im Grunde unkundigen Irrfahrer auf dem eigenen Lebensmeer an heiß ersehnte Gestade spülen, von deren ersehnter Existenz man erst weiß, wenn der Schiffbruch schon geschehen ist?
Der Mensch kann sich niemals mit dem puren Überleben zufriedengeben; er bliebe damit hinter seinen besten Möglichkeiten zurück; er verpasste sich an entscheidender Stelle; er würde sich selbst später vermissen, wenn er vermeintlich unbeschadet das rettende Ufer eines satten Lebensendes erreicht hätte – was hätte er gewonnen, wenn er doch sich selbst und sein eigentliches Ziel, sein eigentliches Wesen verloren hätte?
Schon die Geburt des Menschen kann, wie es etwa der römische Dichter Lukrez tut, als Schiffbruch angesehen werden, aber als notwendiger Schiffbruch, der jetzt gerade den Geist des erwachenden Menschen zum Denken zwingt und ihn anspornt, über seine bloße Bedürfnisbefriedigung hinaus zu denken und zu schauen. Dahinter steht die Überzeugung: Jedes menschliche Leben verlangt nach freier Hingabe, da es freie Gabe ist. Biblisch gesprochen: Umsonst wurde uns das Leben gegeben, umsonst sollen wir es hingeben.
Die Zeit kann aber nur ausgefüllt und zugleich überschritten werden, wenn ein Anfang gemacht war, der Mensch, und wenn der Anfang wenigstens ahnen lässt, dass eine Vollendung wartet, Gott, und wenn zudem geahnt wird, dass die eigenen Kräfte reichen werden, um die Zeit zu tragen. Daher heißt die Zeit in christlicher Sprache Schöpfung: geschaffen als Haus des Menschen.
Hannah Arendt, seit ihrer Dissertation bei Martin Heidegger zum Liebesbegriff des Augustinus im ständigen Gespräch mit diesem, verstorben vor 50 Jahren, hat im Anschluss an den Satz des Augustinus „Initium ergo ut esset, creatus est homo ante quem nemo fuit“ − „Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab“ (Vom Gottesstaat 12, 20) darauf aufmerksam gemacht, wie verheißungsvoll (und zugleich vereinsamend) dieser Satz zu verstehen ist: „Der Mensch ist das einzige Wesen, das anfängt und deshalb anfangen kann. Einen Menschen zu schaffen, heißt, eine Welt zu schaffen, in der immer wieder angefangen werden kann.“
Und sie fährt fort: „Aber auch eine Welt, in der immer wieder angefangen werden muss, ohne die Zuversicht zu haben, dass schon einmal jemand mein Leben gelebt hat und bestehen konnte. Das ist die letzte Grenze der eigenen Existenz, und man muss genau wissen, wann diese Grenze zu ertragen und wann sie womöglich zu überschreiten ist.“ (Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, 166)
Jeder Tätigkeit geht das vorgefundene und von Gott geschaffene Sein voraus; jedem äußeren Handeln der innere Mensch des Nachdenkens über das Wunder der eigenen Existenz und des Wollens eines guten Lebens. Geburt und Tod des Individuums sind ihm bewusst und zugleich aus der Hand genommen; er muss sich dazu verhalten und sieht sich herausgefordert, eine Entscheidung über ein gutes oder ein verfehltes eigenes Leben zu treffen.
„Natality“, Gebürtlichkeit also, ist des Menschen eigentümliche und ursprüngliche Bedingung des Daseins, daraus erst entsteht die Freiheit zum Handeln. Möglich aber ist diese Freiheit nur, wenn nicht der Tod einfach das Ende, sondern die Geburt der Beginn der Vollendung ist, und zwar als Freiheit des Menschen zum Handeln. Und daraus erwächst ein Verständnis des Menschen in unverbrüchlicher Hoffnung auf Vollendung eines immer nur scheinbar schiffbrüchigen Lebens am jenseitigen Ufer dessen, der einst mit seinem Ja zum Sein – Gott sagt zu jedem Menschen: Ich will, dass Du bist! – den Anfang zur Freiheit gesetzt hat.
Über den Autor:
Msgr. Prof. Dr. theol. Peter Schallenberg ist katholischer Priester, Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der theologischen Fakultät Paderborn sowie Gastprofessor der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom und der theologischen Hochschule Alba Julia in Siebenbürgen. Von 2010 bis 2024 war er Direktor der katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach. Auf Berufung von Papst Franziskus ist er Konsultor im Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen im Vatikan.
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