Schallenbergs Perspektiven: # 3 Freiheit und Gericht
Während ich dies schreibe, bin ich für zwei Monate im Forschungsfreisemester in Oxford, an der Blackfriars Hall der Dominikaner. Hier studierte im späten Mittelalter auch einer der bedeutendsten christlichen Theologen, Wilhelm von Ockham (1288−1347), ungefähr von 1308 bis 1320, und hier entwickelte er die Grundzüge seiner Theologie und Ethik, aufbauend auf dem Begriff persönlicher und individueller Freiheit.
Damit wurde er zu einem Begründer der neuzeitlichen Ethik: Nicht mehr in erster Linie die Frage nach den Geboten steht vor Augen, sondern die Frage nach den guten Möglichkeiten eines Menschen zum guten Handeln.
Und noch wichtiger: Es beginnt jetzt endgültig der Siegeszug des modernen Individualismus, auch wenn sich erst die Humanisten der Renaissance „moderni“ nannten, in Anlehnung an die letzten Sätze des letzten Buches der Bibel, der Apokalypse des Apostels Johannes, wo es heißt: „Komm bald, Herr Jesus!“ „Bald“ heißt hier auf Lateinisch „modo“, und die Philosophen der Renaissance nannten sich dementsprechend modern, da sie die baldige Ankunft Jesu tatkräftig vorbereiten wollten, durch Ausbildung und Entwicklung der Person zur Persönlichkeit.
Das aber geht nur mit Blick auf die konkreten Individuen, denn jede Person ist vom Wesen her zwar gleich, Gottesebenbild und zum Guten geneigt, und doch grundverschieden in Talenten und Biografie. Dies alles beginnt mit Wilhelm von Ockham in Oxford und mit seiner Frage: Wie kann die Freiheit jedes Individuums zum Guten und zur humanen Entwicklung der Menschheit gefördert werden?
Zum ersten Mal tritt damit der heute so wichtige Begriff der Freiheit auf den Plan und gewinnt zunehmend auch in der Ökonomie und in der Politik an Bedeutung. Dies zeigt sich im Modell der liberalen Demokratie in der westlichen Welt – anders als in autokratischen Systemen – in grundsätzlichem Misstrauen gegenüber zunächst immer eigeninteressierten Individuen, deren Eigeninteressen gerade durch sanfte Lenkung und Regelung zum Gemeinwohl hin orientiert wird.
Und es zeigt sich auch im ökonomischen Modell unserer Sozialen Marktwirtschaft, das wesentlich den Impulsen der christlich geprägten Freiburger Schule nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs verdankt wird: Auf der Freiheit der Individuen zum wirtschaftlichen Handeln und Gewinnstreben baut sich der Sozialstaat auf, und dieser kann nur sozial sein, wenn zuvor Menschen in freier unternehmerischer Entscheidung und Produktivität tätig waren.
Ohne Freiheit ist der Mensch nur Marionette totalitärer Systeme von Rechts oder Links. Doch diese Freiheit zum profitorientierten Handeln und zur Vermehrung der individuellen Talente muss auch vom Staat und von der Politik durch Anreize gefördert und darf nicht erstickt werden. Und noch eins kommt hinzu.
Wilhelm von Ockham wie auch die ersten modernen Humanisten der Renaissance waren überzeugt: Die Ankunft Jesu als des Weltenrichters erfolgt „modo“, bald also, hier zählt kein Zögern, im Gegenteil: Durch jedes Menschenleben und jedes Individuum wird die Ankunft des Richters beschleunigt und die Welt ein wenig besser.
Auch wenn der Gedanke des Gerichts und des Richters heute vielleicht stark verblasst ist: Wäre das nicht nur im Advent, dessen Name noch darauf hindeutet, hilfreich für uns als individuelle Personen? Sich vorzustellen, ich solle einmal Rechenschaft ablegen für mein Denken und Reden und Handeln?
Ich dürfe mich einem unbestechlichen und zugleich wohlwollenden Richter stellen, der das Recht hat, mich nach den besten Möglichkeiten meines Lebens zu befragen? Und der die Fragmente dieses Lebens sich erlaubt zu vollenden in Ewigkeit?
Denn das ist ja das Ziel der Freiheit, wie ein anderer großer Philosoph in Oxford, Isaiah Berlin (1909−1997) im letzten Jahrhundert gelehrt hat: Bloß negative Freiheit von Zwang ist nicht genug, erst positive Freiheit zum guten Ziel erfüllt den Menschen mit Freude, Hoffnung und einem nie versandenden Antrieb.
Die Kolumne „Glaube und Gewinn“ von Prof. Dr. Peter Schallenberg (Theologische Fakultät Paderborn) erscheint einmal im Monat mit dem Fokus auf ökonomische und sozialpolitische Probleme aus christlicher Sicht.
Über den Autor:
Msgr. Prof. Dr. theol. Peter Schallenberg ist katholischer Priester, Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der theologischen Fakultät Paderborn sowie Gastprofessor der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom und der theologischen Hochschule Alba Julia in Siebenbürgen. Von 2010 bis 2024 war er Direktor der katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach. Auf Berufung von Papst Franziskus ist er Konsultor im Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen im Vatikan.
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