Samuel Furfari: „NGOs haben in Brüssel und Straßburg die Macht übernommen“
Ursprünglich hatte Europa eine Vorreiterrolle in der Energiepolitik – „der Zugang zu reichlich und billiger Energie war eines der wichtigsten Ziele der Europäischen Gemeinschaft“, schreibt der Belgier Samuel Furfari in seinem neuen Buch. Doch das habe sich geändert.
Nun sei die Situation „sehr besorgniserregend“, sagt der frühere hohe Beamte der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission und Fachmann der Energie und Energiepolitik. Warum?
Im Interview mit der französischen Epoch Times sprach er über sein neuestes Buch „Énergie, mensonges d’État, la destruction organisée de la compétitivité de l’UE“ (Energie und staatliche Lügen – die organisierte Zerstörung der Wettbewerbsfähigkeit der EU; L’Artilleur Verlag). Furfari ist auch Professor für Energiewirtschaft und -politik an der Université libre de Bruxelles.
In Ihrem Buch legen Sie dar, wie sich die EU in den letzten Jahren in der Energiepolitik selbst geopfert hat, insbesondere indem sie die Energiepolitik der Klimapolitik untergeordnet hat. Sie erwähnen mehrfach das Jahr 2016 als Wendepunkt für die Energiepolitik. Weshalb?
Aus einem einfachen Grund. Bis 2016 betonten die einschlägigen Dokumente der Kommission zur Energiepolitik die Versorgungssicherheit und die Notwendigkeit, Energie für alle zu haben: für die Industrie, die Wirtschaft und die Bürger.
Dies galt seit 1950. Im damals letzten Dokument ging es um die Bedeutung von flüssigem Erdgas, einschließlich der Bedeutung von Erdgas für den Transport und die Bedeutung der Schiefergasproduktion.
Heutzutage können wir Verbrennungsfahrzeuge, die mit Diesel oder Benzin betrieben werden, sehr gut durch Erdgas ersetzen. Das wird weltweit vielfach gemacht. Bis zu jenem Zeitpunkt befand man sich wirklich im alten Paradigma der Energiepolitik.
Doch das Pariser Abkommen hat sich allmählich in den Köpfen der Menschen festgesetzt und man hat die Energiepolitik der Klimapolitik untergeordnet.
Hat die derzeitige EU-Exekutive in gewisser Weise das ursprüngliche europäische Projekt aufgegeben?
Das ursprüngliche europäische Projekt bestand darin, die europäischen Länder durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl zu vereinen. Dann kam die Idee auf, dies auch für Energie im Allgemeinen zu tun. Vor allem aber war man sich bewusst, dass wir reichlich und billige Energie brauchen.
Aus diesem Grund wurde 1957 der Euratom-Vertrag geschaffen, um die Kernenergie zu entwickeln. Und ich betone, dass Artikel 1 des Euratom-Vertrags besagt, dass es darum geht, „den Lebensstandard in den Mitgliedstaaten zu erhöhen“.
Das Ziel der europäischen Politik war also der Wohlstand der Bürger, ausgehend von der Energie. Und dann kam mit der Dekarbonisierung dieses neue Leitbild, mit dem man begann, ein negatives Bild von Energie zu propagieren, indem man sie mit Umweltverschmutzung in Verbindung brachte.
Die alte Politik wurde umgekehrt, weshalb wir in Europa dank der Europäischen Union etwa 60 Jahre lang Wohlstand hatten, während wir jetzt wegen der EU in die Rezession, in die Schrumpfung geraten sind.
Das heißt, es sind nicht die Institutionen schuld, sondern die derzeitige Exekutive und das Europäische Parlament.
Sie widmen einen Teil Ihres Buches Deutschland, das Sie für die derzeitige Energiekrise in Europa mitverantwortlich machen, weil es den anderen EU-Mitgliedstaaten seine Vision der Umweltpolitik aufgezwungen hat. Wie erklären Sie sich, dass es auf dieses deutsche Ökologismus-Narrativ nie eine Reaktion gab?
Die Politiker waren wie gelähmt von der Ökologie. Natürlich möchte jeder in einer sauberen Welt leben. Niemand möchte in einer verschmutzten Umwelt leben. Ich erinnere daran, dass die Umweltschutzpolitik aus den 1970er-Jahren stammt. Wir sprechen nun schon seit 50 Jahren darüber.
Es ist nichts Neues, zu sagen, dass die Umwelt geschützt werden muss. Die Aktivisten unter den Umweltschützern haben es geschafft, die Politiker in einen regelrechten Schockzustand zu versetzen, sodass diese nun ihrerseits zu Umweltschützern geworden sind. Das ist das Problem. Das ist es, was ich als „Ökoaktivisten aller Parteien“ bezeichne.
François Hollande zum Beispiel wurde Umweltaktivist, um eine Regierung bilden und zum Präsidenten gewählt werden zu können, jedoch auch weil er davon überzeugt war, dass Atomkraft schlecht ist.
Dasselbe gilt für Emmanuel Macron, der fünfeinhalb Jahre lang gegen die Atomkraft war. Man muss daran erinnern, dass er immerhin Fessenheim geschlossen hat; es war aber Deutschland, das gepfiffen hat, und die anderen haben sich gefügt.
Das ist nicht die alleinige Schuld Deutschlands, sondern auch die der Mitgliedstaaten, die nicht in der Lage waren, zu handeln und sich dem deutschen Diktat zu widersetzen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass einige Länder dagegen waren, doch offensichtlich hatten sie nicht das nötige Durchsetzungsvermögen.
Umweltschützer haben es „geschafft, den Frustrierten des gescheiterten Marxismus eine idyllische Welt zu bieten“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Können wir den heutigen Ökologismus als neuen Marxismus bezeichnen?
Es besteht kein Zweifel daran, dass der Marxismus in den 1970er- und 1980er-Jahren in Europa von großer Bedeutung war. In Frankreich, Spanien und Italien erhielt die Kommunistische Partei etwa 30 Prozent der Stimmen. Und all diese Verfechter waren grundsätzlich gegen den freien Markt eingestellt.
Mit dem Scheitern der Sowjetunion war die Linke gezwungen, sich ein neues Steckenpferd zu suchen, und der Marxismus wurde grün.
Neben dem Marxismus kamen noch andere Elemente hinzu: „New Age“, Dechristianisierung und so weiter. In meinem Buch zitiere ich übrigens einen brasilianischen Gewerkschafter – Chico Mendes –, der sagte, dass Ökologie ohne Klassenkampf Gartenarbeit sei.
Am Ende Ihres Buches steht: „Je früher die Europäische Union ihre Sturheit überwindet, desto besser. Die eigene Wirtschaft zu ruinieren, um unerreichbare Klimaziele zu erreichen, könnte in die Geschichte eingehen als eine der Ursachen für die Dominanz Chinas und Indiens über den Kontinent, der die Moderne, die Technologie, erfunden hat.“
Besteht neben der Beseitigung dieser Sturheit nicht auch ein Problem mit der Einflussnahme durch Umweltlobbyisten und NGOs? Handeln einige Staatsführer vielleicht unter Druck und der damit verbundenen Angst vor diesen NGOs?
Ihre Frage besteht aus zwei Teilen. Zunächst möchte ich auf den geopolitischen Teil antworten. Wenn man sich ansieht, was in China und Indien passiert und was auf der COP 28 passiert ist, muss man feststellen, dass wir in Europa im Kampf für die Dekarbonisierung ziemlich isoliert sind.
Natürlich gibt es den amerikanischen Präsidenten Joe Biden, der versucht, etwas zu tun, um wiedergewählt zu werden. Aber ehrlich gesagt sind die USA keine großen Befürworter der Wachstumsverringerung.
In Wirklichkeit denken alle Entwicklungsländer nur an eine Sache: sich an dem zu orientieren, was wir seit 60 Jahren tun, um Wachstum mit reichlicher und billiger Energie zu ermöglichen.
Die Welt hat noch nie so viel in die Produktion von Öl, Gas, Kohle und Atomkraft investiert. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Europa derzeit tut. Deshalb sage ich, dass es gefährlich ist, weil wir am Ende mit einer Utopie dastehen werden, die uns in die Abwärtsspirale führt, während sich der Rest der Welt entwickelt.
Zu Ihrer zweiten Frage: Die Situation ist sehr besorgniserregend, weil man sich nicht bewusst ist, dass man in den vergangenen 20 Jahren in Brüssel und Straßburg ein Monster geschaffen hat, ein Monster, das von NGOs aller Art gebildet wird, die in einem Elfenbeinturm leben.
Es gibt eine Art Endogamie [2] zwischen den NGOs, der EU-Exekutive und dem Europäischen Parlament: Man überzeugt sich selbst, indem man immer wieder dasselbe sagt, und das Geld fließt in Strömen für all diese NGO-Lobbyisten.
Die Europäische Kommission finanziert diese Organisationen, nicht direkt, da dies verboten ist, sondern über Projekte und Studien. Und alle diese Studien verstärken das Dogma, das es in Brüssel und Straßburg gibt.
Diese Ideologie wird dann an die Parlamentarier weitergegeben, die all diese Studien schlucken und die Kommission auffordern, auf diesem Weg weiterzumachen. Es gibt keinen Widerstand mehr in Brüssel und Straßburg. Die NGOs haben die Macht übernommen.
Vielen Dank für das Gespräch.
[1] „Sowjetischer Obskurantismus“: Obskurantismus bezeichnet im Allgemeinen eine Haltung der Rückständigkeit, Unwissenheit oder Intoleranz gegenüber neuen Ideen oder Wissen.
[2] Endogamie bezeichnet die Praxis, dass Menschen innerhalb einer bestimmten Gruppe wie einer Familie, einer sozialen Klasse, ethnischen Gruppe oder religiösen Gemeinschaft heiraten oder Beziehungen eingehen. In einigen Fällen kann Endogamie dazu beitragen, soziale Bindungen zu stärken und die kulturelle Identität zu bewahren, während sie in anderen Fällen zu Inzestproblemen führen kann.
Der Artikel erschien zuerst in der französischen Epoch Times unter dem Titel „Samuel Furfari: «Les activistes écologiques sont parvenus à tétaniser les politiques»“. (deutsche Bearbeitung ks)
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