Radikalreformen à la Milei auch für Deutschland?
Javier Milei begeht sein einjähriges Amtsjubiläum mit weiterhin hohen Zustimmungswerten, auch wenn der Enthusiasmus für seine Austeritätspolitik langsam abnimmt.
Merz „völlig entsetzt“
Auch in Deutschland ist Milei bereits auf Umwegen in den Wahlkampf geraten. FDP-Chef Christian Lindner hatte erklärt, das Land solle „mehr Milei und Musk“ wagen – eine Aussage, die vor allem CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz merklich vor den Kopf stieß.
Milei, so Merz, „ruiniert sein Land“. Er sei von Lindners Aussage „völlig entsetzt“ und diese habe ihn „einigermaßen sprachlos gemacht, und das passiert bei mir nicht so häufig“.
Der FDP, die in Umfragen immer deutlicher unter die Fünf-Prozent-Hürde fällt, bringt Lindners Aussage bis dato tatsächlich wenig. Es erscheint als denkbar, dass nennenswerte Teile der Bevölkerung den Liberalen nach drei Jahren in der Ampelkoalition eine Politik, wie Milei sie praktiziert, schlicht nicht zutrauen. Nicht zuletzt in Gesellschaftsfragen wie Schwangerschaftsabbruch oder LGBTQ*-Rechten, aber auch in Bereichen wie der Klimapolitik hat die FDP in den vergangenen Jahren oft das Gegenteil dessen praktiziert, wofür der argentinische Präsident steht.
Deutschland ein schweres Pflaster für libertäre Ansätze
Tatsächlich ist davon auszugehen, dass die Anhängerschar des argentinischen Präsidenten in Deutschland verschwindend gering ist. Das liegt nicht nur daran, dass die breite Bevölkerung, was Argentinien anbelangt, jenseits des Fußballs wenig an Wissen oder Interesse aufzubringen vermag.
Deutschland steht seit der Gründung des deutschen Nationalstaats für das Gegenteil dessen, was Milei oder Musk verkörpern. Eine radikal libertäre Politik, die den Minimalstaat zum Ideal erhebt, wäre nicht nur eine Antithese zum preußisch-protestantischen Obrigkeitsstaat, der seit 1871 seine mentalen Spuren hinterlassen hat. Das bezieht sich nicht nur auf die totalitären Systeme, die in Deutschland Fuß gefasst hatten.
Der Libertarismus widerspricht zudem auch dem Modell der „sozialen Marktwirtschaft“ oder des „rheinischen Kapitalismus“, welche die Bundesrepublik geprägt haben. Auch dort hatte der soziale Aspekt mit Fortdauer der Zeit immer stärker gegenüber dem marktwirtschaftlichen die Oberhand gewonnen. Die Ausweitung der Staatsquote war die unausweichliche Folge. Dazu kam der Wunsch nach Konsens und Harmonie im politischen Leben, der sich mit der Erfahrung der „Kampfjahre“ der Weimarer Republik mit Straßenschlachten und politischen Streiks erklären lässt.
Keine libertäre Opposition
Auch im Osten Deutschlands dürfte eine Politik, wie Milei sie praktiziert, keinen Rückhalt finden. Über Parteigrenzen hinweg sind Vorstellungen wie ein privatisiertes Bildungswesen oder eine 180-Grad-Wende in der Klimapolitik tabu. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass Ideen wie jene einer weitergehenden Eigenverantwortung in der Altersvorsorge selbst in Oppositionsparteien wie AfD oder BSW nicht durchsetzbar sind.
In der AfD scheiterte Jörg Meuthen mit seiner Forderung nach einer Abkehr vom Umlageverfahren in der gesetzlichen Rentenversicherung. Für Sahra Wagenknecht stellt bereits die streng regulierte „Aktienrente“ der zerbrochenen Ampel-Koalition, die lediglich die Finanzierung der Bundeszuschüsse absichern soll, den Sündenfall eines „Casino“-Systems dar.
Zwar ist auch in Deutschland eine wachsende Skepsis in der Bevölkerung gegenüber einer Vielzahl bürokratischer und paternalistischer Strukturen zu verzeichnen. Damit verbunden ist häufig eine Forderung nach Reformen. Allerdings ist die Stimmungslage im Land immer noch weit davon entfernt, einen radikalen Bruch mit dem Althergebrachten zu vollziehen.
Kettensäge gegen Rundfunk, Jobcenter und Diakonie?
Ein Beispiel ist der öffentlich-rechtliche Rundfunkapparat mit Dutzenden Sendeanstalten und Spartenprogrammen und einem Jahresbudget von knapp zehn Milliarden Euro. Vorwürfe werden unter anderem bezüglich der hohen Gehälter der Führungsetage, der politischen Ausgewogenheit oder der stetig wachsenden Rundfunkbeiträge laut. Gleichzeitig ist es immer noch eine Mehrheit, die den Öffentlich-Rechtlichen ein sehr großes oder großes Vertrauen entgegenbringt.
Weitere Strukturen, die nicht immer kostengünstig und effizient erscheinen, beinhaltet die Sozialbürokratie. Die Jobcenter sind häufig überfordert, vielfach macht sich der Eindruck breit, Arbeitslosigkeit oder Armut würden eher verwaltet als effizient bekämpft. Aber auch in Bereichen wie Gesundheit, Pflege oder auch der Betreuung Geflüchteter hat der Staat in Deutschland die Zügel in der Hand. Eingebunden darin sind jedoch unter anderem Sozialverbände und Kirchen, deren Einrichtungen wie Caritas und Diakonie Staatsaufgaben wahrnehmen und dafür staatliche Zuwendungen erhalten. Dies schafft Breite und Akzeptanz.
Leidensdruck nicht stark genug
Wer eine Politik nach dem Vorbild von Javier Milei in Deutschland praktizieren wollte, müsste all diesen – oft über Jahrzehnte gewachsenen – Strukturen den Kampf ansagen und überzeugende Alternativen anbieten. Trotz massiver struktureller Probleme in Deutschland ist zudem der Leidensdruck der Bevölkerung subjektiv wie objektiv weit von jenem der argentinischen entfernt. Deutschland hat noch viel an Wohlstand zu verlieren. Argentinien hat seinen schon weitgehend eingebüßt. Vor allem dies dürfte der Grund dafür sein, dass mit Anleihen an Milei hierzulande keine Wahlen zu gewinnen sind.
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