Prof. Werner Patzelt: Die CDU schließt durch faktisches Handeln mit der Merkel-Ära ab
Zuletzt hatte Epoch Times über einen Podcast-Auftritt des CDU-Generalsekretärs berichtet. Interessant daran war die Offenheit und eine offensichtliche Bereitschaft von Carsten Linnemann, mit der Ära Merkel zu brechen. Über seine Aussagen sprach Epoch Times mit Politikwissenschaftler Prof. Werner J. Patzelt, selbst CDU-Mitglied, über die Positionierung von Linnemann und was davon zu halten ist.
Welche Bedeutung hat so ein Posten (Generalsekretär) in den Parteien? Was hat sich seit Heiner Geißler, einem Vorgänger von Carsten Linnemann, auf dieser Position geändert?
Herr Geißler war ein sehr unabhängiger Kopf, den Helmut Kohl deshalb auch schasste. Später, zurzeit von Angela Merkel, sind die Generalsekretäre meist willige Erfüllungsgehilfen der großen Vorsitzenden gewesen. Doch jetzt, mit Merz und Linnemann, scheint sich wieder eine aktivere Rolle des Generalsekretärs eingestellt zu haben. Der führt den Kampf mit den verbliebenen Merkelianern mit viel Vor- und Umsicht, auf dass nicht der Parteivorsitzende sich in ihm verschleißt.
Beginnt jetzt schon der Wahlkampf für die Bundestagswahl 2025? Oder spekuliert Linnemann im Gespräch mit „Table Today“ auf vorgezogene Neuwahlen?
In der Politik ist es immer sinnvoll, sich nicht nur auf in ferner Zukunft liegende Ziele auszurichten, sondern auch dann handlungsfähig zu sein, wenn sich gute Möglichkeiten kurzfristig ergeben sollten. Insofern geht es hier um beides: Einerseits darum, wie sich die CDU im kommenden Bundestagswahlkampf wählerattraktiv aufstellen kann, und andererseits darum, dass die Union auch klare Ziele und Handlungsmaximen für den Fall hat, dass es – warum und wie auch immer – zu vorgezogenen Neuwahlen käme.
Könnten CDU und SPD ohne Neuwahlen eine neue Koalition bilden, die bis Herbst 2025 regiert? Die SPD stände gegenüber aktuellen Prognosen deutlich besser da, die CDU weniger …
Wenn es dafür eine Mehrheit im Parlament gibt, können Parteien jederzeit eine neue Regierung bilden – sei es, dass SPD und CDU nach Scholz‘ Rücktritt gemeinsam einen neuen Bundeskanzler wählen, oder dass durch ein konstruktives Misstrauensvotum der bisherige Kanzler auch gegen seinen Willen ersetzt wird.
In diesem besonderen Fall besteht das Problem aber darin, dass die SPD-Fraktion größer ist als die Unionsfraktion, weswegen es ihr schwerfiele, über sich einen CDU-Kanzler zu dulden. Und umgekehrt liegt die CDU bei den jetzigen Wahlumfragen so weit vor der SPD, dass es für die Union demütigend wäre, sich unter einem SPD-Kanzler zu verdingen. Weil also beide Parteien plausible Gründe dafür haben, eine Koalition nicht zu wollen, bei welcher ihr Hauptrivale den Kanzler stellt, wird es zu einer solchen Koalitionsbildung jetzt auch nicht kommen.
Wie wahrscheinlich wäre ein Finanzminister Scholz unter einem Kanzler Merz?
Das wird keiner von beiden wollen.
Linnemann wünscht sich für Koalitionen das österreichische Modell. Aber praktizieren die Grünen das nicht längst in der Ampel?
Man kann das mit einer gewissen Süffisanz gerade so formulieren. Diese Praxis entspricht aber nicht jenen Leitgedanken, entlang welcher Koalitionsverträge bei uns bislang gehandhabt werden. Doch der Erfolg der Grünen bei ihren Gestaltungswünschen zeigt, dass sich – medial unterstützt – ebenfalls andere Parteien auf die eine oder andere Soloshow dieser Art einlassen könnten.
Im Grunde wäre es auch dem Wähler gegenüber aufrichtiger, wenn Koalitionspartner einander die Freiheit ließen, dass jeder die von ihm besonders betonten Wahlversprechungen auch tatsächlich umsetzen kann. Dann muss man allerdings sehr darauf achten, dass schon im Vorfeld die Gestaltungswünsche künftiger Partner halbwegs kompatibel werden, und zwar nicht zuletzt in Sachen Haushaltsdisziplin.
Jetzt würde sich der FDP-Finanzminister Lindner womöglich so ein österreichisches Modell wünschen. Oder sehen Sie aktuell eine liberale Handschrift in der Finanzpolitik?
Seit das Bundesverfassungsgericht die bequeme Überleitung von coronabedingten Ausgabeermächtigungen unterbunden hat, besitzt der Finanzminister bessere Durchsetzungschancen als zuvor. Dennoch verfangen seine Sparaufforderungen nicht sonderlich. Und immer nur zu sagen, etwas gehe aus finanziellen Gründen nicht, ist ziemlich das Gegenteil dessen, was in der Alltagssprache „liberal“ heißt.
Aber vom Grundsatz des wirklichen Liberalismus her hat der Finanzminister natürlich recht: Der Staat muss auf seine Kernaufgaben beschränkt werden, und man hat in einer freien Gesellschaft die Verantwortung für die Aushandlung weitergehender Gemeinwohlvorstellungen den konkurrierenden Interessenträgern zu überlassen.
Waren Sie erstaunt darüber, dass Carsten Linnemann der Aussage, die Migration sei die „Mutter aller Probleme“, zugestimmt hat? Ist das Teil einer Aufarbeitung mit der Merkel-Ära?
Die Rede von der Migration als „Mutter aller Probleme“ signalisiert die Bereitschaft der CDU-Führung, die Tatsachen endlich so zu sehen, wie sie nun einmal sind, sich also allmählich aus den Verblendungen der Merkel-Ära zu lösen.
Dafür wird es auch höchste Zeit. Immer deutlicher betonen Sozialdemokraten und Grüne, dass viele nun allgemein erkennbare Politikfolgen von der Merkel-Regierung verschuldet worden sind. Unionspolitiker sollten es deshalb nicht dazu kommen lassen, dass sie Merkels Politik sogar dann noch verteidigen, wenn die früheren Hauptunterstützer von Merkels Politik, nämlich Sozialdemokraten und Grüne, sich ihrerseits unter dem Eindruck der Tatsachen bereits von ihr abgekehrt haben.
Linnemann hat im Interview aufgezählt, was er alles kippen will, wenn die CDU wieder an der Macht ist, vom Heizungsgesetz, Cannabisfreigabe, Bürgergeld – aber das Hauptproblem, welches die Merkel-Regierung der Ampel hinterlassen hat, ist laut Umfragen das Migrationsproblem. Ist eine Cannabisfreigabe da nicht eher nachgereicht?
Der Generalsekretär sprach von zwar wichtigen, im Vergleich zur selbstermächtigten Masseneinwanderung aber nachrangigen Fehlleistungen. In der Hauptsache kam er über Gemeinplätze nicht hinaus. Im Übrigen ist die Vorstellung, es werde ausgerechnet der UNHCR das Flüchtlingsproblem dadurch lösen, dass er von der internationalen Ebene her, einzelnen Ländern Migranten- und Flüchtlingsquoten vorgibt, von einer gutmenschenartigen Naivität geprägt.
Zur jüngeren Geschichte der Massenzuwanderung: Welche Rolle spielt da der UN-Flucht und Migrationspakt von 2018? Linnemann schlägt vor, dass der UNHCR zukünftig bestimmt, wer nach Europa und Deutschland kommen darf …
Aus all dem wird klar, dass wichtige Politiker auch der CDU noch nicht begriffen haben, dass man Rechtsnormen, die am wirkungsvollen Handeln in der Flüchtlingsfrage hindern, eben verändern muss – und dass man notfalls aus solchen internationalen Verträgen auch auszusteigen hat, auf die man sich einst leichtfertig einließ. Es gilt schließlich stets der alte römische Rechtsgrundsatz: Über das hinaus, was jemand zu leisten imstande ist, kann er auch nicht durch Verträge oder Urteile verpflichtet werden.
Für Linnemann ist grüne Politik jetzt diametral etwas anderes als CDU-Politik. Vor wenigen Wochen hatte Friedrich Merz eine Koalition mit den Grünen allerdings noch nicht ausschließen wollen. Jetzt steht eine große Koalition oben auf seiner Wunschliste. Wie glaubwürdig ist Linnemanns Kritik an den Grünen?
Unter dem Eindruck der Wahlergebnisse scheint es inzwischen mehr und mehr CDU-Politikern einzuleuchten, dass ihre jahrelange Bereitschaft, sich den Grünen hinzugeben, zum Nachteil nicht nur unseres Landes, sondern auch der eigenen Partei geraten ist.
Außerdem hat sich die CDU in eine Sackgasse manövriert. Will sie nämlich niemals mit der Linken, niemals mit der AfD und – zeitweise auch – „niemals“ mit dem Bündnis um Sahra Wagenknecht koalieren, dann bleibt eben nichts anderes übrig, als dass man jenes fatale Bündnis mit Sozialdemokraten und insbesondere Grünen fortsetzt, das über Deutschland und die Union nicht wenig Unheil gebracht hat.
Offensichtlich gibt es auch noch keine klare strategische Neuausrichtung. Die müsste darin bestehen, dass die Union der AfD ein konditioniertes Kooperationsangebot macht, also der AfD sagt: Wenn ihr auf Eure Ziele erfolgreich hinarbeiten wollt, dann braucht Ihr einen Partner; der kann nach Lage der Dinge nur die Union sein; aber die Union bekommt Ihr nur dann zum Partner, wenn Ihr Euch von den folgenden demagogischen Phrasen, den folgenden für Deutschland schädlichen Positionen und den folgenden uns nicht zumutbaren Leuten trennt … Und dann muss man die aufzugebenden Phrasen, Positionen und Personen eben klar und gestützt auf überzeugende Gründe benennen.
Die Merkel-Ära steht nicht für einen schlanken Staat. Jetzt bekundet Linnemann, er möchte eine Reihe von Regierungsbeauftragten und Staatssekretärin abschaffen. Ist das schon eine Aufarbeitung mit der Merkel-Ära?
Ja, die CDU ist dabei, mit der Merkel-Ära durch faktisches Handeln abzuschließen. Eine regelrechte Aufarbeitung, also eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fehlern der Merkel-Regierung, wird die Union aber so lange vermeiden, wie die Merkel-Anhänger noch in vielen Parteigremien Mehrheiten haben.
Gerade im kommenden Wahlkampf braucht es auch die so bewahrte taktische Geschlossenheit der CDU, damit nicht die AfD einen Keil zwischen die Merkel-Anhänger und die Merz-Unterstützer treiben kann. Folglich gibt es zwar etliche Gesten, welche die Merkel-Ära zu beenden versprechen oder wirklich beenden. Aber man wird noch einige Jahre lang auf ein umfassendes Eingeständnis der falschen Weichenstellungen jener Zeit warten müssen.
Hatten Sie nach dem Linnemann-Podcast den Eindruck, dass das Migrationsproblem unter der CDU-Regierung lösbar ist?
Mir scheint, dass das Migrationsproblem zunächst weiter zunehmen wird, einschließlich der die Masseneinwanderung begleitenden missbräuchlichen Nutzung des deutschen Sozialstaates, der Auflösung einstiger Selbstverständlichkeiten in Sachen innerer Sicherheit, und so weiter und so fort.
Erst die eines Tages von niemandem mehr zu beschönigenden Anschlussschäden von Merkels grünlinker Migrationspolitik werden die Union CDU und wohl auch die SPD, vielleicht sogar die weiterhin grünverliebte Journalisten- und Akademikerschaft, zu wirklich problemlösenden Kraftanstrengungen anhalten.
Zwar gibt immer noch Hoffnungen, irgendwie würde „die europäische Ebene“ oder ein „Ruanda-Verfahren“ bzw. „Albanien-Verfahren“ ausreichend hilfreich sein. Doch allein wird die Union nicht einmal diese Aushilfslösungen wuppen. Es braucht dafür nämlich wirklich große politische, rechtliche und administrative Anstrengungen. Die aber wird es erst dann geben, wenn die üblen Begleiterscheinungen unserer allzu moralisch aufgeladenen Migrationspolitik noch offensichtlicher und noch größer geworden sind. Wie schade, dass viele wirklich erst durchs Erleiden schmerzlicher Schäden klüger werden!
Gerade ist der Bundesverfassungsbericht 2023 veröffentlicht worden. Immer noch sieht Ministerin Faeser den Rechtsextremismus im Zentrum. Linnemann relativiert und setzt den Linksextremismus auf eine Stufe mit dem Rechtsextremismus und dem Islamismus. Auch thematisch wäre das Migrationsproblem das relevanteste von allen …
Hier kehrt endlich wieder ein sachdienlicher Realismus in mancher Debatten ein. Das hat auch damit zu tun, dass die Warnung vor dem Rechtsextremismus immer die Marschmusik beim Kampf für die dem Land aufgezwungene Migrationspolitik gewesen ist, nämlich mit folgender Melodie: Nur wenn ich Rechtsextremisten bekämpfe, bleibt Deutschland ein weltoffenes Land!
Seit aber das Migrationsproblem immer mehr als unser derzeitiges Kernproblem begriffen wird, ändert sich manches in der Gewichtung des Rechtsextremismus. Obendrein ist es nun einmal so, dass der Linksextremismus vor aller Augen bis hin zur gewalttägigen Verfolgung von politisch Andersdenkenden zugenommen hat. Auch Ausländerextremismus und Messerstechereien können nicht mehr beschwiegen werden. Deshalb gibt es jetzt eine Neukalibrierung in Sachen Rechtsextremismus. Und das halte ich deshalb für eine gute Entwicklung, weil sie der wünschenswerten Rundum-Verteidigung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung dient.
Danke für das Gespräch!
Das Interview führt Alexander Wallasch.
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