„Potenziell größtes Problem in Syrien“: Türkischer Kampf gegen Kurden
Nicht alle Syrer können sich über die Vertreibung des Diktators Bashar al-Assad freuen, denn sie werden weiterhin massiv bedroht.
Ein türkischer Drohnenangriff im von Kurden kontrollierten Gebiet im Norden Syriens tötete elf Zivilisten, darunter sechs Kinder, wie der französische Auslandssender „France24“ am 9. Dezember berichtete. Der Angriff erfolgte einen Tag, nachdem bewaffnete Oppositionskräfte, die von der islamistischen Rebellengruppe HTS angeführt werden, den syrischen Diktator in einer Blitzoffensive gestürzt hatten.
Kurdisches Zentrum: Massaker an Kurden finden kein Interesse in Deutschland
Das Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit in Berlin bestätigte diese Meldung und teilte am 11. Dezember weitere Gräueltaten mit: „Allein in den vergangenen 48 Stunden sind mindestens 31 Zivilisten durch Angriffe der Türkei und der von der Türkei unterstützten SNA ums Leben gekommen.“
Die „Syrian National Army“ (SNA) ist eine arabische Miliz, die seit Jahren von der Türkei ausgerüstet und trainiert wird, um die in Nordsyrien lebenden Kurden zu bekämpfen. Die SNA hat vor wenigen Tagen die kurdisch bewohnte Stadt Manbidsch eingenommen. Dies geschah weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, die sich ausschließlich auf die Eroberung Damaskus durch die HTS konzentriert.
Das Kurdische Zentrum in Berlin verfügt nach eigenen Angaben über Videoaufnahmen, die „schwere Kriegsverbrechen“ in Manbidsch dokumentieren würden. Die Videos stammten von sozialen Medien, auf denen die SNA zeige, wie sie mehrere Verwundete der kurdischen „Syrian Democratic Army“ (SDA) in einem Krankenhaus in Manbidsch hinrichteten. Die SDA ist ein Militärbündnis mehrerer kurdischer Milizen, darunter auch Exilkurden aus Turkmenistan.
Das Kurdische Zentrum in Berlin weiter: „Der türkische Staat verstößt in jeder Hinsicht gegen internationales Recht und Normen und verübt Massaker an unserer Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien. Es geht dabei darum, das Chaos in Syrien auszunutzen und die Sicherheit und Stabilität von Nord- und Ostsyrien zu zerstören.“
Solche Nachrichten gibt es seit Jahren wöchentlich. Wen interessierts? Das ist das Problem. Auch in der Sondersitzung vom 13. Dezember des Brandenburger Landtags zu Syrien ging es nicht um die türkische Aggression gegen die Kurden. Vielmehr wurde auf Antrag der AfD-Fraktion über die „Situation für die in Brandenburg lebenden syrischen Staatsangehörigen nach dem Sturz des bisherigen syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad“ diskutiert.
In Deutschland leben etwa 1,3 Millionen Kurden, die aus Angst vor der Türkei ihre Siedlungsgebiete im Osten der Türkei und in Syrien verlassen haben. Sie wissen, dass ihnen die internationale Staatengemeinschaft nicht hilft.
Einzig die USA stehen zu den Kurden
Einzig die USA stehen schon seit Jahrzehnten an der Seite des Freiheitskampfes der Kurden. Zunächst im Nordirak, wo durch die USA 1991 die Einrichtung einer Flugverbotszone gegen den damaligen Diktator Saddam durchgesetzt wurde und daraus ein kurdisches Autonomiegebiet entstand, das bis heute funktioniert und international anerkannt ist. Auch die Bundeswehr unterhält seit 2015 in der irakisch-kurdischen Hauptstadt Erbil ein Einsatzkontingent. Dessen Ziel ist jedoch nicht der Schutz der Kurden, sondern die Bekämpfung von verbliebenen IS-Zellen.
Die Kurden sind weltweit das größte Volk ohne Staat. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und willkürlicher Grenzziehungen durch die damaligen Mächte Frankreich und Großbritanniens nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Kurden aufgeteilt unter den heutigen Staaten Türkei, Irak, Syrien, Iran, Turkmenistan und Aserbaidschan. Seither streben sie vergeblich nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.
Nach dem Zerfall Syriens ab 2011 gelang es auch den syrischen Kurden, mit Unterstützung amerikanischer Truppen im Norden eine Art Selbstverwaltung aufzubauen, geschützt durch die von den USA ausgebildete SDA. Die USA sind mit 900 Soldaten präsent im syrisch-arabischen Al-Tanf, im nordöstlichen Regierungsbezirk Homs.
Türkische Aggression wegen PKK
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nutzt seit dem Zerfall Syriens alle Mittel, um die kurdische Präsenz auf syrischer Seite entlang der Grenze zur Türkei zu minimieren, da er alle Kurden pauschal als Bedrohung für den türkischen Staat betrachtet. Grund dafür ist der rund 40 Jahre lange kurdische Unabhängigkeitskampf in der Türkei, der vor allem von der sogenannten kurdischen Arbeiterpartei PKK mit terroristischen Mitteln geführt wird.
Der jüngste Anschlag der PKK, die auch in Deutschland als Terrororganisation gelistet ist, wurde am 23. Oktober in Ankara ausgeübt. Dabei wurden fünf Menschen ermordet und zweiundzwanzig teils schwer verletzt. Daraufhin ließ Erdoğan kurdische Ortschaften in Nordsyrien bombardieren, ohne Rücksicht auf zivile Verluste. Seine Vermutung: Die Kurden in Syrien erlauben der PKK Rückzugsräume und Verstecke.
Erdoğan versteht allerdings nicht, dass seine wahllosen Angriffe, die immer wieder Tote unter Frauen, Kinder und Krankenhäuser hervorrufen, auch unter syrischen Kurden Wut auf die Türkei hervorbringen und es die PKK-Terroristen immer leichter haben, neue Kämpfer zu rekrutieren.
Was Erdoğan unter Terrorismus versteht
So verständlich die Bekämpfung der PKK durch den türkischen Staat ist, umso unverständlicher ist Erdoğans eigenwillige Definition von Terroristen. Während die kurdischen „Freiheitskämpfer“ von ihm pauschal als Terroristen gebrandmarkt werden, bezeichnete er am 25. Oktober 2023 die Hamas in einer Rede als „Freiheitskämpfer“. Kein Wort von deren Gräueltaten.
Im Gegenteil: Er schrie vor einem Jahr in Ankara ins Mikrophon, Israel begehe „Gräueltaten“. Konkret: „Hamas ist keine Terrororganisation, sondern eine Befreiungs- und Mudschaheddin-Gruppe, die für den Schutz ihres Landes und ihrer Bürger kämpft.“ Mit Mudschaheddin sind militante Islamisten wie etwa auch der IS gemeint.
Den Kurden, egal wo sie leben, spricht der türkische Präsident genau jenes ab, was er der Hamas zugesteht.
„Potenziell größtes Problem in Syrien“
Zusammenstöße zwischen von der Türkei unterstützten syrischen Milizen mit Kurden könnten „zu einem der größten potenziellen Probleme in Syrien werden“. Diese Ansicht vertrat der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien, Geir Pederson, am 10. Dezember in New York.
Davon scheint die Berliner Politik, respektive die Bundesregierung, indes keine Kenntnis nehmen zu wollen, während die Berichte über das Vorrücken israelischer Truppen einen breiten Raum in der Berichterstattung einnehmen.
Türkei auf Konfrontationskurs mit USA
Im Ausland sieht das anders aus: „Während Syriens Regime zusammenbricht, hofft Erdoğan auf einen Sieg über die Kurden“, titelte diese Woche die britische Wochenzeitschrift „The Economist“. Und bescheinigt den Kurden: „Sie sind plötzlich isoliert und geschwächt. Es könnte noch schlimmer kommen.“ Die New „York Times“: „With Syria in Flux, Turkish Forces Attack U.S.-Backed Forces – Syrien im Umbruch: Türkische Streitkräfte greifen von den USA unterstützte Kräfte an“.
Deshalb traf sich der noch amtierende amerikanische Außenminister Antony Blinken kurzfristig mit Erdoğan, wie der auf den Nahen Osten fokussierte Washingtoner Thinktank „Middle East Monitor“ am 12. Dezember berichtete. Der türkische Präsident teilte in einem Post auf X zwar ein Foto von seinem Treffen mit Blinken, gab jedoch bezeichnenderweise keine Einzelheiten zu dem Gespräch bekannt. Dies ist für Erdoğan ungewöhnlich, denn in anderen Fällen zeigt er sich sehr gerne mit den Mächtigen dieser Welt und tritt wortgewaltig in Erscheinung.
Die kurdische SDF war und ist der wichtigste Verbündete der USA gegen den IS in Syrien. Angeführt wird diese kurdische Miliz-Dachorganisation von den sogenannten syrischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG). Insbesondere die YPG betrachtet Ankara als verlängerten syrischen Arm der PKK.
Vor seinem Abflug nach Ankara gab Blinken das Ziel seiner Reise vor der Presse bekannt: „Wir wollen vermeiden, weitere Konflikte innerhalb Syriens auszulösen, vor allem zu einem Zeitpunkt, an dem wir diesen Übergang zu einer Übergangsregierung und einem besseren Weg nach vorne sehen wollen“, sagte er.
Das türkische Verteidigungsministerium veröffentlichte präventiv zu Blinkens Besuch, der Vormarsch auf den kurdischen Ort Manbidsch (siehe Eingang dieses Artikels) habe zum Ziel, „den Terrorismus auszumerzen“. „Middle East Monitor“ zitiert das türkische Militär weiterhin: „Ankara habe Washington mitgeteilt, dass eine Terrorgruppe [YPG] nicht dazu verwendet werden könne, eine andere [IS] zu eliminieren.“
Blinken hatte bereits am 6. Dezember verlautbaren lassen, dass der IS nach amerikanischer Kenntnis versuchen werde, das Chaos in Syrien zu nutzen, um sich in Syrien neu aufzustellen. Doch die Vereinigten Staaten seien entschlossen, dies nicht zuzulassen.
Es bleibt nun das bilaterale Geheimnis der USA und der Türkei, wie deren widerstreitenden Interessen zusammengefügt werden können. Spätestens mit Beginn der Trump-Administration dürften sich die USA nicht länger von Erdoğan auf der Nase herumtanzen lassen. Bis dahin jedoch könnten die meisten kurdischen Milizen in Nordsyrien von den Türken und ihren Verbündeten außer Gefecht gesetzt worden sein.
Über den Autor:
Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C., und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times. Tom Goeller war 2022 und 2023 in Kurdengebieten unterwegs und kennt den Konflikt durch eigene Beobachtung vor Ort.
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