Politisierung erwünscht?
Neben zahlreichen Gewalttaten in Deutschland im zeitlichen Umfeld des Jahreswechsels – einige wie jene in Cottbus wurden erst später bekannt – haben vor allem zwei besonders folgenschwere Vorgänge die Gemüter erhitzt.
Am Samstagabend wurden vier Personen aus Syrien, Afghanistan und dem Iran im Alter zwischen 17 und 19 Jahren festgenommen. Sie stehen im Verdacht, gemeinsam im oberpfälzischen Amberg über mehrere Stunden hinweg in der Innenstadt Passanten angegriffen und mindestens zwölf Personen dabei verletzt zu haben.
In NRW sitzt wiederum seit der Silvesternacht ein 50-jähriger Essener Autofahrer in Untersuchungshaft. Er soll mit seinem Wagen in Essen selbst und in Bottrop mehrere Fußgänger angefahren fahren und acht Menschen zum Teil schwer verletzt haben.
Der mutmaßliche Amokfahrer Andreas N. soll gezielt versucht haben, fremdländisch aussehende Personen zu überfahren. Der Täter soll aus „persönlicher Betroffenheit und Unmut Hass auf Fremde“ entwickelt haben, erklärte der Innenminister von NRW, Herbert Reul, in einem Interview. Bei seiner Verhaftung und in ersten Vernehmungen soll Andreas N. diese Einschätzung bestätigt haben.
Debatte um überregionale Bedeutung diesmal umgangen
Die ARD scheint im Zusammenhang mit beiden Vorfällen – und dem damit verbundenen Empörungspotenzial auf unterschiedlichen Seiten – aus der harten Kritik gelernt zu haben, die ihr nach der Silvesternacht 2015/16 in Köln und dem Mord an der Studentin Maria L. in Freiburg im weiteren Verlauf des Jahres 2016 entgegenschlug.
Damals hatte die „Tagesschau“ verspätet bzw. gar nicht über die Vorfälle berichtet. Im Fall Maria hatte man dies damit begründet, dass die Vergewaltigung und der Mord an der jungen Frau durch einen afghanischen Asylbewerber als Ereignis nur „regionale Bedeutung“ habe und daher nicht in die Hauptnachrichten passe.
Im Zusammenhang mit den Ereignissen zum Jahreswechsel wäre nunmehr die nächste Welle öffentlicher Erregung vorprogrammiert gewesen, hätte die „Tagesschau“ einem der beiden besonders folgenschweren Vorfälle Aufmerksamkeit gewidmet, dem anderen jedoch mangels überregionaler Relevanz nicht. Offenbar auch deshalb entschloss man sich dazu, über beide Ereignisse in einem Aufwasch zu berichten und dies unter „Angriffe rund um Silvester“ zu subsumieren.
Etwas anders betrachtet man die Sache in Teilen der Politik oder in den Reihen sogenannter „Radikalisierungsexperten“. Einige von ihnen bringen den Begriff des „Terroranschlags“ ins Spiel und warnen vor einer „Entpolitisierung“, wie sie durch die Erwähnung der Tatsache drohe, dass der Amokfahrer Andreas N. an psychischen Problemen litt und 2005 bereits wegen Schizophrenie in stationärer Behandlung war.
Grüne: Kein Zusammenhang zwischen Breitscheidplatz-Attentat und Flüchtlingspolitik, doch definitiv einer zwischen Bottrop und „rechten Netzwerken“
Irene Mihalic, die innenpolitische Sprecherin der Grünen, hatte wenige Tage nach dem IS-Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 im DLF noch dafür plädiert, „zunächst einmal einen kühlen Kopf zu bewahren, die Sicherheitsbehörden ihre Arbeit machen zu lassen“. Sie fand es „an dieser Stelle nicht angemessen, das Thema Flüchtlingspolitik […] mit dieser Tat in irgendeinen Zusammenhang zu bringen, solange wir noch nicht definitiv wissen, welche Hintergründe diese Tat gehabt hat“.
Im Fall der Amokfahrt von Essen und Bottrop hält sie die Zeit demgegenüber durchaus für reif, um Schlussfolgerungen zu ziehen. Insbesondere äußerte sie gegenüber der Zeitung „Der Westen“ Bedenken dahingehend, „dass jetzt nicht zu schnell wieder der Deckel auf den Fall gemacht wird und man sich vielleichtvoreilig auf die These eines psychisch kranken Einzeltäters festlegt, der komplett kontextlos handelte“.
Die NSU-Morde und auch aktuelle rechtsterroristische Aktivitäten belegten, „wie gefährlich es ist, den Blick für Netzwerke und Umfeld zu verschließen“. Nach derzeitigen Erkenntnissen der Polizei hatte der Tatverdächtige allerdings keinerlei Verbindung zu rechtsextremistischen Kreisen.
Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wollte mit Blick auf die Amokfahrt am Mittwoch mangels allfälliger Anhaltspunkte nicht von Terrorismus sprechen. Vielmehr weisen die Tatumstände auf eine spontane Tat hin.
Neues Deutschland: Begriff „fremdenfeindlich“ ist „rassistisch“
Der Beschuldigte soll sich nach wie vor in psychiatrischer Behandlung befinden. Vor diesem Hintergrund will die zuständige Essener Staatsanwaltschaft einem Bericht des „Kölner Stadt-Anzeigers“ zufolge die Frage seiner Schuldfähigkeit durch einen Gutachter überprüfen lassen. Ein möglicher Trigger-Faktor könnte auch das Ende einer Beziehung vor der Tat und die dadurch verbundene Erfahrung der Einsamkeit am Silvesterabend gewesen sein. Diesen Umstand erwähnte die „Rheinische Post“, die sich dabei auf Insiderinformationen berief.
Die extreme Linke wittert hinter der Analyse der persönlichen Hintergründe des Tatverdächtigen zunehmend den Versuch, den „Rassismus“ zu verharmlosen, der nach ihrer Überzeugung die eigentliche Ursache sei. So forderte die Grüne Jugend NRW auf Twitter den Rücktritt des Landesinnenministers Herbert Reul, weil dieser ihrer Meinung nach„Rassismus als persönliche Betroffenheit verharmlost“ habe.
Das ehemalige SED-Organ „Neues Deutschland“ hält es in diesem Zusammenhang für an der Zeit, den Leser darüber zu belehren, dass bereits die Verwendung des Begriffes „fremdenfeindlich“ als solche „rassistisch“ sein könnte.
Der „Extremismusexperte“ Florian Hartleb zieht in der „Welt“ wiederum eine Parallele zu islamistischen Gewalttätern, bei denen zum einen der Tätertyp des „einsamen Wolfs“ ebenfalls gegenüber dem gruppenmäßig organisierten Vorgehen an Bedeutung gewinnt – und zum anderen persönliche und politische Motive ineinanderfließen.
Wachsendes Bedrohungsgefühl
Anders als im Fall islamistischer Anschläge, wo regelmäßig rasch vor Verallgemeinerungen und der Herstellung von Zusammenhängen mit dem Islam als Religion und solchen mit der Flüchtlingspolitik gewarnt wird, scheint Hartleb in diesem Fall eher eine zu enge Fassung des Täterumfelds für problematisch zu halten:
Ein verharmlosender Effekt im Zusammenhang mit den psychischen Erkrankungen der Täter ist leider oftmals der Fall, wie das Attentat von David S. in München gezeigt hat. Ich war dort Gutachter und wehre mich gegen die Darstellung der Behörden, der Täter sei vor allem Mobbingopfer gewesen, denn dadurch werden die Motive solcher Fälle allein im persönlichen Bereich gesucht. Das führt zu einer Entpolitisierung. Dabei häufen sich diese Fälle nicht zufällig im Zuge der Migrations- und Flüchtlingsdebatte, die stark polarisiert und die Gesellschaft entzweit.“
Auch der Kriminologe Hans-Dieter Schwind sieht eine Ursache von Amokfahrten wie in der Silvesternacht in Bottrop und Essen mit acht Verletzten in einem wachsenden Bedrohungsgefühl durch die Zuwanderung.
„Es brodelt in den Leuten, und dann kommt es plötzlich zum Ausbruch“, sagte Schwind der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ (Donnerstagsausgabe). „Das ist eine gefährliche Entwicklung. Ich habe einen solchen Fall schon viel früher erwartet“, sagte Schwind, der an der Ruhr-Universität Bochum und der Uni Osnabrück lehrte.
Solche Amokfahrten oder auch die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte der vergangenen Monate seien die extreme Spitze einer allgemeinen Entwicklung, „und ich befürchte, dass sich dies fortsetzt“, so Schwind. „Die Willkommenskultur ist am Ende“, fügte er hinzu.
(Mit Material von dts)
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