„Pandemie der Ungeimpften“? Wie es wirklich war

Der Satz von Jens Spahn über die „Pandemie der Ungeimpften“ hat bisweilen die größte Berichterstattung zu den geleakten RKI-Protokollen erfahren. Spahn verteidigt den Spruch von damals. Ist das gerechtfertigt?
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Lothar Wieler (l.) und Jens Spahn.Foto: Pool/Getty Images
Von 31. Juli 2024

Wir erleben gerade eine Pandemie der Ungeimpften.“

Diesen trügerischen Satz hatte Jens Spahn zum ersten Mal am 25. August 2021 während einer Debatte im Bundestag benutzt. Er wurde von ihm und zahlreichen Politikern, Medienschaffenden und Ärzten wie ein Mantra im Winter 2021/2022 wiederholt.

Fachlich sei das nicht korrekt, urteilte damals das RKI, wie nun aus den geleakten Protokollen der Behörde hervorgeht. In dem Dokument vom 5. November 2021 heißt es: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“ Die Antwort dazu: „Sagt Minister [gemeint ist wohl Jens Spahn] bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“

RKI-Files vom 5. November 2021: Das RKI vermerkt, dass von einer „Pandemie der Ungeimpften“ fachlich nicht die Rede sein könne. Foto: Grafik/RKI

Korrigiert hat es Jens Spahn auch jetzt nicht. Vielmehr verteidigt er seine Behauptung und sieht keinen Widerspruch zu den Einschätzungen des RKI:

„Damit war gemeint bei mir, dass wir auf den Intensivstationen damals vor allem Menschen ohne Impfungen gesehen haben, die schwere und schwerste Verläufe hatten“, so Spahn gegenüber dem ZDF. Das sei die Situation gewesen, „die das Gesundheitssystem zu überfordern drohte“.

Der Sender erwähnt, dass der Impfstatus von Intensivpatienten bundesweit erst Anfang 2022 erfasst wurde. Zuvor sei es möglich gewesen, Daten abzufragen.

Doch die Daten sind irreführend.

Verzerrte Statistik

Peter Tschentscher (SPD), der Erste Bürgermeister von Hamburg, erklärte auf einer Pressekonferenz am 16. November 2021, dass 90 Prozent der Corona-Infizierten ungeimpft seien. Deswegen sei das ein sehr klares Bild, so Tschentscher damals. Er bezog seine Aussage auf die Kalenderwoche 45 (8.-14. November 2021).

Doch die Anfrage der FDP-Bürgerschaftsabgeordneten Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein enthüllte ein ganz anderes Bild. Sie fragte nach einer konkreten Aufschlüsselung der Daten. In besagter KW 45 sah demnach der Impfstatus der Infizierten in Hamburg so aus:

  • 63,2 Prozent Impfstatus unbekannt
  • 22,5 Prozent Geimpfte
  • 14,3 Prozent Ungeimpfte

In anderen Kalenderwochen waren die Werte vergleichbar.

Die Ableitung des Hamburger Senats zu einer „Pandemie der Ungeimpften“. Originalquelle: Drucksache 22/6678 Hamburger Senat Bild: Bildschirmfoto von X/@MeowMuhCow

Anscheinend hatte der Hamburger Senat Personen mit unbekannten Impfstatus einfach den Ungeimpften zugeordnet. „Die Welt“ berichtete als Erstes über diese Verzerrung.

Die Zählweise in Hamburg war kein Einzelfall. Auch in Bayern bedeutete der Impfstatus „unbekannt“ automatisch „ungeimpft“. Ohne darauf hinzuweisen, twitterte Markus Söder im November 2021: „Leider nehmen die Corona-Infektionen gerade bei Ungeimpften dramatisch zu. Es gibt einen direkten Zusammenhang von niedrigen Impfquoten und hohen Infektionsraten. Lassen Sie sich daher bitte impfen. Nur Impfen hilft.“

Erneut gehörte Tim Röhn von der „Welt“ zu den Journalisten, die auf den Datenmissbrauch aufmerksam machten.

„Welt“-Chefreporter Tim Röhn in einem Tweet vom 17. Dezember 2021. Bild: Bildschirmfoto X/@Tim_Roehn

Der Vorfall hatte für Walter Jonas, den Präsidenten des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), eine Versetzung zur Folge. Anfang 2022 wurde er Regierungspräsident der Oberpfalz. Die Inzidenzausweisung, die zwischen Geimpften und Ungeimpften getrennt hatte, wurde Ende 2021 in Hamburg und Bayern eingestellt.

Tschentscher berichtigte die Daten in einer Pressekonferenz im Januar 2022. Dort erklärte er, man sei sich nicht im Klaren gewesen, dass man die Zahlen so explizit trennen müsse. Er werde „noch vorsichtiger sein“, zitiert ihn der „Tagesspiegel“.

Als erstes Bundesland hatte Hamburg mit Verweis auf die Inzidenz der Ungeimpften 2G-Regeln im Sommer 2021 eingeführt.

Eine Entschuldigung der Maßnahmen-Hardliner Söder und Tschentscher erfolgte bis dato nicht.

Verlässliche Daten des RKI?

In der RKI-Sitzung vom 1. September 2021 heißt es im Protokoll: „Inzidenz der ungeimpften symptomatischen, hospitalisierten Fälle pro 1 Million Einwohner ist um den Faktor 10 höher als die entsprechende Inzidenz geimpfter Fälle, sowohl bei den über als auch unter 60-Jährigen“.

Gleichzeitig wird auf die Limitation der Daten hingewiesen: „Jegliche Hospitalisierungen wurden einbezogen unabhängig von der Ursache, [dem] hohe[n] Anteil fehlender Impfangaben (16%), ausstehende[r] Nachmeldungen“.

RKI-Files vom 1. September 2021: Inzidenz der Ungeimpften und Limitation. Foto: Grafik/RKI

Auch beim RKI wurde bis Ende September 2021 unsauber gezählt. „Correctiv“ schreibt dazu: „Über Monate hat das RKI alle an COVID-19 erkrankten Menschen, die nicht vollständig geimpft waren, in einen Topf geworfen. Sie alle wurden als ‚ungeimpft‘ eingestuft. Darunter waren jedoch auch Personen, deren Impfstatus unbekannt ist.“

Dafür seien fehlgeschlagene Ermittlungen oder fehlende Ressourcen der Gesundheitsämter und Kliniken verantwortlich, so RKI-Pressesprecherin Susanne Glasmacher.

Bezüglich der Dunkelziffer bei gemeldeten Corona-Todesfällen wurden bei den Analysen des RKI zu Impfdurchbrüchen und Impfeffektivität fast zwei Drittel (63 Prozent) nicht berücksichtigt, zeigt „Regensburg Digital“ im März 2022. Das Portal fragte den Münchner Statistikprofessor Göran Kauermann, der einen großen Nachholbedarf bei der Datenerfassung in Deutschland konstatiert: „In Zeiten von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Data Science“ gebe es in Deutschland „eine Datenebbe“.

Die Frage ist berechtigt, ob saubere Daten für evidenzbasiertes Handeln vonseiten der Politik überhaupt erwünscht waren. Dazu hat sich Datenanalyst Tom Lausen vielfach geäußert. Seine Stellungnahme als Einzelsachverständiger im parlamentarischen Gesundheitsausschuss des Landes Rheinland-Pfalz beginnt mit folgenden Worten:

In Rheinland-Pfalz wurden während der COVID-19-Pandemie bis heute gravierende Defizite im Vollzug von Gesetzen und Meldepflichten bei Datenübermittlungen offenkundig. Diese Vollzugsdefizite liegen im Verantwortungsbereich der Landesregierung, der Gesundheitsämter, der Kassenärztlichen Vereinigung RLP und der Ordnungsbehörden in RLP und haben besonders die Überwachung der Sicherheit und Wirksamkeit der neuartigen COVID-19-Impfstoffe betroffen.“

In Weimar hatte Oberbürgermeister Peter Kleine (parteilos) schon Ende Oktober 2021 erklärt, bei COVID-Patienten nicht mehr nach geimpften und ungeimpften Patienten zu unterscheiden. Die „Thüringer Allgemeine“ (Bezahlschranke) zitiert den OB wie folgt:

Wir wollen in unserer Zahlenmeldung so transparent wie irgendwie möglich sein. Die Angabe der Personen, die mit Impfung im Klinikum behandelt werden, verzerrt die Realität jedoch deutlich und spielt damit Corona-Leugnern und Impfgegnern in die Hände.“

DIVI-Intensivregister mit Impfstatus

Mit der DIVI-Intensivregister-Verordnung vom 12. November 2021 sollte eine bundesweit einheitliche Erfassung des Impfstatus von COVID-Intensivpatienten eingerichtet werden. Es gab folgende Kategorien:

  • keine aktive Immunisierung (nicht geimpft)
  • genesen (nicht geimpft)
  • Teil-Immunisierung (unvollständige Impfung)
  • vollständige Impfung und davon jene mit Auffrischimpfung

Allerdings war weiterhin unklar, ob ein Intensivpatient aufgrund eines kritischen Verlaufes von COVID-19 oder aufgrund einer anderen Diagnose intensivmedizinisch behandelt wurde und eine Infektion mit SARS-CoV-2 nur eine Nebendiagnose darstellte.

Die Pressesprecherin des Krankenhauskonzerns Helios, der in Deutschland 86 Kliniken betreibt, erläutert auf Anfrage des Magazins „Multipolar“ die Problematik: „Wir melden unsere Daten den zuständigen Gesundheitsämtern. In den uns von den Ländern zur Verfügung gestellten Meldeformularen wird nicht unterschieden, ob eine COVID-19-Diagnose der Grund für die Krankenhauseinweisung war oder ob die Infektion erst durch einen positiven PCR-Test im Krankenhaus entdeckt wurde.“

Ungleiche Testgrundlagen

Die mittlerweile berühmte Frage „an oder mit COVID-19?“ war also auch 2022 weiterhin unklar. Überdies verzerrt wurde das statistische Bild durch die Tatsache, dass geimpfte Menschen ohne Symptome bei einem Krankenhausaufenthalt im Regelfall nicht getestet wurden. Ungeimpfte Menschen wurden bei Einweisung in ein Krankenhaus in jedem Fall getestet.

Hatte ein nicht geimpfter Patient also einen positiven Corona-Test, wurde dieser in der RKI-Statistik als Corona-Fall gezählt, unabhängig von den Einlieferungsgründen, wie schwere Verletzungen durch einen Unfall.

In einem Faktencheck erklärt „Correctiv“, dass ebenso geimpfte Personen, die einen asymptomatischen Verlauf zeigen und einen positiven PCR-Test haben, vom RKI erfasst würden. Der wesentliche Punkt ist den Faktencheckern allerdings nur vier Worte wert: „sofern sie bemerkt werden“. Die Tatsache, dass geimpfte Menschen ohne Symptome seit Mitte 2021 größtenteils gar nicht mehr getestet wurden, wird im Artikel nicht näher erwähnt.

Aufruf in „The Lancet“

Im November rief Professor Dr. Günter Kampf im renommierten Fachjournal „The Lancet“ hochrangige Politiker und Amtsinhaber dazu auf, die Stigmatisierung Ungeimpfter zu unterlassen. Er zeigte – wie auch vom RKI erwähnt – dass geimpfte Personen ebenfalls zum Pandemiegeschehen beitragen:

„In Massachusetts, USA, wurden im Juli 2021 bei verschiedenen Ereignissen insgesamt 469 neue COVID-19-Fälle festgestellt. 346 (74 %) dieser Fälle traten bei Personen auf, die vollständig oder teilweise geimpft waren, 274 (79 %) davon waren symptomatisch. (…) In den USA wurden bis zum 30. April 2021 insgesamt 10.262 COVID-19-Fälle bei geimpften Personen gemeldet, von denen 2.725 (26,6 %) asymptomatisch waren, 995 (9,7 %) ins Krankenhaus eingeliefert wurden und 160 (1,6 %) starben.

In Deutschland waren 55,4 % der symptomatischen COVID-19-Fälle bei Patienten im Alter von 60 Jahren oder älter bei vollständig geimpften Personen zu verzeichnen und dieser Anteil nimmt jede Woche zu.“

Obwohl diese Tatsachen bekannt waren, verbreitete sich der Slogan „Pandemie der Ungeimpften“ wie ein Lauffeuer.

Noch immer im Ohr sind die Worte der MDR-Redakteurin Sarah Frühauf in einem Kommentar der „Tagesthemen“:

Na herzlichen Dank an alle Ungeimpften! Dank euch droht der nächste Winter im Lockdown.“

Bei Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery war es gar die „Tyrannei der Ungeimpften“, die an der Misere Schuld hatte. Im Januar 2022 bekräftigte Montgomery seine Aussage im Interview mit der Schweizer Zeitung „Blick“:

Damals hat sich noch kein Mensch getraut zu sagen, dass wir Ungeimpfte und Geimpfte unterschiedlich behandeln müssen. Heute ist das Standard. Ich bin sogar ein bisschen stolz, dass ich das angestossen habe.“

Weltweite Diskriminierung

Die Politikwissenschaftler Alexander Bor, Frederik Jørgensen und Michael Bang Petersen zeigen in einer Untersuchung im Magazin „Nature“, dass Ungeimpfte in 19 von 21 untersuchten Ländern diskriminiert und stigmatisiert wurden. Ausnahmen bilden Ungarn und Rumänien. Die Autoren stellten fest, dass diskriminierende Einstellungen in Kulturen mit stärkeren kollektiven Normen deutlicher ausgeprägt waren. In Deutschland und den USA hat die Untersuchung zudem negative Einstellungen von Ungeimpften gegenüber Geimpften festgestellt. Der Slogan „Pandemie der Ungeimpften“ wurde vor allem in diesen beiden Ländern benutzt.

Ausgrenzende Haltungen in Familienbeziehungen gegenüber Ungeimpften. Bild: Bildschirmfoto „The Lancet“/Bor, Jørgensen, Bang Petersen

Vergessen, verzeihen?

Wahrscheinlich hat kein anderer Satz die Gesellschaft während der Corona-Zeit mehr gespalten als „die Pandemie der Ungeimpften“.

Gesagt wurde er das erste Mal im Juli 2021 von Rochelle Walensky, der Direktorin des Centers for Disease Control and Prevention (CDC), bezüglich der Krankenhausbelegungen in den USA: „Es gibt eine klare Botschaft, die sich durchsetzt: Dies wird zu einer Pandemie der Ungeimpften“, erklärte Walensky bei einer Pressekonferenz. Präsident Joe Biden hat die Botschaft vielfach wiederholt.

Die Verantwortlichen von damals versuchen momentan ihre Handlungen zu rechtfertigen.

Der bayerische Ministerpräsident, der den Satz ebenfalls in den Mund nahm, erklärte kürzlich im ZDF: „Ich habe überhaupt nichts gegen eine Aufarbeitung, aber ich habe etwas dagegen, dass man versucht, im Nachhinein eine insgesamt große Leistung der deutschen Politik kaputtzureden.“

Der ehemalige Gesundheitsminister hat schon 2022 vorgelegt in seinem Buch mit dem Titel „Wir werden uns viel zu verzeihen haben“. Die Journalistin Aya Velázquez bezeichnet es als „postpandemische Läuterungsprosa“.

Spahn beklagt, wie „Spannungen und Spaltungen in der Gesellschaft zunahmen“. Seine Rolle dabei korrekt zu benennen, steht noch aus.

Soweit Politiker eine Aufarbeitung befürworten, muss auch die Bereitschaft bestehen, für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen.

Das wäre eine Voraussetzung fürs Verzeihen.

 

ADENDUM
Aufgrund eines Leserhinweises wurde der Text korrigiert. Vorher hieß es im Artikel, Jens Spahn habe den Slogan „Pandemie der Ungeimpften“ zum ersten Mal am 3.11.21 benutzt. Der Autor bedankt sich für den Hinweis.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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