Mobbing an deutschen Schulen: Schwere Vorwürfe gegen Schulleitung nach Kinder-Selbstmord in Berlin
Der Umgang mancher Medien in Deutschland mit dem Thema Selbstmord, insbesondere unter Jugendlichen, erinnert an die Jahre nach dem Erscheinen von Goethes bekanntem Werk über die „Leiden des jungen Werther“. So betont etwa die B.Z. im Disclaimer zu ihrem Beitrag über den jüngst bekannt gewordenen Selbstmord eines elfjährigen Mädchens an einer Hausotter-Grundschule in Berlin-Reinickendorf, man berichte „in der Regel nicht über Selbsttötungen, um keinen Anreiz für Nachahmung zu geben – außer, Suizide erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit“.
Im Fall der elfjährigen Schülerin aus Berlin ließ sich die Aufmerksamkeit nicht mehr vermeiden. Längst war die Nachricht über den Fall des Mädchens, das sich auf Grund systematischen Mobbings das Leben genommen hatte, durch soziale Medien gegangen – oft in einer Weise, die das Problem fortgesetzter Schikane in einen stark ethnisierenden Kontext rückte.
Im Bereich der Statistik stammen die letzten veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu Suiziden in Deutschland nach Altersgruppen aus dem Jahr 2016. Zwar bestätigte sich darin die grundlegende Tendenz, wonach die Selbstmordhäufigkeit mit zunehmendem Alter ansteigt und Männer dabei überrepräsentiert sind, allerdings nahmen sich in der Altersgruppe zwischen 10 und 15 Jahren damals bereits 17 Kinder und Jugendliche das Leben (9 männlich, 8 weiblich), in der Gruppe der 15- bis 20-Jährigen waren es 205 (139 männlich, 66 weiblich).
Repräsentative Zahlen schwer zu finden
Aussagekräftige Statistiken über Mobbing und Gewalt an Schulen sind noch seltener zu finden, zumal mehrere Faktoren die Erlangung einer verlässlichen Datenbasis erschweren. Dazu gehört beispielsweise schon, dass Betroffene aus Angst oder Scham schweigen. Darüber hinaus bleiben die Vorfälle oftmals nicht auf die Schule beschränkt, sondern werden durch Handlungen in der Freizeit sowie in sozialen Medien ergänzt und fortgesetzt.
Was das Online-Mobbing anbelangt, hatten bei einer Umfrage der Initiative „Stop Cybermobbing“ mehr als 30 Prozent der Schüler zwischen 11 und 13 Jahren und über 60 Prozent der 14- bis 16-Jährigen angegeben, sie seien schon mindestens einmal „online beleidigt“ worden.
Zudem aber erweisen sich Verantwortliche in Schulleitung und Lehrkörper nicht immer in der Lage, ihrer in den jeweiligen Landesschulgesetzen verankerten Verpflichtung zu genügen, die seelische und körperliche Unversehrtheit ihrer Schüler zu schützen – und auffälligen Anhaltspunkten für Vernachlässigung und Misshandlung nachzugehen.
Auch im Fall des elfjährigen Mädchens, das sich in Berlin das Leben genommen hat, werden Vertuschungsvorwürfe laut. Eltern hatten bereits seit Jahren über zunehmende Vorfälle von Gewalt und Mobbing an der Schule geklagt und die sowohl in Einzelgesprächen als auch in Versammlungen von Gremien angesprochen. Die „Potsdamer Neuesten Nachrichten“ zitieren Elternvertreter Daniel Richter, der sagte, sein Sohn habe seit Jahren von Prügeleien und Gewalt zwischen den Kindern berichtet – und sei auch selbst betroffen gewesen.
Neben ihm hätten auch weitere Elternvertreter Gewalt und Mobbing zur Sprache gebracht, die Problematik sei jedoch konsequent verharmlost und vertuscht worden. Elternvertreterin Jessica Bittner schildert im „Berliner Kurier“, dass sich auch Lehrkräfte an erniedrigender Behandlung von Schülern beteiligten. Gegen eine Lehrerin seien sogar zwei Strafanzeigen wegen Körperverletzung gestellt worden.
Maulkorb für Elternvertreter?
Schulleiterin Daniela Walter hingegen erklärte der BZ, dass bezüglich der Elfjährigen lediglich im vergangenen Schuljahr Konflikte mit Mitschülern ihrer vierten Klasse bekannt gewesen wären. Es sei um verbale Auseinandersetzungen gegangen. Gespräche mit Eltern und der Klasse sowie das Ausscheiden der Involvierten aus dem Klassenverband hätten eine Bereinigung der Situation bewirkt. Gegenüber RBB sagte sie, es gebe zwar Konflikte, aber auch Konfliktlotsen unter den Schülern und eine gute Schulsozialarbeit.
Daniel Richter hingegen wirft der Schulleitung vor, das Thema Mobbing unter den Teppich zu kehren. Die Direktorin habe gar mit Hinweis auf ihr Hausrecht gedroht, eine Sitzung der Elternvertretung zu beenden, sollte das Thema angesprochen werden. Auch das Schulamt sei informiert gewesen. Die Stimmung bei einer Trauerkundgebung am Sonntagabend, an der 150 Personen teilgenommen hatten, war Medienberichten zufolge spürbar geladen. Dass die Schule, wie die „Berliner Zeitung“ berichtete, Blumen und Kerzen hatte wegräumen lassen, dürfte die Lage kaum entspannt haben.
Norman Heise, Vorsitzender des Landeselternausschusses Schule, erklärte gegenüber der Berliner Zeitung, der Vorfall zeige „auf tragische Weise, dass man sich mit jedem Fall von Mobbing individuell befassen muss“. Am zaghaften Vorgehen der Schule übte er Kritik: „Wenn es stimmt, dass über die Gesamtelternvertretung alle Ebenen der Schule und Verwaltung informiert waren, dann ist es aus meiner Sicht fahrlässig, dass es keine Reaktion gab.“
Anti-Mobbing-Trainer Carsten Stahl, der bundesweit an Schulen Präventionsarbeit leistet, wirft in der gleichen Publikation der Politik vor, das Problem vernachlässigt zu haben:
Schüler und Eltern fühlen sich von der Schulverwaltung im Stich gelassen. Schulsenatorin Scheeres muss diese Themen endlich ernst nehmen und nicht nur Kitas eröffnen.“
Es fehle an flächendeckender Vorbeugung und Aufklärung, Lehrer und Sozialarbeiter müssten diesbezüglich ausgebildet werden. In Berlin komme im Schnitt auf 350 Schüler nur ein Schulpsychologe.
Im September 2018 fragte Stahl bei einer Anti-Mobbing-Veranstaltung des SPD-Wahlkreisabgeordneten Thorsten Karge in der Nähe der Hausotter-Grundschule in die Menge der etwa 150 Schüler, die daran teilgenommen hätten, ob diese schon mal so stark gemobbt worden seien, dass sie an Selbstmord gedacht hätten. Von den Befragten hätten 25 die Hand gehoben.
Mobbing nicht der einzige Faktor, aber vielleicht der entscheidende
Das Problem einer Zunahme des Mobbings an Schule und dadurch bedingten Eskalationen in Form von Amokläufen oder Selbstmorden ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in den USA hatte es allein 2018, wie „USA Today“ berichtet, mindestens drei Fälle gegeben, in denen sich Kinder unter 12 Jahren das Leben genommen.
Mobbing sei dabei im Regelfall nicht der einzige Faktor, der zu solchen Entschlüssen Anlass gebe, es gebe keinen Automatismus dahingehend. Allerdings würde das Vorliegen zusätzlicher Faktoren wie des Fehlens einer intakten Familie, Depressionen, Rückzugstendenzen und anderer psychischer Probleme in Summe die Gefahr vergrößern, meint Koordinator John Ackerman von Zentrum für Suizidprävention und Forschung am landesweit tätigen Kinderkrankenhaus von Columbus, Ohio.
Soziale Medien, in die sich Betroffene zurückzögen, könnten die Effekte noch steigern, insbesondere wenn die Kinder keine Strategie hätten, um dem Konsum Grenzen zu setzen. Oft sei es ein Teufelskreis: „Sie haben weniger Auswahl, wenn es darum geht, mit wem sie Zeit verbringen“, schildert Ackerman. „Wenn sich die Situation so zeigt, dass es für sie permanent nur negative Interaktionen und Stressfaktoren gäbe, bleiben sie nur noch länger in den sozialen Medien.“ Diese könnten jedoch „negativ und feindselig“ sein, und die Kinder hätten wenig Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten.
Eine Langzeitstudie des Zentrum für Seuchenkontrolle und -prävention, die im Jahr 2017 abgeschlossen wurde, hatte zum Ergebnis, dass insgesamt 17 Prozent aller High-School-Schüler gemobbt würden, etwa sieben Prozent hätten Selbstmordversuche unternommen. Ein Bericht des National Center for Education Statistics aus dem gleichen Jahr sprach von 21 Prozent aller Schüler, die Mobbingopfer geworden seien.
Fehlende Stromlinienform als Risikofaktor
Als Mobbing-gefährdet gelten vor allem Kinder mit Besonderheiten, die von Körpergröße oder Statur über Gewicht, Kleidung, Hautfarbe oder Religion bis hin zu Eigenheiten wie Ängstlichkeit, Schüchternheit, Autismus oder Fürsorglichkeit der Eltern reichen können. Die Dunkelziffer der Fälle ist hoch, und glaubt man Experten wie Carsten Stahl, ist sie deutlich im Steigen begriffen. Die Bereitschaft zur Selbstreflexion im Schulwesen scheint unterdessen nicht im gleichen Ausmaß zu steigen.
Möglicherweise wirken auch zu viele übergeordnete Interessen mit, um dem immer unübersehbarer wuchernden Problem von Mobbing, Gewalt und gebrochenen Kinderseelen an öffentlichen Schulen schon an der Wurzel entgegenzuwirken.
Anders als in der Katholischen Kirche, wo es als politisch und medial akzeptiert gilt, Missbrauchsskandale zum Anlass zu nehmen, um jahrhundertealte Strukturen und Lehren infrage zu stellen, ist eine solche Neigung zur fundamentalen Kritik im Fall des staatlichen Schulwesens kaum feststellbar.
Izzy Kalman schreibt in „Psychology Today“, er beobachte in ähnlichen Fällen stets das gleiche Muster. Die betroffenen Schulen würden eifriger damit beschäftigt sein, den Verdacht zurückzuweisen, Mobbing an ihrer Einrichtung hätte einen Selbstmord herbeigeführt, als ihre Anteilnahme bezüglich des Todes des betroffenen Kindes selbst zum Ausdruck zu bringen.
Dies habe möglicherweise damit zu tun, dass man gerichtlichen Klagen entkommen will, die sich regelmäßig zuerst gegen die Schulverantwortlichen selbst richteten. Es greife aber zu kurz – es sei vielmehr die Frage zu stellen, ob der Selbstmord auch dann stattgefunden hätte, wenn es das Mobbing nicht gegeben hätte.
Macht Schulpflicht potenzielle Opfer zu Freiwild?
Sehr selten wird aber auch die Frage gestellt, ob nicht ein staatsdominiertes, auf Schulpflicht und damit Anwesenheitspflicht setzendes Schulsystem selbst Teil des Problems sei. Ein Schulsystem wie in vielen US-Bundesstaaten, das auf dem Prinzip der freien Marktwirtschaft beruht, könnte die Lage entschärfen. Das School-Choice-System betrachtet Bildung als Dienstleistung mit Eltern und Kindern als Kunden. Gutscheine sichern dort die Wahlfreiheit. Dies eröffnet auch die Chance, Mobbingopfer durch Schulwechsel oder Homeschooling dem Zugriff der Täter zu entziehen.
Gänzlich ausschließen ließen sich Mobbingfälle wie jener in Berlin-Reinickendorf dadurch zwar auch nicht, aber die Möglichkeiten, ihnen entgegenzuwirken, würden möglicherweise größer. Insbesondere könnten Eltern eigenständig handeln, ohne erst die Reaktionen der Schulbehörden abwarten zu müssen.
Diese kritisiert beispielsweise der Publizist Klaus Kelle auch im aktuellen Fall – und wirft den Verantwortlichen vor, aus ideologischen Gründen Scheinprobleme zu betonen statt tatsächliche Missstände wahrzunehmen. Auf „Berlin jetzt“ kommentiert er:
Die Direktorin versprach jetzt allen Ernstes, einen ‚Trauerraum‘ einrichten zu wollen. Hilfloser Aktivismus in Zeiten des Kontrollverlustes auch an manchen Schulen der Hauptstadt. Alle haben es gewusst, viele haben es selbst erlitten – energisch eingeschritten ist keiner. Keiner steht diesen Kindern in ihrer Not zur Seite. Aber der Senat lässt Broschüren an den Schulen verteilen, in denen die Eltern vor Kindern gewarnt werden, die höflich sind und Zöpfe tragen. Das könnten nämlich böse ‚rechte Eltern’ sein…”
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