Linke, die linke Dinge tun: Rot-Grün-Rot in Bremen lässt Illusionen über „liberale“ Grüne platzen
Nach der am Donnerstag (6.6.) verkündeten Entscheidung der Grünen in Bremen, mit der SPD und der Partei „Die Linke“ Koalitionsgespräche aufzunehmen und damit der SPD auch nach 72 Jahren den Verbleib an der Regierung im Stadtstaat zu sichern, hat in bürgerlichen Kreisen Katzenjammer ausgelöst.
Am 26. Mai hatte die SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Carsten Sieling fast acht Prozent ihrer Stimmen verloren und war auf 24,9 Prozent abgestürzt. Für die Sozialdemokraten, die sich im Stadtstaat zwischen 1955 und 1987 noch regelmäßig nahe an der absoluten Mehrheit oder darüber bewegt hatten, war es das schlechteste bremische Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Im Gegenzug konnte die CDU unter ihrem Spitzenkandidaten Carsten Meyer-Heder entgegen dem bundesweiten Trend der am gleichen Tag stattfindenden EU-Wahl mehr als vier Prozent zulegen und mit 26,7 Prozent erstmals den ersten Platz in der Wählergunst belegen.
Das für Bremer Verhältnisse höchst ungewöhnliche Ergebnis weckte vor allem in Kreisen der CDU und der FDP Hoffnung, zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik eine Regierung unter einem Bürgermeister bilden zu können, der nicht aus der SPD kommt.
CDU und FDP zu weitreichenden Zugeständnissen bereit
Rechnerisch hätte es trotz des Einzugs zweier Rechtsparteien (AfD und „Bürger in Wut“) in die Bürgerschaft für eine einigermaßen stabil abgesicherte „Jamaika“-Koalition aus CDU, Grünen und FDP auch gereicht – und damit für eine Chance, jenes Modell, das im Bund 2017 bereits im Stadium der Koalitionsgespräche gescheitert war, zumindest auf einer weiteren Länderebene zu etablieren. Derzeit gibt es eine solche Konstellation nur in Schleswig-Holstein. Im Saarland gab es „Jamaika“ von 2009 bis 2012 – was mit einem Fiasko für die FDP endete. In Bremen sollte nun alles anders werden.
Union und FDP haben die Rechnung dabei allerdings ohne die Grünen gemacht. Auch wenn davon auszugehen gewesen wäre, dass die Ökosozialisten nach ihrem Rekordergebnis bei der EU-Wahl und ihren 17,4 Prozent im Stadtstaat den bürgerlichen Parteien weitreichende Zugeständnisse abgerungen hätten, haben sie sich dazu entschlossen, die Option links davon zu wählen.
Statt der erhofften „bürgerlichen Reformkoalition“, die einen „Aufbruch“ signalisieren sollte, darf die SPD routiniert weiterverwalten – zudem darf erstmals in einem westdeutschen Bundesland die Nachfolgepartei der ehemaligen DDR-Staatspartei SED mitregieren.
Pikanterweise gilt der Landesverband der Linken in Bremen als politisch besonders extrem. Neben einem ungeklärten Verhältnis zur offen extremistischen oder gar gewaltbereiten linken Szene werfen Kritiker der Partei auch vor, ein Hort des antizionistischen Antisemitismus zu sein. Bereits mehrfach waren Mitglieder und Funktionäre der Partei im Zusammenhang mit der Beteiligung an Boykottaktionen gegen Israel aufgefallen. Auch in jüngster Zeit traten Aktivposten der Bremer Linken mit einseitigen und dämonisierenden Aussagen über den jüdischen Staat an die Öffentlichkeit.
„Edukationismus“ tief in linker DNA verwurzelt
Die Entscheidung der Grünen, sich in einer Situation, in der man als Zünglein an der Waage fungiert, im Zweifel für die am weitesten linke Gangart zu entscheiden, läuft einmal mehr dem seit Jahren auch in bürgerlichen Kreisen gepflegten Narrativ zuwider, diese hätten sich zu einer „bürgerlichen“, gar „liberalen“ Partei entwickelt, die mehr oder minder der ideale Regierungspartner für Union und FDP wäre.
Diese Diagnose, bei der vielfach der Wunsch der Vater des Gedanken gewesen sein dürfte, könnte mit dem Umstand zu tun gehabt haben, dass die Anhänger der Grünen primär aus einem Bevölkerungssegment stammen, das soziologisch eindeutig dem Bürgertum zugeordnet werden kann. Bereits der 1988 verstorbene bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß hatte angesichts der ersten Wahlerfolge der Grünen festgestellt: „Grüne Ideen gedeihen nicht in den Quartieren der Arbeiter. Sie gedeihen in den Luxusvillen der Schickeria.“
Die bloße bürgerliche Herkunft ihrer Mitglieder, Wähler und Funktionäre macht aber noch lange keine bürgerliche Partei. Durch die gesamte Geschichte der marxistischen Bewegung hindurch waren es hauptsächlich bürgerliche Intellektuelle, die in den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen die inhaltlichen Impulse setzten – allen Beschwörungen der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt zum Trotz.
Dies empfanden Marxisten auch nie als Widerspruch. Bereits Lenin bekannte sich zu jenem Phänomen, das man auch als „Edukationismus“ bezeichnet – die Arbeiter bedürften demnach einer Avantgarde, der die Aufgabe zukäme, diese intellektuell zu formen. Widrigenfalls würden diese Gefahr laufen, im „falschen Bewusstsein“ zu verharren, das ihnen Familie, Religion, Tradition, klassische Geschlechterrollen oder andere Elemente des „Überbaus der kapitalistischen Produktionsverhältnisse“ anerzogen hätten.
Mitte immer weiter nach links verschoben
Dass die Grünen zunehmend als bürgerliche Partei wahrgenommen wurden, hatte zudem offenbar mit dem Phänomen des verschobenen Overton-Fensters zu tun, das jüngst auch Alexander Wendt in seiner Analyse auf „Publico“ angesprochen hatte. Dabei handelt es sich um eine politikwissenschaftliche Umschreibung der Einschätzung, dass sich die Mitte in Deutschland seit Ende der 1960er Jahre kontinuierlich nach links verschoben hat.
Der 2003 verstorbene US-Politikwissenschaftler Joseph P. Overton hatte mit seinem „Wahrnehmungsfenster“ erklärt, wie sich politische Wahrnehmungen durch Verschiebung verändern können. Gemessen an den Einschätzungen der Bevölkerungsmehrheit können politische und gesellschaftliche Einschätzungen in sechs Stufen eingeteilt werden. Entweder diese seien derzeit gepflegte Politik oder je nach Abstufung populär, vernünftig, akzeptabel, radikal oder undenkbar.
Während jedoch vieles von dem, was in den 1950er Jahren noch offizielle Regierungspolitik war oder als populär, allenfalls zumindest noch als vernünftig angesehen wurde, zumindest in der öffentlichen Meinung heute bereits als radikal oder undenkbar dargestellt wird, haben sich gerade politische Positionen, die Grüne von Anbeginn an kompromisslos verfochten hatten, in der öffentlichen Wahrnehmung von „radikal“ hin zu „vernünftig“, „populär“ oder gar „aktuelle Regierungspolitik“ verschoben.
Bezüglich ihrer grundlegenden ideologischen Überzeugungen haben die Grünen tatsächlich nie irgendwelche Abstriche gemacht – egal, ob es um eine prinzipielle Ablehnung des „kapitalistischen“ Wirtschaftssystems und der damit verbundenen Wachstumsperspektive geht oder um die Notwendigkeit einer „Erziehung“ der Bürger durch den Staat hin zu bestimmten weltanschaulichen Überzeugungen und einer bestimmten Lebensweise. Mit traditionell bürgerlichen oder gar klassisch-liberalen Vorstellungen hat dies jedoch nichts gemein – im Gegenteil. Die Grünen sind, wie jede Analyse ihrer Programmatik und ihrer praktischen Politik erkennen lässt, von Beginn an eine linke, sozialistische Partei gewesen, die an einen mächtigen Staat und staatlichen Zwang glaubt, und sie sind es bis heute geblieben.
„Steuern, Enteignungen, Staatsfanatismus und wirtschaftsfeindliche Sozialismen“
„Die Grünen folgen ihrem linken Landesverband in eine sozialreaktionäre Koalition“, klagt „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt in einem Kommentar, aber, so erklärt er auch, die nunmehrige Koalitionsentscheidung habe dafür gesorgt, dass man jetzt „Klarheit über die Grünen“ habe.
Die Grünen, so Poschardt, seien die „Spielmacher des Augenblicks“. Weder die bürgerliche Opposition Bremen noch das bürgerliche Lager im Bund habe es geschafft, sie zu stellen:
„Nicht in ihrem weithin ungeklärten Verhältnis zu politischen Extremen links, nicht in ihrem gespenstischen Wankelmut, was Steuern und Bürokratie betrifft, nicht in ihren migrationspolitischen Ungenauigkeiten, nicht in ihren wolkigen Klima- und Mobilitätsradikalismen. Einem brillanten Erzähler wie Robert Habeck hören auch diejenigen gerne zu, die am Ende keine Ahnung haben, was er tun wird.“
Insofern sei die Koalitionsentscheidung ein willkommener Realitätscheck. Die Selbststilisierung zur „liberalen“ Partei, wie sie auch Grünen-Sprecher Robert Habeck jüngst betrieben habe, werde „dann lächerlich, wenn Steuern, Enteignungen, Staatsfanatismus und wirtschaftsfeindliche Sozialismen in Koalitionsverträge gehämmert werden“.
Die Grünen seien für liberale Wähler keine Option, weil sie unzuverlässig seien. Wer es mit der Freiheit ernst meine, opfere sie nicht „an der nächsten machttechnischen Straßenecke mit zwei etatistischen Kadern“. Wer „grün wählt aus der noblen Altbauwohnung heraus oder im Villenviertel, bekommt am Ende eine Koalition, die diese Wähler ausnehmen wird wie eine Demeter-Weihnachtsgans“.
Auch Margarete van Ackeren vom „Focus“ warnt, wer im Bund die Grünen wähle in der Hoffnung, „Jamaika“ zu wählen, könne am Ende mit einer Linkskoalition aufwachen.
Freude über „Signal aus Bremen“
„Die Entwicklung in Bremen hat Signalwirkung weit über den Mini-Stadtstaat hinaus“, analysiert die Korrespondentin. „Meyer-Heder und seine Leute rackerten für den Wechsel, FDP-Frontfrau Lencke Steiner signalisierte schon vor der Wahl maximales Entgegenkommen gegenüber den Grünen. Und was tat deren Spitzenkandidatin? Maike Schäfer ließ sich vor der Entscheidung, ganz offiziell, alle Wege offen, kassierte aus beiden ‚Lagern‘ mächtig Stimmen – und zückt jetzt die rot-rot-grüne Karte.“
Dass die Grünen auch im Bund eine Koalition mit der SPD und den SED-Nachfolgern einem Jamaika-Bündnis vorziehen würden, sobald die Mehrheit für ein Linksbündnis stehe, lasse auch die Reaktion auf die Bremer Entscheidung aus der Berliner Bundesgeschäftsstelle der Partei erkennen. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner erklärte: „Ich freue mich über dieses Signal aus Bremen.“
Inwieweit die seit der EU-Wahl allgegenwärtigen Ankündigungen aus Union und FDP, den Wählern „mehr Klimaschutz“ bieten zu wollen, die Chancen auf ein Jamaika-Bündnis erhöhen, bleibt vor diesem Hintergrund weiter unklar. In Summe verlieren auch in den jüngsten Umfragen, die von den Grünen als bundesweit stärkster Kraft ausgehen, SPD und „Die Linke“ mehr an Prozentpunkten als die Ökosozialisten zulegen können.
Zudem neigen Wähler, die sich besonders stark von einem bestimmten Thema mobilisiert fühlen, stets dazu, das vermeintliche „Original“ zu wählen. Die „Kopien“ gewinnen in weiterer Folge auf dessen Terrain kaum dazu – während sie jene Wähler verlieren, die das entsprechende Thema als weniger relevant erachten. Für Union und FDP bedeutet dies, dass sie einmal mehr als das fünfte Rad am Wagen enden könnten.
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