Wie sehr brummt die deutsche Wirtschaft?
Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt. Es schockiert kaum noch, wenn ausgewählte Experten die Wirtschaftsstatistik im besten Lichte präsentieren oder zumindest die offenkundig unerfreulichen Entwicklungen als temporäre Ausreißer kleinreden. Man denke nur an die gegenwärtige Diskussion um die Inflation. Die hohen Preissteigerungsraten seien nur transitorisch – ein Auswuchs von Basiseffekten, unter anderem aufgrund des temporären Absenkens der Mehrwertsteuer, und von überraschend gestiegenen Energiepreisen. Mit einem tieferen strukturellen Problem habe das nichts zu tun.
Man gibt sich betont optimistisch. Zukunftsängste seien fehl am Platz. „Wer wegen der wachsenden Geldentwertung Ängste schürt, argumentiert populistisch und falsch“, so der Präsident des DIW Berlin.
Nun ist das Schüren von Ängsten, – also die bewusst übertriebene Darstellung von möglichen Gefahren – sicherlich eine Sünde und leider viel zu verbreitet in Wirtschaft, Journalismus und vor allem der Politik. Es kann aber auch Sünde sein, mögliche Gefahren bewusst auszublenden und über sie hinwegzutäuschen. Vielleicht ist dies sogar die größere Sünde. Denn der gesunde Pessimist ist angesichts übertriebener Gefahren zumindest gut vorbereitet – und regelmäßig angenehm positiv überrascht. Dem naiven Optimisten geht es anders.
Gerade die Wirtschaftsstatistik ist nicht immer eindeutig. Deshalb sind beim Blick auf die gleichen Daten zuweilen verschiedene Interpretationen möglich. Wenn allerdings das Ausblenden wesentlicher Informationen nötig ist, um beim Blick auf die Statistik Ängste zu vermeiden, gibt es ein ernst zu nehmendes Problem. Naiver Optimismus, der durch Täuschung (oder Irrtum) entsteht, kann gefährlich sein.
Unklare Statistik
Ein Beispiel, das eng mit dem Thema Preisinflation zusammenhängt, hat der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber des Handelsblatts, Gabor Steingart, in seinem Morning Briefing vom 28. Januar geliefert. Steingart gibt eine überaus optimistische Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage in Deutschland ab.
Er präsentiert unter der Überschrift „Deutschland wächst“ die BIP-Daten von 2015 bis 2021 inklusive einer Prognose für das Jahr 2022. Der Leser kann daraus eine vermeintlich erfreuliche Botschaft entnehmen: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt ist von 2015 bis 2021 von 3,03 auf 3,56 Billionen Euro gestiegen.
Bis Ende 2022 wird prognostiziert, dass es auf 3,69 Billionen Euro weiter ansteigen wird. Dies entspräche einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von fast 2,9 Prozent. Und das alles trotz Corona! Hier werden ganz gewiss keine Ängste geschürt, schon gar nicht vor Inflation. Hier wird den Lesern Mut gemacht.
Steingart kommt zu folgendem Fazit: „Die Wirtschaft brummt, wobei ihr die Politik mit Krediten und Überbrückungszahlungen durchaus behilflich war. Wir lernen, was wir vorher schon ahnten und was die Linke wohl niemals verstehen wird: Der Staat funktioniert als Steigbügelhalter für die Wirtschaft perfekt. Nur wenn er selber aufs Pferd steigt, macht der Reiter plumps.“
Bei der Statistik, die Steingart präsentiert, handelt es sich nämlich um das nominale BIP, das heißt das BIP zu aktuellen Marktpreisen. Seine Statistik ist nicht inflationsbereinigt. Das wird an keiner Stelle im Briefing erwähnt.
Stattdessen wird suggeriert, dass es sich hierbei um reales Wirtschaftswachstum handele. Wenn allerdings die Preisinflation 5 Prozent beträgt (gemessen am BIP-Deflator), dann steigt auch das nominale BIP, ceteris paribus, allein deswegen um 5 Prozent. Das hat nichts mit realem Wirtschaftswachstum zu tun.
Kein reales Wirtschaftswachstum seit vier Jahren
Hätte Steingart seinen Lesern das nach offiziellen Inflationszahlen bereinigte reale BIP präsentiert, so hätte sich ein ganz anderes Bild ergeben. Es wäre dann deutlich geworden, dass die deutsche Wirtschaft noch nicht auf das Vorkrisenniveau von 2019 zurückgekehrt ist. Man ist gerade einmal auf dem Niveau von 2017.
Es hat also insgesamt seit vier Jahren kein reales und nachhaltiges Wirtschaftswachstum gegeben. Die deutsche Wirtschaft brummt mitnichten. Das Statistische Bundesamt hat noch am selben Tag (28. Januar) eine Mitteilung herausgebracht, dass das inflationsbereinigte BIP des 4. Quartals 2021 ganze 0,7 Prozentpunkte unter dem Vorquartalswert läge. Der Aufschwung existiert real nicht. Er ist eine Inflationsillusion.
Wie man dieser Tage eine Stellung zur gesamtwirtschaftlichen Lage abgeben kann, ohne auch nur einen Blick auf die Inflationstendenzen zu werfen, ist völlig rätselhaft.
Auch alle anderen Statistiken, die Steingart anführt, sind durchtränkt von inflationären Entwicklungen. So wird mit einem neuen Dividendenrekord bei allen DAX-Unternehmen in diesem Jahr gerechnet. Aber ist das zwingend ein Zeichen wirtschaftlicher Stabilität?
Mit Geldschwemme über Probleme hinwegtäuschen
Ist wirklich davon auszugehen, dass realwirtschaftliche Produktivitätsgewinne im Umfang von über 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr realisiert werden? Man möchte leise Zweifel anmelden. Auch wenn einige Menschen von diesen Entwicklungen profitieren werden, sind sie kein Indiz für nachhaltiges und reales Wirtschaftswachstum.
Ein Blick auf die Entwicklung der Geldmengenaggregate kann etwas Licht ins Dunkel bringen. Die Geldmenge M1, die aus Bargeld im Umlauf und Sichteinlagen bei Geschäftsbanken besteht, ist zwischen Januar 2020 und Dezember 2021 innerhalb des Euroraums um mehr als ein Viertel gestiegen (+25,5 Prozent). Im selben Zeitraum ist die Grundgeldmenge M0, die aus Bankreserven und Bargeld im Umlauf besteht und unter direkter Kontrolle des Eurosystems steht, fast verdoppelt worden (+93,3 Prozent). Insofern hat Steingart recht.
Die Politik war „mit Krediten und Überbrückungszahlungen“ und einer ganzen Menge neu geschaffenen Geldes dabei „behilflich“ etwas am Laufen zu halten, was anderenfalls schon längst kollabiert wäre. Das sollte allerdings keinesfalls optimistisch stimmen. Keines der strukturellen Probleme wurde tatsächlich gelöst. Es wurde nur mit einer ganzen Menge Geld darüber hinweggetäuscht, dass sie existieren.
Dr. Karl-Friedrich Israel ist Assistenzprofessor an der Katholischen Universität des Westens in Angers, Frankreich. Er hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Er promovierte 2017 an der Universität Angers bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann. Von 2018 bis 2020 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.
Der Artikel erschien zuerst beim Ludwig von Mises Institut Deutschland und in der Epoch Times Wochenendzeitung am 12. Februar, Ausgabe 31.
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