Warum Lula da Silva die Präsidentschaftswahl in Brasilien gewonnen hat

Brasilien hat gewählt. Luiz Inácio „Lula“ da Silva erhielt 50,9 Prozent der Stimmen. Verfassungsgemäß wird er am 1. Januar 2023 seine dritte Amtszeit antreten, der theoretisch sogar noch eine weitere vierjährige folgen kann. Eine Analyse.
Titelbild
Anhänger von Luiz Inacio Lula da Silva während des Karnevalsumzugs "Carnalula" zur Feier des Sieges von Luiz Inacio Lula da Silva bei der Präsidentschaftswahl an der Copacabana am 6. November 2022 in Rio de Janeiro, Brasilien.Foto: Wagner Meier/Getty Images
Von 7. November 2022

Mit der Wiederwahl von Lula kehrt Brasilien zu seiner Normallage des Halbsozialismus zurück, mit der Gefahr, in mehr Sozialismus hineinzuschlittern. Bolsonaro war einer der wenigen, der seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie nach dem Ende der Militärregierung (1964-1985), versucht hat, liberale Reformen durchzusetzen. Weit entfernt davon, der autoritäre Führer zu sein, wie er gern dargestellt wird, konnte Bolsonaro den immensen Widerstand gegen seine Reformpolitik nicht überwinden. 

19 Parteien im neu gewählten Kongress

Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass unter Lula nun radikale Änderungen stattfinden. Seine Präsidentschaft wird schon dadurch geschwächt sein, dass die von ihm einst gegründete Arbeiterpartei (PT) bei den Kongress- und Gouverneurswahlen nicht glanzvoll abgeschnitten hat. 

Brasilien ist ein Mehrparteienstaat. Obwohl die Zahl der politischen Parteien abgenommen hat, sind im neugewählten Kongress immer noch 19 Parteien vertreten. Weil das Parteiensystem so fragmentiert ist, und keine festen ideologischen Orientierungen bestehen, kann man den für die Mehrheitsbildung notwendigen laufenden Kuhhandel nicht verhindern. Dass dabei oft Geld und andere Zuwendungen fließen, darf nicht verwundern. 

Von 12 Jahren Gefängnis zu neuer Kandidatur

Nach dem Ende seiner Amtszeit, die von 2003 bis 2011 reichte, wurde Lula wegen Korruption in drei Instanzen schuldig gesprochen und landete im April 2018 sogar im Gefängnis, um eine zwölfjährige Gefängnisstrafe anzutreten. Aber die Mehrheit der Obersten Bundesrichter – viele davon von Lula selbst ernannt – haben das Urteil der ordentlichen Gerichtsbarkeit im November 2019 für ungültig erklärt und machten den Weg für eine neue Kandidatur für ihn frei.   

Nie zuvor in der Geschichte Brasiliens war der Wahlausgang so knapp, nie zuvor ist ein ehemaliger Präsident nach seinem Ausscheiden aus dem Amt erneut wiedergewählt worden und nie zuvor hat ein amtierender Präsident seine Wiederwahl geschafft. Nie zuvor auch wurde ein rechtskräftig wegen Korruption Verurteilter zum Präsidenten gewählt. 

Bolsonaros Regierungstätigkeit 

Jair Bolsonaro, der am 1. Januar 2019 seine Präsidentschaft antrat, ist es nicht gelungen, gegen „Lula“ bestehen zu können. In der ersten Wahlrunde erhielt Bolsonaro 43,2 Prozent der Stimmen, und in der Stichwahl am 30. Oktober 2022 49,1 Prozent, während sein Gegenkandidat Lula die Präsidentschaftswahl mit 50,9 Prozent gewann. 

Beim Wahlkampf zog das Argument der Verurteilung zwar bei vielen der Gegner Lulas, war aber letztlich für den Ausgang nicht entscheidend. Seine Wähler schien es wenig zu kümmern, dass es die von ihm selbst in die Ämter gebrachten Verfassungsrichter waren, die die Verurteilung aufhoben. Lula zehrte vom Mythos ein „Helfer der Armen“ zu sein.  

Anders als es viele Presseberichte in Deutschland glauben machten, spielte das Amazonasgebietes im Wahlkampf keinerlei Rolle. Auch der Schutz diverser Minderheiten wurde in den Kampagnen kaum erwähnt, einfach deshalb, weil unter der Regierung von Bolsonaro keine dieser Gruppen je gefährdet war.

Parallel zu seiner Amtszeit begann ein globaler Rohstoffboom, der einen gewaltigen Wirtschaftsaufschwung ins Land brachte. Der ehemalige Gewerkschaftsführer Lula konnte großzügig seine Sozialprogramme durchführen. Auch beim letzten Wahlkampf wurde er nicht müde, seine Errungenschaft zu loben, Millionen von Brasilianern durch öffentliche Hilfszahlungen aus der Armut geführt zu haben. Aber bereits nachdem Lulas Nachfolgerin die Amtsgeschäfte übernahm, schwächte sich die Konjunktur in dem Maße ab, wie die Rohstoffhausse zu Ende ging. 

Brasiliens zerklüftete politische Landschaft

Luiz Inácio da Silva fand nicht nur bei den im Nordosten und Norden des Landes sich konzentrierenden Armutsregionen seinen politischen Rückhalt. Noch wichtiger ist die Unterstützung, die Lula von den Angehörigen des öffentlichen Dienstes erfährt. In diesem Bereich setzen sich alte Traditionen des Privilegienstaates fort. Der ausscheidende Präsident hat vergeblich versucht, die Privilegien zu beschneiden. Die Reform des Pensionsrechts ist steckengeblieben, ebenso wie die geplanten Reformen des Arbeitsmarktes und des Steuersystems. Zu massiv waren allenthalben die Widerstände der etablierten Gruppen. 

Der abgewählte Präsident tat sich während seiner Amtszeit auch schwer, das ausufernde Justizwesen zu begrenzen. Das oberste Verfassungsgericht, in großer Zahl aus Mitgliedern bestehend, die während der 13 Jahre langen Herrschaft von Lulas Arbeiterpartei bestellt wurden, war von Beginn an dem neuen Präsidenten unfreundlich gesonnen. Jair Bolsonaro hatte angekündigt, die Macht dieser hohen Amtsträger des Justizwesens zu beschränke. Stattdessen ist es den obersten Herren in den schwarzen Roben gelungen, Bolsonaros politischen Gegner legal aus dem Gefängnis zu befreien und für eine Kandidatur zuzulassen. 

Die Judikative ist in Brasilien nicht einfach eine weitere der staatlichen Hauptgewalten neben Exekutive und Legislative, sondern thront über alle anderen. Die ihren Mitgliedern eigenen Privilegien des Justizwesens übersteigen die aller anderen Gewalten. Ihre Machtfülle dient auch dazu, die exorbitanten Vorrechte des öffentlichen Dienstes insgesamt zu bewahren.   

Neben diesen Widersachern traf Bolsonaro auch bei den Hauptmedien auf Widerstand. Zwar hat er Unterstützung in den Sozialen Medien erfahren, aber diese reichte nicht aus, um die von den Traditionsmedien ausgehenden Angriffe auf ihn auszugleichen. 

Die Macht von Globo

Als im März 2020 die Welt von einer Pandemiepanik ergriffen wurde und viele Regierungen dies ausnutzten, um sich als Herrschaft machtvoll in Szene zu setzen, versuchte Bolsonaro zu Beginn – rückblickend wohl zurecht – die Gefahren kleinzureden. Der brasilianische Präsident wollte die Wirtschaft nicht mit sogenannten „Lockdowns“ in den Abgrund stoßen, wie es anderswo geschah. Je zögerlicher er aber handelte, desto mehr begannen die Medien, unterstützt von vielen Intellektuellen und Künstlern, die Hysterie im Land anzufeuern. 

An vorderster Stelle agierte das Mediennetzwerk Globo. Dem Präsidenten wurde ein Genozid am brasilianischen Volk vorgeworfen und Lula griff diese absurde Beschuldigung in seinen Wahlkampfreden immer wieder auf. 

Mit dem bedeutendsten Fernsehkanal Brasiliens hat die Kandidatur von Lula einflussreiche Unterstützung gefunden. Das Globo Netzwerk reicht bis in die letzten Winkel des Landes. Auch wenn die Wohnung oft nur eine Hütte ist, mindestens einen Fernsehapparat gibt es. Globo ist Nachrichten- und Unterhaltungssender zugleich. Da in Brasilien die Auflagen seriöser Zeitungen und Zeitschriften gering sind und es nicht einmal Boulevardblätter gibt, nimmt das Sendenetzwerk von Globo sowohl für die lokalen wie die nationalen Nachrichten und für die internationale Berichterstattung eine alle anderen Informationsquellen übersteigende Dominanz ein.      

Fußball wird Wahlen verdrängen

Eine kurze Zeitlang wird es wohl noch einige kleine Proteste geben bis sie endgültig abklingen. Dabei wird das Thema der Sicherheit des einzigartigen brasilianischen elektronischen Wahlsystems zur Sprache kommen. Aber spätestens mit dem Beginn der Weltmeisterschaft wird die Fußballpassion alle anderen Leidenschaften übertreffen. Auch wenn die Untersuchungen des Wahlvorgangs dann weitergehen sollten, wird dies nicht mehr emotional die Massen erfassen.  

Verfassungsgemäß wird Luiz Inácio „Lula“ da Silva am 1. Januar 2023 seine dritte Amtszeit antreten und als Präsident eines Landes regieren, das geografisch 24mal grösser als Deutschland ist und über 210 Millionen Einwohner zählt.

Das Land, obwohl es eine staatliche Einheit ist, ist weder wirtschaftlich noch sozial oder ethnisch homogen. Das industrielle Herzstück des Landes ist der Staat São Paulo im Südosten des Landes. Dort und im Süden und Südwesten des Landes werden die höheren Einkommen erzielt. Die Arbeitslosigkeit ist meist niedrig und starke Armut kaum verbreitet.

Regionale Trennung zwischen Norden und Süden

Anders sieht es im Nordosten des Landes aus. Hier liegt der historische Ursprung des Landes. Die ersten Jahrhunderte seit seiner Entdeckung am 22. April 1500 war das Land eine portugiesische Kolonie und diente fast ausschließlich dem Zuckerrohranbau. Über fünf Millionen Afrikaner wurden dazu ins Land gebracht. Erst 1888 wurde die Sklaverei abgeschafft. 

Wie bei den vergangenen Wahlen zeigte sich auch bei der Wahl im Oktober 2022 eine regionale Scheidung zwischen den Regionen im südlichen und nördlichen Teil des Landes. Während die südlichen Bundesstaaten und São Paulo mehrheitlich an Bolsonaro fielen, dominierte Lula im Nordosten. 

Es ist zweifelhaft, ob das Programm des nun gewählten Präsidenten tauglich ist, sein Versprechen einzulösen, Brasilien zu neuem Glanz zu führen und die Armut zu beseitigen. Eher kann man davon ausgehen, dass er die bestehenden Privilegien unangetastet lässt. 

 

INFODATEN

Wie alle Länder, die in den Lockdown gegangen sind, hat auch Brasilien darunter schwer gelitten, wobei es jedoch glimpflicher davonkam und sich Brasilien schneller als viele andere Länder von der Krise erholte.

Brasilien. Wirtschaftsindikatoren 2018 und 2022 

Indikator 2018 2022
Arbeitslosigkeit  12 % 8,7 %
Inflationsrate  4 % 7,2 %
Jährliche Wachstumsrate 0,2 % 1,2 %
Zinssatz (SELIC) 6,5 % 13,75 %
Leistungsbilanz (Saldo in Prozent des Bruttosozialproduktes – 2,2 % -1,8 % 
Staatsschulden (in Prozent des Bruttosozialprodukts 73,7 % 80,3 (2021)
Produktivität (Index) 120 105
Durchschnittslohn in der verarbeitenden Industrie 2.850 R$ 2.630 R$
Auslandsreserven  375 Mrd. US-Dollar 328 Mrd. US-Dollar
Auslandsverschuldung  670 Mrd. US-Dollar 663 Mrd. US-Dollar
Bruttoinlandsprodukt (PIB) 1917 Mrd. US-Dollar  1609 Mrd. US-Dollar (2021)
Bruttokapitalbildung (in % des BIP) 15 % 19 %
PIB pro Kopf in Kaufkraftparität pro Jahr 14.668 14.615 (2021)
Aktienbörse

(IBOVESPA)

90.000 Punkte 115.000 Punkte

(+ 28 %)

US-Dollar in Einheiten der Heimatwährung 3 Real pro Dollar 5 Real pro Dollar

(Abwertung von 40 %)

Quelle: Weltbank, IBGE, tradingeconomics

Zum Autor

Dr. Antony P. Mueller ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS. Vor kurzem erschien sein Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“.

 

 

 

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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