Mythos Marshallplan: Nicht das Geld war entscheidend

Im Zusammenhang mit der Ukraine fällt häufiger der Begriff eines neuen Marshallplanes. Historisch betrachtet führte nicht das Geld des Plans zum Wiederaufbau des Landes. Denn Länder, die weniger Geldmittel erhalten hatten, wuchsen schneller. Es wird mehr als nur Geld benötigt, um wirtschaftlichen Fortschritt einzuleiten.
Titelbild
1947: Zwei Männer vor einem Plakat zur Unterstützung des Europäischen Wiederaufbauplans, auch bekannt als Marshall-Plan nach dem US-Außenminister George Marshall.Foto: MPI/Getty Images
Von 5. August 2023

Fast immer, wenn es eine internationale Krise gibt, ertönt der Ruf nach großzügigen Finanzhilfen. Dabei wird sich auf häufig auf den amerikanischen Marshallplan für Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg berufen. Solches geschieht nun wieder im Zusammenhang mit der Ukraine.

Zwar tobt noch der Krieg. Doch schon jetzt wird von der Notwendigkeit gesprochen, dem Land nach dem Krieg umfassende Aufbauhilfe zukommen zu lassen. Wieder einmal wird ein neuer Marshallplan gefordert. Je größer die Summe, desto besser.

Solche Pläne zeigen Lücken bei historischem Wissen; es wurde nicht verstanden, welche Triebkräfte für Europas und insbesondere für Deutschlands wirtschaftliche Erholung nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ausschlaggebend waren.

Amerikanische Nachkriegspolitik

Nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 folgte die Politik der amerikanischen Besatzungsarmee der Leitlinie der Militärdirektive JCS 1067, die vom Morgenthau-Plan des US-Finanzministeriums geprägt war.

Im Juli 1947 wurde mit dem Beginn der Planungen für amerikanische Hilfsleistungen diese Richtlinie durch die neue Richtlinie JCS 1779 ersetzt, die forderte, dass „ein prosperierendes Europa in geordneter Weise die wirtschaftlichen Beiträge eines stabilen und produktiven Deutschlands verlangt“. Im Morgenthau-Plan waren hingegen im wirtschaftlichen Teil „Schritte zur wirtschaftlichen Erholung Deutschlands [oder] zur Erhaltung oder Stärkung der deutschen Wirtschaft“ ausdrücklich verboten.

Dementsprechend wurde Westdeutschland in das „European Recovery Program“ (ERP) einbezogen. Rein monetär war der Marshallplan aber nicht das umfangreiche Finanzpaket, mit dem es vielfach heute verbunden wird.

Von 1948 bis 1951 umfasste die finanzielle Seite des Marshallplan 13,3 Milliarden US-Dollar, was gegenwärtig einer Summe von 173 Milliarden Dollar entsprechen würde. Von diesen Finanzmitteln entfiel der Großteil auf das Vereinigte Königreich (26 Prozent) und Frankreich (18 Prozent). Westdeutschland erhielt 1,5 Milliarden Dollar (11 Prozent), nach heutigem Geldwert also weniger als 20 Milliarden Dollar.

Diese Summe hätte wahrscheinlich bei Weitem nicht ausgereicht, um den Abbau der Industrieanlagen und die Beschlagnahmung deutscher Patente, Urheberrechte und Marken auszugleichen.

Bedeutsam für den Erfolg des Marshallplans war nicht die Höhe der Finanzmittel, sondern die mit der Hilfe verbundenen Konditionen: Die US-Regierung verband die Auszahlung der Hilfen mit marktwirtschaftlichen Reformen.

Darin liegt auch der Grund, weshalb die Sowjetunion und die von ihr besetzten Länder keine Hilfe erhielten, obwohl sie von der US-Regierung angeboten wurden.

Ökonomie des Marshallplans

Um den Marshallplan ranken sich eine ganze Reihe von Mythen, die bis heute immer wieder aufgetischt werden. Der finanzielle Beitrag des Marshallplans war kein bedeutender Faktor für die wirtschaftliche Erholung Westeuropas. Länder, die weniger Hilfe erhielten, so wie Westdeutschland, wuchsen in den Jahren danach schneller als jene Länder, die großzügiger mit finanziellen Zuwendungen bedacht wurden.

Mehr als die finanziellen Hilfen waren für Westdeutschland die Maßnahmen entscheidend, die Ludwig Erhard im Jahr 1948 als Direktor für die Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets durchführte. In Übereinstimmung mit den Bedingungen, an die die Marshallplanhilfe geknüpft war, legte der spätere Wirtschaftsminister und Kanzler mit seiner Politik der freien Marktwirtschaft die Grundlagen für das sogenannte „Wirtschaftswunder“.

Mit der Unterstützung durch den amtierenden Militärgouverneur Lucias D. Clay gelang es Ludwig Erhard, sein Projekt gegen die vorherrschenden Vorstellungen durchzusetzen – die angesichts der desolaten Wirtschaftslage weiterhin Preiskontrollen und staatliche Ausgaben befürworteten.

Wichtiger als die Finanzhilfen für die wirtschaftliche Erholung Westdeutschlands waren neben der Währungsreform die wirtschaftliche Liberalisierung durch die schrittweise Freigabe der Preise. Dies geschah in Verbindung mit einer Politik der Währungs- und Fiskalstabilität (die heute fälschlicherweise als Austerität bezeichnet wird) und dem Beginn der wirtschaftlichen Integration.

Entscheidend für den europäischen Aufschwung waren nicht die Finanzströme an sich, sondern die Bedingungen, die mit dem Marshallplan verbunden waren: Marktwirtschaft, wirtschaftliche Integration und Freihandel.

Der Marshallplan war so einer der ersten Schritte zum Aufbau des späteren Gemeinsamen Marktes und später der Europäischen Union.

Effekte des Marshallplans

Der Marshallplan war für den Aufschwung Europas von grundlegender Bedeutung, aber anders, als es meist dargestellt wird. Der entscheidende Punkt war nicht die Summe der Finanztransfers. Ausschlaggebend war, dass mit der Ankündigung des Marshallplans die Ziele beendet wurden, die vorher mit dem Morgenthau-Plan verbunden war.

Der Marshallplan ebnete den Weg Westdeutschlands, Mitglied der westeuropäischen Gemeinschaft zu werden und sich der Weltwirtschaft zu öffnen. Wichtiger als die Finanzströme war die Wiederherstellung des Vertrauens der Unternehmen, der Glaube, dass sich Investitionen auszahlen und angesichts des absoluten Elends und der Zerstörung Investitionen zu Gewinnen führen würden.

Für das deutsche Volk beseitigte der Marshallplan die Angst, dass die Bürger für immer in Armut und Elend verbleiben würden und entzündete das Licht der Hoffnung auf Wohlstand.

Mit anderen Worten: Der Marshallplan entfesselte zusammen mit internen Reformen den Unternehmergeist. Der wirtschaftliche Aufschwung Westdeutschlands zog auch die anderen Länder Westeuropas in Richtung Wohlstand.

Grundbedingung für den wirtschaftlichen Aufstieg sind gute Institutionen, freie Märkte und eine Politik ohne Korruption. Beim Marshallplan dienten die Finanztransfers als Hilfsmittel, um die wesentlichen Strukturreformen in den Empfängerländern anzustoßen.

Folgerungen für heute

Die grundlegende Lektion des ursprünglichen Marshallplans lehrt, dass es die Bedingungen für den Erhalt der Gelder waren, die den Plan zu einem Erfolg machten. Es sind mehr als nur Geldmittel für einen Wiederaufbau nötig ist. Für den Erfolg des Marshallplans war nicht nur der finanzielle Umfang, sondern vor allem die Verbindung mit der Liberalisierung der Märkte und einer Politik der geld- und fiskalpolitischen Disziplin entscheidend.

Marktwirtschaft, wirtschaftliche Integration und Freihandel waren die wichtigen Faktoren für den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Es wäre ein fundamentaler Fehler der Politik, wenn man nach einem Friedensschluss die Ukraine mit Geldmitteln überschütten würde, ohne strikt darauf zu achten, dass die wahren Lektionen des Marshallplans beherzigt werden.

Allerdings fragt es sich, ob heutzutage noch die Bedingungen, eine freiheitliche Wirtschaftsordnung zu schaffen und fiskalpolitischer Restriktion einzuhalten, verlangt werden können, wenn diese Grundsätze in den Geberländern selbst immer weniger befolgt werden.

Zum Autor

Dr. Antony P. Mueller lebt in Brasilien. Er war bis zu seiner Pensionierung Professor an der Bundesuniversität UFS und ist derzeit Dozent an der Mises Academy in São Paulo. Auf Deutsch ist von ihm 2021 „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie“ erschienen und 2023 sein Buch „Technokratischer Totalitarismus“.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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