Warum die Wissenschaft keine Politikempfehlungen abgeben kann

In unserem wissenschaftlich-technischen Zeitalter stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von (politischer) Entscheidungsfindung und wissenschaftlicher Erkenntnis zu gestalten ist. Ein Kommentar zur Buch-Neuerscheinung.
Titelbild
"Die Instrumentalisierung der Wissenschaft für politische Zwecke ist eine Gefahr für liberale Gesellschaften." (Olivier Kessler)Foto: iStock
Von 4. November 2022

Die Technokratisierung der Politik wird von vielen Meinungsmachern als unaufhaltsame Entwicklung dargestellt. Es werden mit Verweis auf Aussagen von Forschern und Studien Sachzwänge behauptet, die ein bestimmtes Eingreifen des Staates als „alternativlos“ erscheinen lassen, etwa im Bereich der Gesundheits- und Klimapolitik.

Wer die behaupteten Sachzwänge bezweifelt, wird oft als „Wissenschaftsleugner“ abgestempelt und aus der öffentlichen Debatte „gecancelt“. Es sei solchen Kritikern abhandengekommen, etwas anzuerkennen, womit sie nicht verhandeln könnten. Es gelte, das zu akzeptieren, was die Wissenschaft bewiesen habe. Was aus wissenschaftlicher Sicht getan werden müsse, das müsse eben getan werden.

Wer sich gegen diese Notwendigkeit stelle, handle verantwortungslos. Solchen Stimmen dürfe man keinesfalls auch noch eine Plattform bieten. Soziale Medien sind deshalb bestrebt, Beiträge, die „wissenschaftlichen Befunden“ widersprechen, umgehend zu löschen oder sie zumindest mit „Fake-News“-Warnhinweisen zu diskreditieren.

Das Hinterfragen, Anzweifeln und Erheben von Widerspruch erscheint aus dieser Perspektive, wonach wissenschaftlich angeblich alles Relevante geklärt sei, nur als lästig. Es ist schlichtweg unnötig, weiter über etwas zu diskutieren, worüber bereits Klarheit herrscht. Unnötiger Zweifel steht einer raschen Umsetzung des wissenschaftlich Empfohlenen nur im Weg, womit wertvolle Zeit verloren geht. So wird beispielsweise unter Einforderung eines Klima- oder Gesundheitsnotstands gewarnt, es müsse sofort etwas getan werden, sonst sei es zu spät.

Wissenschaft als quasireligiöse Autorität

Doch wer oder was ist „die Wissenschaft“ überhaupt? Wer entscheidet, welche der vielen Studien nun Gewicht im öffentlichen Diskurs erhalten, welche Fachdisziplinen für eine konkrete Fragestellung als relevant erachtet werden, welche Methode die geeignete ist? Wer wählt die sogenannten „Experten“ aus, die Sachzwänge behaupten und der Politik „wissenschaftliche“ Handlungsanweisungen erteilen?

Die Instrumentalisierung der Wissenschaft für politische Zwecke ist eine Gefahr für liberale Gesellschaften. Der Einzelne soll mit Hinweis auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“ bis ins Kleinste kontrolliert und verwaltet werden, so als ob die Wissenschaft ein für alle Mal festlegen könnte, was als sakrosankt zu gelten hat und nicht mehr hinterfragt werden darf. Ein solches Verständnis hat mit der ursprünglichen Bedeutung von Wissenschaft nicht mehr viel zu tun: „Wissenschaft“ wird so zu einer quasireligiösen Autorität erhoben, anstatt sie als unkorrumpierbare Methode und unbestechlichen Prozess zur Annäherung an die Wahrheit zu sehen. Die Verfechter eines derartigen Wissenschaftsverständnisses plädieren für den neuen Imperativ „Glaubt der Wissenschaft!“ – ohne die Absurdität ihrer Forderung zu erkennen.

Der Philosoph Karl R. Popper (1902-1994) argumentierte, Wissenschaft setze nicht unhinterfragbare Glaubenssätze, sondern Thesen voraus, die falsifiziert werden könnten. Wissenschaft basiert demnach auf einem Wettbewerb der Ideen und widerstreitenden Theorien, die sich bewähren müssen. Die Forderung, der Einzelne oder die Politik habe sich zwingend bestimmten „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ zu unterwerfen und unkritisch zu akzeptieren, ist also weder wissenschaftlich noch mit dem Pluralismus einer offenen Gesellschaft vereinbar.

Natürlich sollten Meinungen von Experten möglichst vorurteilsfrei angehört werden. Selbstverständlich sollten politische Entscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse miteinbeziehen. Dabei darf jedoch weder die Vielfalt der wissenschaftlichen Diskurse außer Acht gelassen werden, noch darf man sich hinter vermeintlichen „Sachzwängen“ verstecken.

Eine offene Gesellschaft zu verteidigen bedeutet, die vielfältigen Ansichten und Bedürfnisse friedlich miteinander in Einklang zu bringen. Voraussetzung dafür ist ein freier Diskurs, nicht eine moralisierende „Cancel Culture“, weil Letztere eine Wahrheitshegemonie durchsetzen will und alle Andersdenkenden stigmatisiert und sie als „wissenschaftsfeindlich“ diffamiert, damit man sich nicht mehr mit deren Argumenten auseinanderzusetzen braucht. Dieser Diskurs besteht nicht nur aus den Beiträgen ausgewählter Spezialisten, sondern aus all den Argumenten, Haltungen und Einstellungen, aus denen sich eine öffentliche Meinung über Vermittlungsprozesse unabhängiger Medien bilden kann.

Missverstandene Wissenschaft

Naturwissenschaften wie die Physik, Biologie und die Chemie befassen sich mit konstanten Beziehungen zwischen Elementen. Sie erkennen diese mit hinreichender Genauigkeit in Laborexperimenten, die beliebig wiederhol- und überprüfbar sind. Die Wissenschaft kann allerdings keine Aussage darüber machen, was jemand oder die Politik nun mit diesen Erkenntnissen tun sollte. Sie ist immer nur deskriptiv, nicht normativ. Sie kann nicht für jemanden festlegen, was dieser jemand wollen muss. Verschiedene Menschen wollen Verschiedenes, haben unterschiedliche Werte und Präferenzen, sich voneinander unterscheidende Bedürfnisse und Ziele, die sich im Laufe der Zeit ändern.

Die Wissenschaft kann also niemals „herausfinden“, „bestätigen“ oder „beweisen“, dass wir alle eine Maske tragen müssen und dass die Politik einen entsprechenden Maskenzwang einführen muss, selbst wenn die Wissenschaft herausfinden würde, dass eine Maske die Übertragung von Krankheiten reduzieren würde. Die Wissenschaft kann auch keine Aussage darüber treffen, dass jemand seinen CO₂-Ausstoß reduzieren und etwas gegen die Klimaerwärmung tun muss, selbst wenn bewiesen werden könnte, dass der CO₂-Ausstoß einen signifikanten Einfluss auf das Klima hat. Denn ob die betroffene Person das so beschriebene „Problem“ überhaupt als solches wahrnimmt und ob sie es als prioritär genug erachtet, um ihre knappen Mittel zur Bewältigung dieses (und nicht eines anderen) Problems einzusetzen, hängt vom individuellen, subjektiven Werturteil ab und ist nicht eine objektiv unbestreitbare Tatsache.

Entsprechend kann „die Wissenschaft“ auch keine Handlungsempfehlungen gegenüber der Politik abgeben, weil es immer nur subjektive Präferenzen von Einzelpersonen gibt, die in der Werteskala von anderen Menschen nicht den gleichen Stellenwert einnehmen müssen. Ebenso kann sich die Politik auch nicht auf „die Wissenschaft“ stützen, wenn sie vermeintlich „alternativlose“ Gesetze erlässt, die man damit begründet, dass man lediglich dem Rat der Wissenschaft folge. Denn politisches Handeln basiert immer auf der Androhung oder Anwendung von physischer Gewalt, was dazu dient, die Präferenzen von bestimmten Gruppen auf Kosten aller anderen durchzusetzen. Die Wissenschaft kann niemals feststellen, welche Präferenzen richtig und welche falsch sind, weil es sich hier eben um subjektive Werturteile handelt.

Während die einen die Klimaerwärmung um jeden Preis bekämpfen wollen, begrüßen andere, dass es etwas wärmer wird oder wollen dieselben Ressourcen zum Beispiel lieber in die Krebs- oder Malariaforschung investieren. Oder während die einen den Gesundheitsschutz und die Verlängerung der eigenen Lebenszeit über alles stellen, ist anderen der soziale Kontakt mit anderen (anstelle von „social distancing“) und das Auskosten der vorhandenen Lebenszeit wichtiger. Wie um alles in der Welt soll man hier nun „wissenschaftlich“ feststellen, wer recht hat und wer nicht? Wer behauptet, dass dies möglich sei, ist ein Scharlatan und bewegt sich abseits jeglicher Wissenschaftlichkeit.

Über den Autor

Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich und Mitherausgeber und Autor des Buchs „Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz“, das am 25. Oktober 2022 erschienen ist. Das Buch kann unter www.buchausgabe.de bestellt werden kann. Für Interessenten aus der Schweiz und aus Liechtenstein www.libinst.ch.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion