Resümée: Anspruchsvolles Autorenkino, Frauen im Fokus und Starallüren
Die besten Filme sind hart umkämpft auf den europäischen Filmfestivals. Besonders die kleineren unter den bedeutenden sogenannten A-Festivals leiden unter der Konkurrenz. Und doch bewies San Sebastián im 72. Jahrgang einmal mehr, dass sich auch jenseits von Cannes und Venedig, wo es namhafte Regisseure bevorzugt hinzieht, cineastische Perlen entdecken lassen.
Dazu braucht es mitnichten um jeden Preis die Prominenz aus Hollywood, auch wenn die dem Festival viel Beachtung sichert.
Konsequenzen ziehen
Auf Johnny Depps zweite Regiearbeit hätte man jedenfalls durchaus verzichten können: „Modi, Three Days on the Wing of Madness“ ist ein unangenehm lautes, vordergründiges, vulgäres Biopic über den italienischen Maler Amadeo Modigliani.
Riccardo Scarmarcio in der Titelrolle macht aus ihm einen aggressiven, cholerischen Künstler, der sich überwiegend in Wut darüber ergeht, dass die Pariser Kunstszene seine Bilder nicht würdigt. Angesichts einer solch mediokren Leistung erschien Depps überhebliches Verhalten gegenüber der Presse mehr als unangebracht: Im Zuge seiner Verspätung zu zwei Gruppeninterviews, denen er zugestimmt hatte, sollten alle geladenen Journalisten, zwölf an der Zahl, an einen Tisch.
Das sorgte für Unmut, schließlich hätte noch nicht einmal jeder Medienvertreter innerhalb des knapp bemessenen Zeitfensters von maximal 20 Minuten eine Frage stellen können, zumal an den Interviews nach dem Willen der PR-Agentur zwei Hauptdarsteller partizipieren sollten, an denen letztlich keiner der Journalisten ein Interesse hatte.
Damit war eine Grenze überschritten, was damit endete, dass die Akkreditierten kurz entschlossen kollektiv das Interview absagten – und mit diesem Boykott ein wichtiges Zeichen setzten gegen die wachsende Arroganz von Stars, denen ihr Ruhm zu Kopf gestiegen ist.
Goldene Muschel für Stierkämpfer
Leider weniger erfolgreich hatten im Vorfeld des Festivals spanische Tierschützer das Festival dazu aufgerufen, auf den Dokumentarfilm „Tardes de soledad“ über einen Stierkämpfer zu verzichten. Dass die internationale Jury unter dem Vorsitz von Ulrich Seidl ausgerechnet diese Produktion mit der Goldenen Muschel für den besten Film auszeichnete, erscheint im Hinblick auf das hohe Niveau, auf dem sich der Wettbewerb bewegte, als ein großes Ärgernis.
Zwar mag man Regisseur Albert Serra zugutehalten, dass er mit seinem Porträt kein Plädoyer für die grausame Tradition der „Corrida“ geschaffen hat, vielmehr den Horror und die Absurdität des blutigen Treibens offenlegt, aber das begründet noch lange nicht, warum solche Perversionen in einem Film überhaupt Raum finden müssen, vor allem ein sensibles Publikum dürften die tierquälerischen Bilder sehr verstören.
Aber zum Glück blieb dieser Beitrag in seiner extremen Unverdaulichkeit eine Ausnahme im Wettbewerb, der nicht nur mit wertvollen gesellschaftspolitischen Beiträgen aufwartete, sondern vor allem das künstlerisch anspruchsvolle, leinwandtaugliche Autorenkino feierte. Werke noch junger Debütanten konnten dabei mit denen etablierter, namhafter Meister allemal mithalten.
Verhängnisvolles Duo: Armut und Scham
Ein bemerkenswertes Erstlingswerk legte die Portugiesin Laura Carreira mit „On Falling“ vor, verdient mit einem geteilten Preis für die beste Regie ausgezeichnet. Einfühlsam mit kargen Dialogen schildert ihr Sozialdrama, das an Geschichten von Ken Loach erinnert, den trostlosen Alltag einer jungen Frau, die in einem schottischen Warenlager malocht.
Immer wieder folgt die Kamera der Protagonistin durch lange Gänge in der grauen, tristen Halle, in denen sie Produkte aus dem Online-Handel einsammelt, begleitet allein von dem Piepen ihres Scanners. Schmerzlich einsam ist diese Aurora, deren Energien nach der Arbeit zu keinen weiteren Unternehmungen mehr ausreichen.
Als eine verständnisvolle Personalchefin eines anderen Unternehmens sie bei einem Bewerbungsgespräch ermutigt, etwas Persönliches über sich und ihre Freizeitgestaltung zu sagen, weiß Aurora nichts zu berichten.
Am schlimmsten aber erweist sich ihre finanzielle Not. Der geringe Lohn, der zum Leben nicht ausreicht und die Scham über ihr Elend, die sie schweigen lässt, führen die Protagonistin immer tiefer in eine Abwärtsspirale hinein.
Das alles schildert der Film eindringlich in fahlen Farben und mit bedrückenden Szenen, die an die Nieren gehen, wenn Aurora zum Beispiel in der Kantine als einzige nur ein Stück Kuchen isst, weil ihr Geld für keine warme Mahlzeit ausreicht, oder wenn sie unter der Dusche plötzlich im Dunklen steht, nachdem sie die Stromrechnung nicht bezahlen konnte.
Was mich stört muss weg?
Um junge Frauen geht es auch in dem zweiten mit einem Regiepreis prämierten Werk. Der Reihe nach sehen sie sich in leicht verknüpften Episoden schwer zu entschlüsselnden traumatischen Erlebnissen ausgesetzt. „El llanto“ steht in der Tradition des im spanischen Kino sehr beliebten Horrorfilms und bietet, durchsetzt von seltsam epileptisch anmutenden Anfällen, einiges zum Gruseln.
Allerdings erscheint die Auszeichnung doch eine Nummer zu groß für dieses Debüt von Pedro Martín-Caleros, dessen zähe Handlung sich mit vielen Wiederholungen etwas tot läuft.
Mehr als verdient erscheinen dagegen die Preise für das beste Drehbuch und den Darsteller Pierre Lottin in „Quand vient l’automne“, das jüngste Werk von François Ozon, der damit an große Erfolge wie „Das Schmuckstück“, „In ihrem Haus“ oder „Frantz“ anknüpfen kann.
Zwei ältere Frauen Mitte 70, ehemalige Prostituierte in Rente, stehen im Zentrum dieses ungewöhnlichen Krimis und damit eine Alters- und Mileugruppe, denen das Kino in der Regel wenig Beachtung schenkt. Die eine, Marie-Claude (Josiane Balasko), bangt um die Zukunft ihres Sohns, der gerade aus dem Gefängnis kommt.
Die andere, ihre Freundin Michelle (großartig: Hélène Vincent), leidet unter der zickigen Tochter, die die Verbindung zu dem geliebten Enkel kappt, weil sie irrtümlich unterstellt, ihre Mutter habe sie mit vergifteten Pilzen töten wollen. Die Freundinnen stehen einander bei, so gut sie können.
Die Raffinesse aber kommt in die Erzählung, als sich die Konflikte in Michelles Familienleben überraschend in Luft auflösen, nachdem ihre sture Tochter vom Balkon gestürzt und aus dem Weg geräumt ist. War es Selbstmord oder Mord? Aus spiritueller Sicht ließe sich gewiss deuten, dass, wo sich viele Energien ballen, alles zum Guten zurechtruckelt, sofern nur der Störenfried von der Bildfläche verschwunden ist. Jedenfalls entwickelt das spannende Drama einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Leise und poetisch: für einen anderen da zu sein
Neben so prominenten Regisseuren wie Ozon, Costa-Gavras, Mike Leigh oder Edward Berger empfahlen sich in San Sebastián aber auch zahlreiche Regisseurinnen mit sehenswerten Beiträgen. Eine besonders ansprechende Handschrift darunter offenbarte die Spanierin Pilar Palomero, die für ihr leises, intimes Drama „Los destillos“ den Preis für den besten Film verdient hätte.
Patricia López Arnaiz (silberne Muschel als beste Hauptdarstellerin) ist darin eine Frau in mittleren Jahren namens Isabel, für die sich einiges ändert, als ihre Tochter sie mit dem schlechten Zustand ihres Ex-Manns konfrontiert. Von ihrem malerisch gelegenen Haus auf dem Land, wo sie sich in einer neuen Beziehung mit einem Musiker eingerichtet hat, reist Isabel nach Madrid, um sich um den schwer kranken Ex zu kümmern.
Erst tut sie nur das Nötigste, nach und nach lässt sie ihm zuliebe aber auch Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit aufleben und ermöglicht ihm einen schönen Abschied vom Leben. „Los destillos“ ist ein sehr leiser, poetischer, intimer Film an schönen Orten, der in seiner großen Menschlichkeit berührt: der Bereitschaft, für einen Menschen beim Sterben da zu sein, der einem eigentlich schon fern war.
Das internationale Publikum in San Sebastián wusste solche Qualitäten zu würdigen. Die Kinos waren wieder deutlich voller als in den Vorjahren nach der Corona-Zeit.
In Deutschland können wir uns auf die prämierten Filme wie „Quand vient l’automne“, „Los destillos“ oder „On falling“ freuen.
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