Profis oder Kanonenfutter?

Kein Schnellschuss bei Wehrpflicht möglich, zu komplex sind die Fragen und Möglichkeiten der Handhabung.
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Noch zu Militärpflichtzeiten: Befragung junger Wehrpflichtiger an ihrem ersten Tag der Wehrpflicht in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 31. Mai 2024

Ausgerechnet die CDU, die die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt hat, will sie laut jüngstem Parteitagsbeschluss von Anfang Mai wieder einführen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) „will bis zum Sommer“ – also demnächst – über die Wiedereinführung der Wehrpflicht – möglicherweise nach schwedischem Modell – entscheiden. Sein Parteikollege, Bundeskanzler Olaf Scholz, sieht dieses Vorhaben „kritisch“.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos von Anfang März zeigen sich 61 Prozent der Deutschen für die Wehrpflicht aufgeschlossen. Derzeit ist jedoch völlig unklar, wie viele Wehrpflichtige pro Jahr tatsächlich gebraucht würden, um für den Ernstfall der Landesverteidigung im klassischen Sinn gerüstet zu sein. Dies gab der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, der sogenannte Generalinspekteur, General Carsten Breuer, kürzlich in einem Interview mit dem SWR zu: „Da sind wir noch nicht so weit.“

Pro Wehrpflicht: Mitverantwortung der Bürger

„Die Wiedereinführung der Wehrpflicht wäre ein sichtbares Signal, dass wir die Verteidigung unseres Vaterlandes ernsthaft umsetzen wollen“, bringt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther die Meinung vieler Befürworter zum Ausdruck.

Als hauptsächlicher Vorteil wird von vielen Befürwortern ein nichtmilitärischer Grund genannt: Mit der Wehrpflicht würde in der Nation wieder eine Mitverantwortung der Bürger für die Landesverteidigung entstehen. Die bisherige Distanz zur Truppe würde schwinden.

Mit der Wehrpflicht ergäbe sich zudem ein größerer Rekrutierungspool. Die aufwendigen Werbekampagnen könnten eingespart werden. Wehrpflicht bietet eine Chance für den Teamgeist (Corpsgeist) vieler junger Menschen unterschiedlichster Herkunft und könnte auch die Integration von Migrantengenerationen fördern.

Damit würde die Bundeswehr wieder stärker als bisher zur inneren Einheit Deutschlands beitragen. Der Charakter der Streitkräfte würde sich fundamental verändern: von wenigen Berufsspezialisten, die ein Eigenleben führen, hin zu einer großen Bürgerarmee.

Für manche Gegner stellt allein die Anzahl an ausgebildeten Soldaten eine Abschreckung dar. Mit der Wehrpflicht würde sich auch die Kernaufgabe der Bundeswehr grundlegend ändern. War dies in den vergangenen 25 Jahren überwiegend die Krisenreaktion mit tropentauglichen Spezialkräften außerhalb der Europäischen Union, würde nun wieder verstärkt auf Landesverteidigung umgestellt.

Die Wehrpflicht schafft grundsätzlich ein höheres Reservistenpotential. Reservisten verpflichten sich nach Ende des Grundwehrdienstes, in ihrer Freizeit immer wieder an Aus- und Fortbildungen teilzunehmen und bleiben damit auf dem neuesten militärischen Stand.

Alle Wehrpflichtigen sind immer auch Multiplikatoren für oder gegen die Bundeswehr in der Öffentlichkeit. Mit ihnen vergrößert sich der Kreis jener, die aus „Erfahrung bei der Truppe“ kritisch über Militärpolitik mitreden und gegebenenfalls mitentscheiden können. Derzeit ist dies nicht der Fall.

Contra Wehrpflicht: Ausbildung zum Kanonenfutter

Die Bundeswehr verfügt nicht mehr über die Ausbildungsstrukturen für eine große Wehrpflichtarmee. Eine Umstellung würde dem Staat teuer zu stehen kommen. Die weit überwiegende Mehrheit der Nato-Staaten hat die Wehrpflicht abgeschafft. Grund: Zu teuer, zu ineffizient.

Eine große Bürgerarmee ist kein Garant für internationale politische Stabilität. Sie birgt eher das Risiko, dass in einem Ernstfall viel zu viele, nur grundausgebildete Soldaten fallen. Hier würde die Bürgerarmee zum „Kanonenfutter“. Dies offenbart überdeutlich der derzeitige Krieg in der Ukraine. Wehrpflichtarmeen führen zu überdimensional hohen Verlusten.

Denn ein Grundwehrdienst kann meist nur die Grundbegriffe im Umgang mit Waffen vermitteln; oft genug ist das nur das sichere Handhaben von Laden und Entladen des Sturmgewehrs G36 auf einem Schießstand. Von einer halbwegs realistischen Gefechtsübung – dem sicheren Bewegen und Kämpfen im Gelände – keine Spur.

Auch der unklare Bedarf an Wehrpflichtigen könnte dazu führen, dass weniger Männer eines Jahrgangs gebraucht werden, als numerisch zur Verfügung stehen. Wenn nur eine Minderheit damit rechnen muss, zum Dienst an der Waffe herangezogen zu werden, führt dies zu Wehrungerechtigkeit. Es sei denn, alle nicht zur Bundeswehr Eingezogenen eines Jahrgangs werden zu einem sozialen Dienst verpflichtet.

Zu den Zeiten, als die Bundeswehr überwiegend aus Wehrpflichtigen bestand, hatten viele Grundwehrdienstleistende am Ende eine negative Erinnerung an ihre Ausbildung und Verwendung. Oft war von „Gammel-Dienst“ die Rede, also sinnlose oder keine Beschäftigungen.

Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht würde zu einer hohen Belastung der Ausbilder führen – abgesehen davon, dass deren jetzige Anzahl bei Weitem nicht ausreichen würde. Durch Belastungen entstehen Fehler, auch im Verhalten der Vorgesetzten. Wohl kaum jemand in der aktiven Truppe sehnt sich zurück zu solchen Zuständen.

Schließlich: Eine Wehrpflichtigenarmee befindet sich nahezu niemals auf Augenhöhe mit einer Berufsarmee. Es sei denn, sie hat einen „revolutionären“ Charakter. Bekanntestes Beispiel dafür ist der sogenannte Erste Koalitionskrieg der europäischen Monarchien gegen das revolutionäre Frankreich zwischen 1792 und 1797. Die Franzosen führten in höchster Not eine Art Wehrpflicht (Levée en masse) ein, mit der sie den Berufsarmeen der Monarchien erfolgreich widerstanden.

Doch abgesehen von Ausnahmen bietet eine Berufsarmee klare Vorteile: Sie sichert hohe Qualität und militärische Professionalität der Soldaten. Alle sind langjährig trainierte Spezialisten. Das hochmoderne Waffen- und Technikmaterial kann nur effizient von Personal bedient werden, das lange ausgebildet wurde. Und dann muss damit geübt werden. Mit neun bis 15 Monaten Wehrdienstzeit – wie das von Pistorius bevorzugte schwedische Modell – gibt es keine Chance.

Was will Pistorius?

Im Verteidigungsministerium werden derzeit verschiedene Wehrdienstmodelle geprüft. Laut ARD-Hauptstadtbüro lässt sich Boris Pistorius Wehrpflichtmodelle aus aller Welt vorlegen. Er selbst preschte Anfang März bereits mit einem Vorschlag vor und gab bekannt, dass er „ein Faible“ für das schwedische Modell habe.

„Daraus mache ich keinen Hehl“, lässt er sich auf einer Webseite des Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) zitieren. Schweden zieht fünf bis zehn Prozent eines Jahrgangs zur Armee ein. Um sich ein anschauliches Bild davon zu machen, besuchte Pistorius eine schwedische Musterungsbehörde.

Schweden hatte seine Wehrpflicht 2010 ausgesetzt, 2017 aber wieder aktiviert. Sie gilt für Männer und Frauen gleichermaßen. Das BMVg erklärt weiterhin: „Von den etwa 110.000 Schwedinnen und Schweden, die jedes Jahr den Fragebogen der Musterungsbehörde ausfüllen, werden rund 28.000 Kandidatinnen und Kandidaten zur Musterung eingeladen. Von diesen wiederum erhält nur ein kleiner Teil von etwa 8.000 Männer und Frauen eine militärische Ausbildung. Die Dienstzeit beträgt je nach Verwendung zwischen neun und 15 Monaten.“

Entscheidung kann dauern

In Deutschland sieht das gänzlich anders aus: Nach Artikel 12a Absatz 1 des Grundgesetzes „können Männer zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden“. Können, nicht müssen. Und von Frauen ist keine Rede.

Dies verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und bedürfte für eine Wiederaufnahme der Wehrpflicht inzwischen einer Grundgesetzänderung. Zudem bleibt zu klären, wie mit jenen Personen umzugehen ist, die sich jeglicher Wehrerfassung entziehen.

FDP und Grüne vertreten nach wie vor das Freiwilligkeitsprinzip. Auch in Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) rührt sich Widerstand und ist die Rede von „Mobilisierung gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht“.

Zwar haben sich laut Ipso 61 Prozent der Befragten für die Wiederaufnahme der Wehrpflicht ausgesprochen. Bleiben 39 Prozent der Deutschen dagegen. Das sind nicht wenige. Diese gilt es entweder zu überzeugen oder von der Wehrpflicht vielleicht doch die Hände zu lassen.

Über den Autor:

Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C. und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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