Nord-Stream-Sprengungen: Wessen Nutzen? Wessen Schaden?
Anfang Oktober sagte der bekannte US-Ökonom Jeffrey Sachs auf „Bloomberg TV“ zu den Sprengungen der Nord-Stream-Pipelines: „Ich würde wetten, dass dies eine Aktion der USA war – vielleicht der USA und Polens.“
Als Gründe dafür nennt er Radarbeweise zu US-Militärhubschraubern, die über diesem Gebiet kreisten, und dass US-Außenminister Blinken die Sprengungen als eine „enorme Chance“ („a tremendous opportunity“) für die USA bezeichnete. Außerdem hätten führende US-Politiker im Voraus vor der Zerstörung der Pipelines gewarnt. So sagte Präsident Biden laut ZDF am 8. Februar 2022: „Sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, habe die Pipeline Nord-Stream 2 keine Zukunft“. […] Auf die Frage, wie er das bei einem Projekt unter deutscher Kontrolle bewerkstelligen wolle, sagte Biden: „Ich verspreche Ihnen, dass wir es schaffen werden.“
Darüber hinaus führt Jeffrey Sachs zur Begründung der vermuteten US-Täterschaft an, die USA verfügten auch über die erforderlichen technischen Mittel, solch eine Zerstörung durchzuführen. „Wahrscheinlich war es eine Boeing P-8 Poseidon, die auch von Überwachungsmonitoren gesehen wurde“, so der renommierte Ökonom.
Schließlich bemerkte er: „Ich weiß, dass dies unserem Narrativ zuwiderläuft und dass es im Westen nicht erlaubt ist, solche Dinge zu sagen, aber Tatsache ist, dass die Menschen überall auf der Welt, wenn ich mit ihnen spreche, glauben, dass es die USA waren.“ Auch US-Journalisten würden dies sagen – aber nur privat, nicht öffentlich.
Was die Motive Russlands angeht, argumentiert Jeffrey Sachs, habe Russland im Gegensatz zu den USA „keinerlei Interesse daran, die Pipelines zu zerstören. Das widerspricht den Interessen Russlands. Russland verliert Einkommen, finanzielles Vermögen und Verhandlungsmacht“, so Sachs.
Das sind bemerkenswerte Aussagen eines führenden US-Ökonomen in einem sehr renommierten Nachrichtenkanal. Im Folgenden soll auf die Hintergründe dazu eingegangen werden.
Wessen Nutzen? Wessen Schaden?
Warum bezeichnete US-Außenminister Antony Blinken die Nord-Stream-Sprengungen als eine „tremendous opportunity“, als „gewaltige Chance“? Durch die Zerstörungen ist für lange Zeit sichergestellt, dass Deutschland von günstiger Energiezufuhr abgeschnitten ist, unabhängig von etwaigen politischen Entscheidungen.
Dadurch werden die Gaspreise in Deutschland für längere Zeit garantiert sehr viel höher sein als früher. Das ist zum einen eine enorme Chance für direkte Flüssiggas-Exporte der USA nach Deutschland und Europa, was ein sehr profitables Geschäft für die US-Fracking-Industrie ist.
Zum anderen, und, ökonomisch betrachtet, vermutlich sehr viel gravierender, ist da noch die dadurch stark geschwächte Wettbewerbsposition der mitteleuropäischen, insbesondere der deutschen, Konkurrenz. Laut „Handelsblatt“ zahlen deutsche Unternehmen derzeit etwa acht bis neun Mal so hohe Preise für Erdgas wie die US-Konkurrenz.
Das dürften viele, vor allem mittelständische Unternehmen, die energieintensive Produkte herstellen, nicht lange überleben können. Daher sprechen führende Vertreter der deutschen Industrie von der Gefahr einer Deindustrialisierung Deutschlands. So titelte das „Handelsblatt“ am 29. August 2022: „Deutschland steckt in einer Energiepreisfalle – ‚In Schlüsselindustrien werden Betriebe reihenweise schließen‘. Die Preise für Strom und Gas sind um ein Vielfaches teurer als in den USA und Asien – und der große Kostenschub kommt erst noch. Die deutschen Konzerne fürchten eine Deindustrialisierung.“
BDI-Präsident Siegfried Russwurm sagte Anfang September 2022: „Die Substanz der Industrie ist bedroht.“ Diese Aussage sollte man sich noch einmal wiederholen: Die Substanz der Industrie ist bedroht, sagt der deutsche BDI-Präsident.
Was dies für Auswirkungen haben könnte, machte Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), am 20. Juli 2022 deutlich. Er sagte auf einer Journalistentagung: „Wir werden einfach ärmer. Für Deutschland male ich Ihnen ein Bild: Ich würde mich nicht wundern, wenn wir am Ende 20 bis 30 Prozent ärmer sind.“
20 bis 30 Prozent, so der DIHK-Hauptgeschäftsführer. Was dies für die Menschen in unserem Land, insbesondere Geringverdiener, bedeuten könnte, ist nur schwer vorstellbar. Allein die Zahl der Menschen, die zu den Tafeln gehen, hat sich in den letzten beiden Jahren von 1,1 Millionen auf über 2 Millionen etwa verdoppelt. Wie sollen diese Menschen einen Einkommensrückgang von 20 bis 30 Prozent überstehen?
Des einen Leid, des anderen Freud
Allerdings sind nicht alle unglücklich, wenn mittelständische Unternehmen in Zentraleuropa in großem Umfang pleitegehen. Wie erwähnt erfreut ein schwacher deutscher Mittelstand die ausländische Konkurrenz. Aber es bedeutet auch sehr gute und vor allem billige Einstiegschancen für Unternehmenskäufer.
Bereits 2018 besaßen die großen US-amerikanischen Investmentgesellschaften wie Blackrock oder Vanguard 34,6 Prozent der Anteile aller DAX-Unternehmen. Weitere 20 Prozent gehörten britischen und irischen Vermögensverwaltern. Das ist ein lukratives Geschäft. Man zahlt einmalig einen Geldbetrag und erhält in alle Ewigkeit, das heißt, solange der DAX existiert, leistungslose Einkommen. Ökonomisch ausgedrückt sind das ewige Renten.
Das Problem: Bei Mittelständlern funktioniert dieses Geschäftsmodell nicht, weil sie nicht börsennotiert, sondern in Familienhand sind und die Familien nur in Notfällen verkaufen wollen. Daher können Krieg, Abschwung und Pleiten für US-Fonds eine ausgezeichnete Gelegenheit darstellen, preiswert an deutsche Mittelständler zu kommen.
Durch die Billiggeldpolitik der USA in den letzten 15 Jahren ist sehr viel Anlage suchendes Geld entstanden, das jetzt dringend nach lukrativer Verwertung strebt. Insbesondere die Finanzbranche sitzt auf sehr hohen liquiden Mitteln. Seit der Zeit vor den Lockdowns, also von Februar 2020 bis heute, sind die Geldeinlagen bei US-Banken um über ein Drittel von 13.300 auf 17.900 Milliarden Dollar gestiegen. Auch die liquiden Mittel der Großkonzerne sind extrem hoch. Allein 2020 „explodierten“ die flüssigen Mittel der 3.000 weltweit größten Konzerne laut „The Economist“ um ein Drittel von 5.700 auf 7.600 Milliarden Dollar.
Deutsche Perlen kaufen
Das ist viel Geld, um auf Einkaufstour zu gehen. Ebenso ist das trockene Pulver der auf Unternehmenskäufe spezialisierten Private-Equity-Fonds erheblich. Laut „Wall Street Journal“ dürften von den US-amerikanischen Private-Equity-Gesellschaften allein 2022 1.000 Milliarden Dollar frisches Kapital eingesammelt werden. Zum Vergleich: Das deutsche Bruttoinlandsprodukt belief sich 2021 auf 3.600 Milliarden Euro – das entspricht beim derzeitigen Wechselkurs etwa 3.500 Milliarden US-Dollar.
Falls es tatsächlich zu einem Ausbluten des deutschen Mittelstandes kommen sollte, bietet das eine „tremedous opportunity“, eine großartige Gelegenheit für das viele im Überfluss vorhandene, dringend nach rentierlicher Anlage suchende US-Kapital. Denn zum einen bekommt man dann die Unternehmen recht günstig, da Notverkäufe den Preis stark drücken.
Aber vermutlich noch viel wichtiger: Durch einen starken Abschwung eröffnet sich überhaupt erst die Möglichkeit, endlich auch deutsche mittelständische Produktionsunternehmen in großem Stil zu kaufen. Darunter befinden sich viele Perlen, die bislang außer Reichweite der US-Fonds waren. Aus dem deutschen Mittelstand kommen über 1.300 sogenannte „Hidden Champions“, Weltmarktführer in Nischenbereichen.
Das ist fast jeder zweite Hidden Champion der Erde. In dem Moment, in dem Unternehmen in existenzielle Krisen kommen, müssen die Eigentümerfamilien oft externe Finanzquellen suchen und sich Kapitalquellen von außen öffnen, ob sie wollen oder nicht. Eine großartige Gelegenheit für US-Käufer. Durch die Nord-Stream-Sprengungen wird diese günstige Gelegenheit zementiert.
Wirtschaftskrieg in Europa
Dazu kommt: Die USA haben seit einigen Jahren ein großes Problem mit Überkapazitäten. Produktionskapazitäten und Massenproduktion sind in den letzten vier Jahrzehnten ungleich schneller gestiegen als die Masseneinkommen. Grund dafür war die ständig steigende Ungleichverteilung.
Um dennoch die ganze Produktion absetzen zu können, wurde die Massennachfrage über immer höhere Schulden und große Mengen frisch gedruckten Notenbankgeldes aufrechterhalten. Eine mögliche Lösung des heimischen Überkapazitäten- und Schuldenproblems wäre daher die Schwächung oder Eliminierung von Konkurrenzkapazität im Ausland, insbesondere in Deutschland, das die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt und ein harter Konkurrent der USA ist.
Dauerhaft hohe Energiepreise in Deutschland wären daher aus Sicht der USA hochwillkommen. Und daher meint Jeffrey Sachs sicherlich mit Recht: „Solange der Krieg andauert, wird die Wirtschaftskrise in Europa andauern.“
Explodierende Nord-Stream-Pipelines und eine damit einhergehende Eskalierung des Ukraine-Krieges – wenn es medial gelingt, die Sprengungen den Russen in die Schuhe zu schieben – sind also sehr erfreuliche Nachrichten für eine von Überkapazitäten geplagte, auf hohen Geldbergen sitzende US-Industrie und Finanzindustrie, eine „tremendous opportunity“, wie Antony Blinken meinte.
Über den Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß (Jahrgang 1962) studierte und promovierte in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Er war neun Jahre als Bankier tätig, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Seit 2002 ist er Professor für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre sowie Autor mehrerer Bücher wie „Gekaufte Wissenschaft“ (2020) und „Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft“ (2019). www.menschengerechtewirtschaft.de
Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 67, vom 22. Oktober 2022.
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