Nach einem halben Jahr: „Geheimplan-Artikel“ sorgt noch immer für Debatten
Erinnern Sie sich noch an den 10. Januar 2024? Damals, zwei Tage nach dem Auftakt der Bauernproteste, beherrschte plötzlich ein Artikel des Recherchenetzwerks „CORRECTIV“ die deutschen Schlagzeilen. In dem Text „Geheimplan gegen Deutschland“ ging es um ein Treffen in einem Potsdamer Landhotel, bei dem sich im November 2023 neben Privatpersonen auch Parteimitglieder von AfD und CDU zum Gedankenaustausch über das Thema Remigration getroffen hatten. Mit dabei war auch der Österreicher Martin Sellner, das wohl bekannteste Gesicht der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften „Identitären Bewegung“.
„Sie planten nichts Geringeres als die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland“, hieß es im Vorspann des „CORRECTIV“-Artikels, und kurz darauf: „Ihr wichtigstes Ziel: Menschen sollen aufgrund rassistischer Kriterien aus Deutschland vertrieben werden können – egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht.“
Gerichtsfeste Belege nicht vorhanden
Nach einem guten halben Jahr, 15 eidesstattlichen Versicherungen von beiden Seiten, zahllosen Presseberichten und Gerichtsterminen später steht allerdings fest: Belege für die mutmaßlich rassistisch motivierten Vertreibungspläne der Hotelgäste, von denen „CORRECTIV“ geschrieben hatte, liegen noch immer nicht öffentlich und gerichtsfest vor.
Das Oberlandesgericht Hamburg verurteilte jüngst am 23. Juli 2024 den NDR per Eilverfahren, weil dessen Nachrichtensendung „Tagesschau“ ungeprüft die bislang unbewiesene Behauptung aufgegriffen hatte, dass im Potsdamer Landhotel auch eine Ausweisung von deutschen Staatsbürgern besprochen worden sei (Az. 7 W 78/24). Auch im Fernsehen hatte die „Tagesschau“ über „Berichte von Deportationsplänen“ berichtet.
Auf Unterlassung geklagt hatte der Verfassungsrechtler Dr. Ulrich Vosgerau, der ebenfalls in Potsdam dabei gewesen war. Das Portal „Legal Tribune Online“ (LTO) hatte über das Urteil berichtet. In einem womöglich folgenden Hauptsacheverfahren könne die Justiz „nach umfassender Beweisaufnahme“ allerdings noch zu einem anderen Urteil gelangen, gab die LTO zu bedenken.
„Übermedien“ mit scharfer Kritik
Ein weiterer Anlass zur Distanz war nach Einschätzung des Nachrichtenportals „NiUS“ wohl eine Analyse des Portals „Übermedien“ vom 30. Juli, in der Christoph Kucklick, Felix W. Zimmermann und Stefan Niggemeier den Geheimplan-Artikel und die nachfolgende Berichterstattung als wenig preiswürdig beurteilt hatten. Zuvor war „CORRECTIV“ unter anderem mit dem Carlo-Schmid-Preis 2024 für „seinen herausragenden Beitrag zur Stärkung der Demokratie“ ausgezeichnet worden:
Längst ist offenkundig, wie problematisch die Correctiv-Berichterstattung und ihre Rezeption sind. Und wie sehr gleichzeitig in weiten Teilen der seriösen Presse eine kritische Auseinandersetzung damit fehlt. […] Der Text ist misslungen, das Verhalten von Correctiv nach der Veröffentlichung fragwürdig und die Berichterstattung vieler Medien eine Katastrophe.“
Gleichwohl bezeichneten Niggemeier und seine beiden Co-Autoren die von „CORRECTIV“ ausgelösten Anti-Rechts-Proteste als „gut und wichtig“.
Kurz darauf gab der „Spiegel“ (Bezahlschranke) als erstes großes Medium Niggemeier die Gelegenheit, seine Gedanken noch einmal in einem Gastbeitrag auszuformulieren. Niggemeier ermahnte darin „CORRECTIV“ abermals, lieber „genau hinzuschauen“, auch wenn es „die vermeintlich ‚Richtigen‘“ treffe. Der „Spiegel“ selbst (Bezahlschranke) hatte für das Potsdamer Treffen schon am 12. Januar das Wort „Deportationsgipfel“ erfunden und anhand seiner Story ein AfD-Parteiverbot diskutiert.
SZ, FAZ und andere Medienhäuser rudern zurück
Die „Süddeutsche Zeitung“ (Bezahlschranke) hatte am 2. August „CORRECTIV“ dafür kritisiert, sich auch wegen handwerklicher Mängel „ohne Not angreifbar“ gemacht und sich dadurch „selbst entzaubert“ zu haben. Für das „Münchener Blatt“ steht inzwischen fest: „Es ging in Potsdam tatsächlich nicht direkt um die Ausweisung von deutschen Staatsbürgern aus rassistischen Motiven.“
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ, Bezahlschranke) griff vorwiegend die „unkritische Instant-Übernahme der [„CORRECTIV“-]Story durch zahlreiche andere Medien“ am 10. August kritisch auf. Man müsse wieder mehr „über journalistische Standards“ debattieren, meinte die FAZ.
Ähnlich sieht es offenbar auch die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ): „Viele deutsche Medien“ würden heute noch eine Aufarbeitung ihres Umgangs mit dem Geheimplan-Artikel scheuen. Das zeuge von „mangelnder Selbstkritik“. Der „CORRECTIV“-Text habe es wohl „offenbar darauf angelegt, jedem Leser zu suggerieren, dass aufgrund von rassistischen Vorstellungen Staatsbürger mit Migrationshintergrund ausgewiesen werden sollen“, so die NZZ. Das sei „eine grobe Verkürzung, die in die Irre“ führe.
Das Magazin „Cicero“ (Bezahlschranke) kam zu einem ähnlichen Schluss: Die „CORRECTIV“-Autoren neigten zu einer „assoziativen Meinungsäußerung“, um womöglich justiziable Tatsachenbehauptungen zu umgehen: „Jeder Journalist weiß, wie man die Öffentlichkeit auf diese Art manipulieren und zugleich seine Hände in Unschuld waschen kann“, so „Cicero“-Autor Mathias Brodkorb. Der Geheimplan-Text sei aus seiner Sicht nichts anderes als ein „Vorgang der politisch motivierten Manipulation der Öffentlichkeit im Namen der guten Sache“ gewesen.
„Welt“-Kommentator Frank Lübberding stellte am Beispiel von „CORRECTIV“ gar das Modell der gemeinnützigen und dadurch mit Privilegien ausgestatteten Medien als solches infrage: „In der Praxis verschafft es Journalisten, die sich als parteipolitische Lobbyisten verstehen, einen Wettbewerbsvorteil – mit freundlicher Unterstützung der Ampel-Regierung“, meinte Lübberding in seinem aktuellen Meinungsbeitrag.
„CORRECTIV“ verteidigt Kern der Recherche
Das „CORRECTIV“-Team war von der Auseinandersetzung mit seinem wohl bekanntesten Coup alles andere als begeistert. In einer offiziellen Stellungnahme hatte sich das Recherchenetzwerk selbst am 2. August speziell gegen die wenig schmeichelhaften Worte von „Übermedien“- und „Spiegel“-Autor Stefan Niggemeier gewehrt: Der Kern der Recherche sei auch gerichtlich unangetastet geblieben, notwendige Korrekturen habe man erledigt und ausgewiesen. „CORRECTIV“ bleibe bei seiner Hauptaussage:
Unsere Belege und Zitate machen deutlich, dass es um die Vertreibung von Millionen Menschen, darunter auch deutscher Staatsbürger, ging.“
Eigene Überzeugungen statt handfeste Belege
Dass „CORRECTIV“ über angeblich gegen Millionen Menschen gerichtete Vertreibungspläne wegen „falscher Hautfarbe oder Herkunft“ geschrieben hatte, sei nach eigener Aussage des Netzwerks keine Tatsachenbehauptungen gewesen, wie das Portal LTO schon im Februar klargestellt hatte. Man habe lediglich „Überzeugungen“, „unsere Auffassung“ oder „wertende Schlussfolgerungen“ zum Ausdruck gebracht, die „allerdings auf sehr dichter und belastbarer faktischer Basis“ beruhten, zitiert LTO aus einer Antwort von „CORRECTIV“ auf eine eigene Anfrage.
Die weitere Wortwahl und die gesamte Aufmachung des wie ein Theaterdrama strukturierten Geheimplan-Artikels hätten bei oberflächlicher Lektüre den Eindruck erwecken können, dass sich am Rande von Potsdam tatsächlich eine Art „Wannseekonferenz 2.0“ abgespielt haben musste. Und genau davon waren offensichtlich Millionen von Menschen überzeugt, die in den Monaten nach dem 10. Januar 2024 auf die Straßen zum „Kampf gegen Rechts“ zogen.
Netzwerk Recherche zeichnete „Correctiv“ aus
Der Verein Netzwerk Recherche hatte seinen jährlichen Leuchtturm-Preis am 19. Juli 2024 an das Medienhaus „CORRECTIV“ verliehen – für „besondere publizistische Leistungen“ im Fall seines Geheimplan-Artikels. Daniel Drepper, der Vorsitzende von Netzwerk Recherche, lobte den Aufwand:
Die Arbeit von CORRECTIV steht exemplarisch für den Wert und die Notwendigkeit von investigativem Journalismus. Selten hat eine einzelne Recherche einen solchen Impact gehabt und uns allen gezeigt, wie wichtig diese Art von Journalismus für unseren demokratischen Diskurs ist.“
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