Mehr Demokratie wagen?
Die Demokratie geniesst bei den meisten von uns einen ausgezeichneten Ruf. Demokratie ist zu einem Synonym für Frieden, Freiheit und Wohlstand geworden.
Und tatsächlich bringt ein demokratisches System so einige Vorteile mit sich: Es ermöglicht einen unblutigen Machtwechsel, erlaubt politische Mitbestimmung und verschafft dem staatlichen Handeln dadurch eine grössere Legitimität.
Wenn die Demokratie nicht nur eine repräsentative, sondern eine (halb)direkte ist, so steigt das Interesse sowie das Bewusstsein der Bürger für komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge und es darf von einem höheren politischen Bildungsgrad ausgegangen werden.
Demokratieverherrlichung wäre dennoch fehl am Platz, auch weil im Namen der Demokratie grosser Unsinn betrieben wird. Die Demokratie hat fundamentale Schwächen, welche verdeutlichen, dass die Welt keineswegs eine bessere wäre, wenn wir bloß überall der Demokratie (militärisch) zum Durchbruch verhelfen.
Freiheit und Demokratie gehören nicht zwingend zusammen
Ein zentrales Argument für die Demokratie ist jenes, dass es den friedlichen, unblutigen Machtwechsel ermögliche. Im Gegensatz zu autokratischen oder diktatorischen Regimen ist das natürlich ein Vorteil.
Doch wir sollten die Demokratie nicht nur mit offensichtlich dysfunktionalen und unethischen Systemen vergleichen, in welchen eine Minderheit eine Mehrheit ausplündert, sondern auch mit möglicherweise funktionalen Alternativen, in welchen niemand irgendjemand ausplündern darf und in welchen das Recht für alle gleichermassen gilt.
Das heisst: Mit Systemen, in welchen niemand legal einen Staatsapparat dazu einsetzen darf, seinen Willen unter Androhung oder Anwendung von Gewalt gegenüber anderen durchzusetzen.
Systeme, von denen hier die Rede ist, haben alle etwas mit dem Liberalismus zu tun, oder besser gesagt: dem konsequent zu Ende gedachten Liberalismus. In diesem ist das Individuum eben nicht unfreiwilliger Zweck für andere, sondern Zweck an sich.
Es setzt sich seine Ziele und die Mittel zur Zielerreichung selbst, solange es Leben und Eigentum seiner Mitmenschen respektiert. Ein solches System wurde weltweit leider noch nirgendwo konsequent umgesetzt. Doch vielleicht ist genau das der Hauptgrund dafür, weshalb es das noch nicht gibt: Dass die Bürger meinen, die Demokratie sei das beste aller denkbaren Systeme des Zusammenlebens.
Oft wird davon ausgegangen, dass Freiheit und Demokratie zwingend zusammengehörten. Doch das ist ein Irrtum. Es gibt undemokratische Länder wie Singapur (der Bertelsmann Transformation Index etwa ordnet Singapur den autokratisch regierten Staaten zu), die eine wesentlich grössere Wirtschaftsfreiheit aufweisen als demokratische Länder wie z.B. Deutschland, Frankreich oder Italien. Selbst gegenüber der Schweiz ist der Index der wirtschaftlichen Freiheit in Singapur größer.
Wähler können zwar mitbestimmen, aber nicht selbst bestimmen
Freiheit und Demokratie schliessen sich auf der anderen Seite aber auch nicht aus. Es wäre durchaus denkbar, mit dem Prozess einer demokratischen Abstimmung zu einem ethisch vertretbaren Resultat zu gelangen. Nämlich dann, wenn vor einer Abstimmung alle von der Abstimmung Betroffenen eingewilligt haben, dass sie mit dem Instrument einer Abstimmung zu einem bindenden Ergebnis gelangen möchten.
Liegt diese Einwilligung allerdings nicht vor, handelt es sich bei einer Abstimmung aber um eine Scheinlegitimation für Gewaltausübung gegen Minderheiten.
Dies gilt insbesondere, wenn Abstimmungen lanciert werden, die im Kern nichts anderes sind, als Angriffe auf Leben und Eigentum einiger (z.B. eine Sondersteuer für Reiche). In einem solchen Fall trifft der Benjamin Franklin zugeschriebene Ausspruch durchaus zu:
Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht.“
In den nahezu unbeschränkten Demokratien von heute können die Wähler sich zwar selbst zur Wahl aufstellen und mitbestimmen. Aber sie können eben nicht selbstbestimmen. Ihre eigenen Geschicke liegen nicht in ihren eigenen Händen, sondern in den Händen einer wie auch immer definierten politischen Mehrheit.
Es ist offensichtlich, dass es für jeden Einzelnen vorteilhafter wäre, wenn er über seine eigenen Angelegenheiten selbst befinden dürfte, weil wir davon ausgehen, dass jeder seine Situation selbst am besten kennt und besser als andere Menschen einschätzen kann, was gut und schlecht für ihn ist.
Es wäre z.B. besser, wenn jeder in einer Pandemie selbst gemäss seiner eigenen Risikoabwägung entscheiden dürfte, ob er sich zuhause einigeln, zum Selbstschutz eine Maske tragen oder sich einen experimentellen Impfstoff verabreichen und mehrmals auffrischen möchte.
Unethisch: Andere zu bestimmtem Verhalten zwingen
Unethisch erscheint jedoch ein System, in dem eine Stimmbürger-Mehrheit allen anderen (auch Nicht-Stimmbürgern wie Minderjährigen und Ausländern) aufzwingen kann, wie sich jeder zu verhalten hat. Noch offensichtlicher wird dies, wenn dieser aufoktroyierte Verhaltenskodex bei Nonkonformität medial denunziert und bei der Polizei angezeigt wird, damit diese mit Gewalt gegen Abtrünnige durchgreift.
Es kann zudem durch logisches Nachdenken einfach erkannt werden, dass ein liberales System der Selbstbestimmung einem demokratischen System der Mitbestimmung nicht nur ethisch, sondern auch im Hinblick auf die Anhebung des Lebensstandards überlegen ist.
Im reinen Liberalismus stünde im Gegensatz zur ausgedehnten Demokratie nicht die von einer Stimmbürger-Mehrheit befohlene Zwangsausübung im Vordergrund, sondern freiwillige Vertragsvereinbarungen. Während es sich bei Zwangsausübungen immer um eine «win-lose»-Beziehung handelt (eine Gruppe gewinnt auf Kosten einer anderen), entsteht bei freiwillig abgeschlossenen Verträgen aus Sicht der Vertragsparteien immer eine «win-win»-Situation.
Denn niemand würde freiwillig einen Vertrag abschliessen, wenn man dadurch einen Verlust erwartet. Weil der Wohlstand eben kein Nullsummen-Spiel ist – kein immer gleichbleibender Kuchen, den man einfach jedes Jahr wie von Zauberhand geschaffen aus dem Ofen holen und dann verteilen kann – wächst der Kuchen umso mehr, je mehr „win-win“-Beziehungen entstehen.
Wen brauchen wir?
Der Ökonom Hans-Hermann Hoppe formulierte in seinem Buch Demokratie: Der Gott, der keiner ist die wohl vernichtendste Demokratie-Kritik, die je geäussert wurde:
„Die Demokratie muss sowohl in wirtschaftlicher als auch in moralischer Hinsicht als historischer Fehlschlag beurteilt werden. Demokratie fördert Kurzsichtigkeit, Kapitalverschwendung, Unverantwortlichkeit und moralischen Relativismus. Sie führt zu dauernder zwangsweiser Einkommens- und Vermögensumverteilung und ständiger Rechtsunsicherheit. […]. Sie fördert das Demagogentum und den Egalitarismus. Sie ist nach innen gegenüber der eigenen Bevölkerung und nach aussen hin aggressiv und tendenziell totalitär. Insgesamt führt sie zu einem dramatischen Anstieg der Staatsmacht […]. Sie ist ebenso zum Untergang bestimmt wie der Sowjetkommunismus zum Untergang bestimmt war.“
Winston Churchill (1874–1965) hatte vielleicht Recht, wenn er meinte, dass „die Demokratie die schlechteste aller Staatsformen“ sei – „ausgenommen aller anderen“.
Doch wir sollten eben nicht nur in „Staatsformen“, sondern auch etwas „out of the box“ denken. Um es in den Worten des grossen Buchautors Roland Baader (1940–2012) zu sagen: „Wir haben tausend Jahre gebraucht, um festzustellen, dass wir keine Kaiser, Könige und Fürsten brauchen, die uns vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben. Hoffentlich brauchen wir keine weiteren tausend Jahre, um zu begreifen, dass wir dazu auch keine Regierungen, keine Parteien, keine Politiker und keine Funktionäre brauchen.“
Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich und Mitherausgeber und Autor des Buchs „Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz“, das am 25. Oktober 2022 erschienen ist.
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