Deutschland braucht die Diskussion über eine Renaissance des Föderalismus
Der Liberalismus setzt auf die Freiheit des Individuums. Der Einzelne weiß besser als andere, welche Wünsche und Lebensziele er hat. Kein Politiker, keine Regierung und kein Staat haben dieses Wissen. Daher ist der Liberale auch skeptisch gegenüber Macht, insbesondere wenn sie von staatlicher Seite ausgeübt wird. Machtteilung ist daher ein Prinzip, das für Liberale essenziell ist.
Die Gewaltenteilung ist Ausdruck dieser Machtteilung. Aber auch der Föderalismus. Der Föderalismus ist sogar der beste Freund des Liberalismus. Denn der Föderalismus ist geteilte Macht. Geteilte Macht ist beschränkte Macht. Staatliche Macht wird im Föderalismus vor Ort in der Gemeinde, der Stadt oder dem Bundesland ausgeübt. Viele wesentliche Aspekte des organisierten Miteinanders können vor Ort sehr viel besser zur Entfaltung kommen, als wenn man versucht, sie zentral zu organisieren: soziale Kontrolle der Macht, Versuch und Irrtum, eine Differenziertheit der Problemlösungen.
Der liberale Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek beschreibt in einem seiner wichtigsten Essays, „The Use of Knowledge in Society“ von 1945, dass es neben allgemeingültigem Fachwissen noch zusätzliches Wissen gibt, das Wissen um Zeit und Ort: „Diesbezüglich hat praktisch jede Person einen gewissen Vorteil gegenüber allen anderen, weil sie einzigartige Informationen hat, deren Nutznießer sie sein kann, vorausgesetzt, die davon abhängigen Entscheidungen werden von dieser Person oder unter ihrer aktiven Mithilfe getroffen“, formuliert Hayek treffend.
In dem Essay wendet Hayek diese Beobachtung an, um die Vorzüge einer freien Marktwirtschaft gegenüber einer Planwirtschaft zu begründen. Die Idee lässt sich aber ebenso auf die Vorteile eines föderalen Systems gegenüber einem zentralistischen Einheitsstaat übertragen. Entscheidungen sollten auf einer möglichst niedrigen Ebene getroffen werden, um das Wissen über die speziellen Umstände von Ort und Zeit entsprechend einfließen zu lassen.
Doch wie ist es um den Föderalismus in unserem Land aktuell bestellt?
Eigentlich nicht sehr gut. Der Föderalismus ist nur noch ein Rudiment. Er ist ausgehöhlt und fast zur Unkenntlichkeit zusammengefallen. Kommunen, aber auch Bundesländer können kaum selbst Entscheidungen treffen. Unter dem Vorwand der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse mischt sich der Bund in alle Bereiche ein. Von Bildung über Sozialhilfe bis hin zum Öffentlichen Nahverkehr finanziert der Bund Länder und Kommunen mit. Der Preis sind immer mehr Mitspracherechte.
Dieser „Goldene Zügel“ lässt die Bundesländer und die Kommunen verkümmern. Sie sind nur noch Handlungsgehilfen des Bundes. Das ist nicht gut. Denn dadurch verschwimmen Haftung und Verantwortung. Der Bürger als Wähler kann nicht mehr unterscheiden, welche Ebene es gut macht und welche schlecht. Alle sind irgendwie schuld, wenn etwas schief geht.
Hier geht es nicht um kleinliches Kompetenzgerangel: Der Rückbau föderaler Machtkontrolle untergräbt langfristig auch unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie. Deshalb braucht es eine Diskussion über eine Renaissance des Föderalismus in Deutschland.
Wer Verantwortung zuordnen will, der muss die Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Länder entflechten – sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite. Die Länder brauchen nicht nur eigene Steuern, sondern auch entsprechende Gesetzgebungskompetenz.
Warum können die Einnahmen der Einkommens- und der Mehrwertsteuer nicht zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden? Der eine bekommt die Einnahmen der Mehrwertsteuer und die anderen die Einnahmen der Einkommensteuer. Das Aufkommen beider Steuern ist ungefähr gleich, daher ist es eigentlich unsinnig, dass beide Einnahmequellen zwischen beiden staatlichen Ebenen verteilt werden.
Warum schaffen wir nicht mehr Wettbewerb im Steuerrecht?
Kommunen könnte ein Hebesatzrecht auf die Einkommens- und Körperschaftsteuer gewährt werden, um einen echten Wettbewerbsföderalismus in Gang zu setzen. Warum können Kommunen und Bundesländer nicht pleitegehen? Viele meinen, dann ginge die Welt unter.
Doch die Schweiz macht es uns vor: 1998 wurde die Gemeinde Leukerbad zahlungsunfähig. Die Gläubiger wollten sich anschließend beim Kanton Wallis und beim Bund schadlos halten. Das oberste Gericht der Schweiz verwehrte das. Leukerbad und die Gläubiger mussten sich auf einen Schuldenschnitt einigen. Seitdem differenzieren die Zinsen der staatlichen Ebenen in der Schweiz entsprechend zu Schuldenstand und Risiko.
Warum erzeugen wir nicht mehr Wettbewerb auch auf der Ausgabenseite? Müssen überall die gleichen Sozialhilfesätze und die gleichen Sozialleistungen bezahlt werden? Die Lebenshaltungskosten in München sind ja auch andere als in Greifswald.
Muss im ganzen Land nach dem gleichen Curriculum an den Schulen unterrichtet und mit einem Zentralabitur abgeschlossen werden? Würde eine stärkere Differenzierung den unterschiedlichen Begabungen jedes Einzelnen nicht viel besser gerecht werden? Braucht es eine einheitliche Objektförderung für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Kindertagesstätten?
Muss der Bund den Bau einer Multifunktionshalle im ostwestfälischen Minden fördern oder die Renovierung einer Kirche in Bayern finanzieren? All das verwischt Verantwortung und Haftung und verhindert den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Schauen wir nach Süden und versuchen wir, mehr Schweiz zu wagen!
Über den Autor: Frank Schäffler ist FDP-Politiker und seit 2014 Geschäftsführer einer Berliner Denkfabrik.
Der Artikel erschien zuerst bei Prometheus-Das Freiheitsinstitut.
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