Das Rennen nach der letzten Bombe in der Ukraine
Während die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ereignisse in Moskau nach dem verheerenden Anschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogorsk gerichtet ist, geht der Krieg im Osten der Ukraine mit unverminderter Intensität weiter. Verlief das Leben in Moskau und dem Vernehmen nach auch in Kiew bislang so weit als möglich normal, könnten der Anschlag auf die Konzerthalle und die weiteren angekündigten Anschläge sowie der Beschuss des Zentrums von Kiew durch russische Raketen die Lage in dieser Beziehung massiv ändern.
Bislang ließen die Opferzahlen, welche die UN-Menschenrechtskommission in Kiew veröffentlichte, keinen Schluss darauf zu, dass die Kriegsparteien systematisch gegen die Zivilbevölkerung vorgehen würden (1), doch könnte der Angriff auf die Crocus City Hall einen neuen Abschnitt der Kriegführung einläuten, wenn er denn tatsächlich ein Werk des ukrainischen Militär-Nachrichtendienstes GUR (2) war.
Die festgenommenen Terroristen werden den russischen Behörden wohl erzählen, was immer diese hören wollen, aber die unverhohlene Schadenfreude in Kiew wird die Russen jede Zurückhaltung vergessen lassen.
Frontbegradigungen vorgesehen?
Entlang weiter Teile der Front ist die russische Armee in die Offensive übergegangen. Im Raum Orikhiv, welcher den Schwergewichtsabschnitt der gescheiterten ukrainischen Sommeroffensive dargestellt hatte, sind die Russen seit Wochen daran, das Gelände, welches die ukrainische Armee im Sommer letzten Jahres besetzt hatte, zurückzuerobern.
Zur Vorbereitung ihrer Angriffe warfen sie Fliegerbomben des Typs FAB auf die Stellungen ab, welche die ukrainischen Soldaten nach dem Ende der Sommeroffensive im Oktober vergangenen Jahres zweifellos gegraben hatten. Bislang sind die russischen Geländegewinne aber klein.
Im Raum Vugledar schicken sich die Russen offenbar an, östlich an der Bergbaustadt vorbeizustoßen und womöglich den ganzen Frontabschnitt zwischen dem mittlerweile auf drei Seiten eingekreisten Novomykhailivka und Vugledar zu begradigen.
Auch im Raum Kreminna haben die Russen bescheidene Geländegewinne erzielt und können in den nächsten Tagen bis Wochen versuchen, hier bis zum Fluss Zherebets vorzustoßen. Dies zeigen Vergleiche der Lagekarten russischer Blogger mit den Karten des ukrainischen Portals Live UA Map.
Präzision und Wirkung
In den letzten Monaten spiegelte aber der Einsatz der erwähnten Fliegerbomben der Typen FAB-500, -1500 und -3000 das Schwergewicht der russischen Anstrengungen wider. (3) Ende Oktober bereiteten sie die Gegenoffensive der Russen vor, die, nach den Verlustzahlen an ukrainischen Panzern und Artillerie zu schließen, um den 4. Dezember herum begonnen hat. (4)
Danach wechselte das Schwergewicht des FAB-Einsatzes in den Raum Kherson, wo die Russen versuchten, die zwischen den Flüssen Dnepr (ukr. Dnipro) und Krynka eingegrabenen ukrainischen Soldaten zu vernichten. Das gelang offenbar bis jetzt nicht. Seit Mitte Februar ist der Schwerpunkt des Einsatzes nun westlich von Donetsk zu beobachten.
Die ukrainische Armee wehrte sich gegen den Einsatz dieser Bomben durch die Verlegung von Flugabwehrsystemen großer Reichweite nahe an die Front, denn die russischen Flugzeuge, welche die FAB tragen – üblicherweise sogenannte Frontbomber des Typs Sukhoi-34 –, werfen diese aus großer Distanz noch tief im eigenen Hinterland ab.
Erste Lieferungen der FAB an die Front waren im September 2022 gemeldet worden. Über die Produktion eines Präzisionssteuerungsmoduls für die FAB berichteten die Russen aber erst im September 2023. (5)
Seither setzen die russischen Streitkräfte diese schweren Bomben teilweise wenige hundert Meter vor den eigenen Truppen ein, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass sie der Präzision des Einsatzes von FAB-Bomben vertrauen.
Dass sie diese Präzision trotz der Gegenwehr ukrainischer Flugabwehr und elektronischer Gegenmaßnahmen erreichen, ist bemerkenswert. Die ukrainischen Abwehrmaßnahmen zeitigten um die Jahreswende einige Erfolge, als sie mindestens fünf russische Flugzeuge abschossen. Das mussten selbst russische Blogger wie beispielsweise Rybar eingestehen.
Danach verlegten sich die Russen aber auf die gezielte Suche nach den Flugabwehrbatterien der Ukrainer und konnten mindestens neun davon zerstören, welche den Ukrainern nun eventuell fehlen, nachdem die Russen begonnen haben, Ziele im Zentrum von Kiew anzugreifen. (6)
Auch ein Rückzug der Flugabwehrsysteme von der Front brachte nicht viel, denn die Russen sind offensichtlich in der Lage, derartige Ziele bis in 70 Kilometer Tiefe im gegnerischen Hinterland aufzuklären und zu treffen, so zum Beispiel das Gelände des Sportflugplatzes „Hydroport“ in Odessa am 5. März 2024.
Ukrainische Front im Rutschen
Im Raum westlich des bestens bekannten Bakhmut/Artemovsk vor der Stadt Chasov Yar scheint die ukrainische Front ins Rutschen gekommen zu sein. Ein erstes Zwischenziel der Russen dürfte hier der Severski-Donets-Donbass-Kanal darstellen, an welchem die Ukrainer wohl versuchen werden, eine neue Verteidigungslinie zu bilden.
Südlich von Chasov Yar werden die Russen aber versuchen, die Agglomeration Toretsk zu umgehen, wo als einziger Abschnitt die Frontlinie heute identisch mit jener vom Februar 2022 ist.
Einen geraden Stoß aus dem in acht Jahren leidgeprüften Horlivka/Gorlovka nach Toretsk hinein werden die Russen wahrscheinlich zu vermeiden suchen. Solange sie Aussichten besitzen, Toretsk erobern zu können, werden sich die Russen womöglich nicht auf Verhandlungen einlassen.
Westlich von Avdiivka/Avdeevka hat sich die Front der ukrainischen Armee noch nicht stabilisieren können. Nach der Entscheidung des neu ernannten ukrainischen Generalstabschefs Oleksandr Syrskyj, die Stadt preiszugeben, setzten die Russen eher langsam nach, wohl um nicht in Gefahr zu geraten, das frisch gewonnene Gelände nach ukrainischen Gegenangriffen wieder preisgeben zu müssen.
Der Rückzug der Ukrainer aus Avdiivka erfolgte offensichtlich überstürzt, denn sie ließen eine große Anzahl schwerer Waffen zurück, die sie nicht mehr evakuieren konnten. Natürlich präsentieren die Russen stolz die Trophäen aus Avdiivka. Der Aufbau einer neuen Verteidigungslinie zwischen Berdychi und Tonenke ist bereits gescheitert. Die nächste günstige Gelegenheit bietet sich am Flüsschen Volcha.
Jagd auf den Geheimdienstchef?
Nach dem Attentat auf die Konzertbesucher der Crocus City Hall hat der Kreml sofort die Verbindung zum ukrainischen Militärgeheimdienst hergestellt und die Jagd auf dessen Chef Kyrylo Budanow eröffnet. Die Russen werden zumindest dafür sorgen, dass dieser einige Zeit auf Tauchstation gehen muss.
Die Raketeneinschläge im Zentrum von Kiew bedeuten, dass die Russen durchaus in der Lage sind, bestens geschützte Einrichtungen der Ukrainer anzugreifen. Dass die russische Ziel- und Wirkungsaufklärung funktioniert, lassen die Zahlen ausländischer Söldner vermuten, welche die russischen Behörden publizieren.
Den Wahrheitsgehalt dieser Meldung zu überprüfen, wird nicht möglich sein, solange sich beide Seiten – auch die Ukraine – über Verluste ausschweigen. Wenn dem aber so wäre, dann würde das bedeuten, dass die russischen Nachrichtendienste Informanten in den ukrainischen Streitkräften haben, welche sie laufend über die Ankunft ausländischer Freiwilliger beziehungsweise Söldner informieren.
Das bedeutete dann auch, dass diese Informanten geschützte Kommunikationskanäle nutzen können, welche eine sofortige Meldung erlauben. In einem Land wie der Ukraine, das die Mobiltelefonie eng überwachen dürfte, wäre das eine Leistung, die Kiew und besonders Budanow große Sorgen bereiten müsste.
Wenn die russischen Zahlen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, dann suchen die Russen entweder speziell ausländische Freiwillige in der Ukraine und gehen gezielt gegen diese vor, oder die ukrainischen Verluste seit Februar 2022 belaufen sich wirklich auf 40 Prozent des Totalbestands. Das weitere Schicksal von Budanow wird es zeigen.
Dilemma: Für alles reicht es nicht
Der akademische Leiter des Instituts für Militärische Weltwirtschaft und Strategie an der Higher School of Economics in Moskau, Dmitri Trenin, machte vor wenigen Tagen klar, dass der Anschlag auf die Crocus City Hall außenpolitisch-diplomatisch nicht ohne Konsequenzen bleiben kann.
Im Informationskrieg polarisiert das Verbrechen von Krasnogorsk weiter und stellt sicher, dass beide Seiten nur noch unversöhnlicher werden. Und es sind neue Hürden für Waffenstillstandsgespräche entstanden.
Aber in militärischer Hinsicht wird sich wenig ändern: Moskaus Truppen sind auf dem Vormarsch und die Ukrainer werden jetzt eher damit beschäftigt sein, Luft- und Raketenangriffe abzuwehren, als den Verlust von weiteren unbekannten Dörfern im Osten des Landes zu verhindern.
Sie brauchen alles: Bodentruppen, Artilleriemunition und Flugabwehr, und das jetzt rasch. Wie immer Kiew und der Westen das Schwergewicht setzen, für alles reicht es nicht.
Die ukrainische Flugabwehr rennt derzeit den jeweiligen letzten Explosionen hinterher: Schützt sie die Front, schlagen die Raketen im Hinterland ein. Schützt sie das Hinterland, fallen die Bomben an der Front.
Ein riesiges Land und eine tausend Kilometer lange Front setzen eben Grenzen. Moskau hingegen muss jetzt einfach Überreaktionen vermeiden und weitermachen wie bisher.
Anmerkungen:
(1)Das Office of the UN High Commissioner for Human Rights (OHCHR) sammelte und veröffentlichte bis September 2023 regelmäßig die Zahlen der zivilen Opfer des Kriegs in der Ukraine. Im Vergleich zu den angenommenen Verlusten der Streitkräfte beider Seiten und im Vergleich zu früheren militärischen Konflikten sind diese Zahlen vergleichsweise niedrig. Der italienische Wissenschaftler Giovanni De Luna hat diesem Thema eine eigene Untersuchung gewidmet: Il corpo del nemico ucciso. Violenza e morte nella guerra contemporanea, Turin 2006, hier eine eingeschränkte Vorschau online, in italienischer Sprache. Ihr zufolge (S. 229) ist der Anteil an Zivilpersonen in der Gesamtzahl der Opfer von 5 Prozent im Ersten Weltkrieg auf 90 bis 95 Prozent in den Kriegen gegen Ende des 20. Jahrhunderts gestiegen. Vgl. Andreas Wenger, Simon J. A. Mason: The civilianization of armed conflict: trends and implications, bei International Review of the Red Cross, Volume 90 Number 872 December 2008, „Civilians – women, children and the elderly – and not uniformed personnel make up the overwhelming number of victims in such conflicts„, ebd. S. 842.
(2) Die Abkürzung GUR steht für ukrainisch Головне управління розвідки Міністерства оборони України (transkribiert Holowne uprawlinnja roswidky Ministerstwa oborony Ukrajiny), übersetzt Hauptverwaltung Aufklärung des Verteidigungsministeriums, welche seit 2020 unter der Leitung von Generalleutnant Kyrylo Budanow steht.
(3) Die Abkürzung FAB, russisch ФАБ, steht für Фугасная Авиационная Бомба (transkribiert Fugassnaya Aviatsionnaya Bomba) und bedeutet Fliegerbombe mit Sprengwirkung. Die KAB (Корректируемая Авиационная Бомба) ist mit einem Korrekturmodul versehen, das mittels einer Fernsehkamera oder Laser oder Inertial-Navigation die präzise Steuerung der Bombe erlaubt. Mit einem Sprengstoffgewicht von je nach Typ 436 bis 870 Kilogramm sind sie erheblich wirksamer als Artilleriegranaten und selbst als die konventionellen Gefechtsköpfe von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Vgl. hierzu Андрей Союстов: Бомбы с модулем планирования и коррекции ровняют противника с землёй; От российских ФАБ с УМПК не спасают ни бункеры, ни бомбоубежища, bei Звезда, 04.03.2024, online in russischer Sprache.
(4) Das zeigt eine Auswertung der Einsätze von FAB-Bomben von 24.03.2023 bis zum 23.03.2024 durch den Verfasser. Vgl. Frederik Pleitgen, Tim Lister: Russia’s new guided bomb inflicts devastation and heavy casualties on the Ukrainian front lines, bei CNN, 10.03.2024, und WION: Russia-Ukraine War: Russia started deploying FAB-1500 bombs on Ukrainian forces, Gravitas Highlights auf YouTube, 12.03.2024. Vgl auch «Изменила баланс сил на фронте»: Американский телеканал сообщает о применении ВКС России «мощной» авиабомбы ФАБ-1500, bei Военное обозрение, 10.03.2024.
(5) Siehe „Russia develops guidance modules for air-dropped munitions, Ukraine Field Dispatch, December 2023, bei Conflict Armament Research, Dezember 2023, mit Informationen, die nur aus nachrichtendienstlichen Quellen stammen können. Vgl. „ВКС России впервые применили на Украине полуторатонную бомбу ФАБ-1500 М54; Российская боевая авиация впервые нанесла удар по позициям ВСУ мощной авиабомбой ФАБ-1500 М54 с модулем планирования и коррекции“, bei Overclockers, 06.09.2023, und Антон Валагин: Появились первые кадры бомб ФАБ-500 М-54 с модулем планирования, bei Русское Оруже, 15.11.2023.
(6 ) Nach Auswertungen des Verfassers wurden am 16.05.2023 eine Patriot in Kiew beschädigt und am 07.06.2023 eine IRIS zerstört (Ort unbekannt). Am 11.08.2023 erfolgte ein Angriff auf eine Patriot in Kiew, dessen Ergebnis unbekannt ist. Am 06.01.2024 wurde in Dimitrenke bei Kherson, 30 Kilometer von der Front entfernt, eine IRIS zerstört. Gleichentags behaupteten russische Blogger, seit 01.01.2024 seien vier ukrainische Flugabwehrraketensysteme zerstört worden. Am 27.02.2024 wurde ein Radarsystem der NASAMS AN/MPQ-64 (Sentinel-Radar) im Waldgürtel zwischen Stupochki und Belaya Gora (Region Bakhmut), zehn Kilometer von der Front entfernt, zerstört. Am 05.03.2024 wurde in Odessa, 70 Kilometer von Front, eine NASAMS zerstört, am 09.03.2024 eine Patriot in Sergejewka, westlich von Pokrowsk, 18 Kilometer von der Front. Eine weitere ging am 13.03.2024 in Udachnoe westlich Pokrovsk verloren. Eine weitere NASAMS wurde am 23.03.2024 in Privilne/Zaporozhie, 50 Kilometer von der Front, zerstört.
Über den Autor:
Ralph Bosshard, Oberstleutnant iG., war Berufsoffizier der Schweizer Armee, unter anderem Ausbilder an der Generalstabsschule und Chef der Operationsplanung im Führungsstab der Armee. Nach der Ausbildung an der Generalstabs-Akademie der russischen Armee in Moskau diente er als militärischer Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz bei der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), als Senior Planning Officer in der Special Monitoring Mission to Ukraine und als Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe der OSZE. Zivilberuflich ist Ralph Bosshard Historiker (Magister, Universität Zürich).
Der Beitrag erschien erstmals am 29.03.2024 auf „Global Bridge“ unter „Das Rennen nach der letzten Bombe in der Ukraine“ sowie auf der Seite BKOStrat.
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